Angst vor der mystischen Macht der Kultur

12. Juni 2013. Für die Frankfurter Rundschau (12.6.2013) führten Bettina Hoppe und Christian Franke vom Schauspiel Frankfurt ein Gespräch mit dem Intendanten des Nationaltheaters in Ungarn Robert Alföldi, der demnächst von Attila Vidnyánszky abgelöst werden wird.

Alföldi sagt zum bevorstehenden Wechsel: "Den Menschen wird die Möglichkeit des Denkens verwehrt." Das Nationaltheater sei in den letzten fünf Jahren ein "sehr wichtiger Ort geworden", weil dort "nicht gelogen" werde. Und jetzt werde "uns" dieser "Raum einfach genommen".

Er selber, so Alföldi, habe die Erfahrung gemacht "ganz viele Angebote" zu bekommen, innerhalb und außerhalb Ungarns. Plötzlich sei er ein "europaweit bekannter verfolgter Regisseur" geworden und aus diesem Grund überall eingeladen. Er frage bei jedem Angebot, ob sie überhaupt Inszenierungen von ihm gesehen hätten.

Selbstzensur

Ausgezeichnete Kollegen wie Viktor Bodó oder Árpád Schilling, die nur mehr im Ausland arbeiteten, würden in Ungarn gar nicht mehr wahrgenommen. Die ungarische Regierung habe in der Verfassung die Ungarische Akademie der Künste als höchstes Gremium der ungarischen Kulturpolitik verankert. Deren Standpunkt sei, dass "mittelmäßige und schlechte Kunstwerke, die das Überleben der Nation sichern, wichtiger sind als gute Kunstwerke". Obendrein gebe es "mehr und mehr Selbstzensur". Die Intendanten wollten Konfrontationen vermeiden. "Insofern muss die Regierung die Kultur nicht zensieren, sie tut es zumeist schon von selbst". Die Leute wüssten noch aus der Zeit vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, "wie sie sich zu verhalten haben".

Die Reaktionen des Auslands

Gesellschaftlich hätten die Reaktionen aus dem Ausland nicht helfen können. "Je harscher die Proteste des Auslands werden, desto sturer werden die politischen Machthaber hier." Als die ersten Proteste aus dem Ausland in Ungarn laut geworden seien, hätten "Kulturvertreter der Regierung" mit Konsequenzen für Alföldi gedroht, die Regierung denke, Alföldi selbst würde diese Proteste inszenieren. Die Regierung glaube, dass "die Kultur eine Form von mystischer Macht" habe. Deshalb wolle Attila Vidnyánszky das Haus zu Beginn seiner Intendanz mit einem sakralen Festakt einweihen.

Vidnyánszky sei im übrigen ein großer Theatermann, der in der Ukraine, woher er stammt, viele Beleidigungen zu ertragen gehabt hätte, aufgrund der Zugehörigkeit zur ungarischen Minderheit. Es schmerze zusehen zu müssen, "wie er sich nun einbildet, es gäbe eine Art Kampf und kriegsähnliche Zustände". Er glaube, dass das Theater "nicht aktuelle und alltägliche Probleme verhandeln soll, sondern dass es Aufgabe des Theaters ist, sakrale Themen anzusprechen. Das größte Problem des Theaters ist seiner Meinung nach, dass es zeitgenössisch ist".

Krise der Freien Szene

Die Budapester alternative Theaterszene habe in den letzten fünf bis zehn Jahren eine "unglaubliche Theaterkultur entwickelt" und das Stadttheater stark beeinflusst. Jetzt würde den freien Gruppen das Geld gestrichen. So verschwinde ein "sehr wichtiger Teil der Kultur". Das beste Beispiel sei Viktor Bodó. "Er hatte hier in Ungarn ein Ensemble und wurde damit vor ungefähr vier Jahren nach Graz eingeladen. Am Anfang hat er zwei, drei Leute seines Ensembles mitgenommen ... mittlerweile ist jedes seiner Stücke immer eine Kooperation zwischen dem jeweiligen Theater und seinem Ensemble. Davon lebt dieses Ensemble."

Freiheit und Denunziation

Imre Kertész habe den Nobelpreis auch deswegen bekommen hat, weil er in Berlin lebe und in Berlin sichtbar gewesen sei. Es gebe heutzutage sechs, sieben Schriftsteller, die "frei sind und denen in Ungarn nichts passieren kann". Ihr internationaler Bekanntheitsgrad sei ihr Schutz. In diesem ideellen Sinn sei das Ausland wichtig, es sichere die persönliche Freiheit. In diesem Sinne helfe es, aber zugleich schade es auch, weil die ungarische Regierung die Berichterstattung über einen ungarischen Künstler im Ausland nutze, indem sie behaupte, derjenige sei ein Verräter der nationalen Idee.
Auch die guten konservativen Künstler hätten keine Möglichkeiten der Entfaltung mehr. Die frei denkenden Künstler befinden sich unabhängig von ihrer politischen Zugehörigkeit im gleichen Zustand. "Selbstständig denkende Menschen werden überhaupt nicht toleriert."

(jnm)

 

Kommentar schreiben