Der Walkampf

von Falk Schreiber

Hamburg, 6. September 2013. "Was siehst du?" Ich denke, eine Böe kommt auf." Nackt ist Matthias Kochs Bühne im Hamburger Thalia Theater, nackt bis auf ein paar Windmaschinen und unzählige Wasserkanister. Nichts zu sehen. Und wo es nichts zu sehen gibt, da plaudert man eben darüber, was man nicht sieht: Eine Böe kommt auf. Willkommen auf der Pequod, dem Walfangschiff, mit dem Kapitän Ahab Jagd nach dem legendären weißen Wal "Moby Dick" macht.

Indifferente Masse Mensch

Das Thalia wird immer mehr zum Spezialtheater für Sinnsuche: Verhedderte sich Luk Perceval zum Ende der vergangenen Spielzeit mit Dostojewskis Die Brüder Karamasow kunstvoll in den Fallstricken der Religion, so übernimmt Antú Romero Nunes den Saisonauftakt mit Herman Melvilles 1851 erschienenem Jahrhundertroman "Moby Dick". Ein weißer Wal wird da gejagt, der Inbegriff des absoluten Nichts, vor dem sich Mirco Kreibich schon ganz zu Anfang graut: Das fahle Weiß des Tieres erinnert ihn an ein weißes Leichentuch. Ein Grauen, das das Menschlein nur dadurch zu besiegen glaubt, indem er die Quelle des Grauens vernichtet, allein, es hilft nichts: Am Ende wird der Wal die Pequod in die Tiefe reißen, und zwar (anders als bei Melville) mit Maus und Mann.

mobydick2 560 arminsmailovic h© Armin Smailovic

Nunes leistet sich einen extrem langsamen Einstieg: Die Mannschaft betritt das Schiff, die Weltumseglung beginnt, aber über eine halbe Stunde passiert erstmal – nichts. Auch nehmen die Darsteller keine Rollen an, man hat es mit einer indifferenten Masse Mensch zu tun, die einer ebenso indifferenten Natur gegenübersteht, einer Natur, in der sich irgendwo Bedrohung wie Befriedigung in Walform versteckt. Gesprochen wird mal chorisch, mal entindividualisiert, Aktion findet kaum statt, dafür bekommt jeder Schauspieler Gelegenheit zu mindestens einem ausgedehnten Solo: Jörg Pohl enervierend besserwisserisch, Daniel Lommatzsch mit heiserer Coolness, Rafael Stachowiak still verzweifelt etc.

Literweise Blut, Schweiß und Walfett

Dieser Einstieg ist eine grundsympathische Verweigerung von Rollenhierarchien, er ist aber eigentlich nicht das, wofür Nunes steht: Der 29-Jährige hat sich einen Namen mit seinem Gespür für Rhythmus gemacht, damit, dass er große Szenen leichthändig bauen kann, auch damit, das Pathos schwerer Stoffe mit geschickten ironischen Brüchen zu unterlaufen. Lange Zeit aber sieht man davon nichts, man sieht ein perfekt harmonierendes Ensemble, wie es sich in Minimalismus übt, und für Minimalismus steht Nunes nun mal gar nicht.

Aber "Moby Dick" ist mehr als ein zielloses Stochern im metaphysischen Dunkel, es ist auch: eine Abenteuerstory. Und als die an Fahrt aufnimmt, kann Nunes seine Stärken ausspielen. Die Bühne wird unter Wasser gesetzt, und dann geht es ziemlich heftig zur Sache, will sagen: Es wird harpuniert, verzweifelt sich wehrende Tiere werden eingeholt, abgestochen und fachgerecht zerteilt, am Ende wird um die Beute gestritten. Und wenn man sieht, wie das weitgehend pantomimisch erledigt wird, kann man nicht anders: Man zieht den Hut vor diesen Schauspielern, die durch die Bank den Eindruck erwecken, dass da Blut und Schweiß und Walfett ins Parkett fließen, literweise.

mobydick 560 arminsmailovic h© Armin Smailovic

Spätestens ab dem dritten Wal entwickelt sich das zur ziemlich stupiden, mühseligen, vor allem sehr blutigen Schlachterei, und angesichts der vielen nackten, nassen Männerkörper, angesichts der Mengen an Testosteron, die hier im Spiel sind, muss man auch die Regie wieder loben: Wie sie es schafft, diese Bilder nicht zu martialischen Männlichkeitsinszenierungen gerinnen zu lassen, das hat große Klasse. Gerade in den Actionszenen funktioniert Nunes' "Moby Dick".

Verrätselt apokalyptisches Finale

Allerdings funktioniert das so gut, dass ein wenig in Vergessenheit gerät, weswegen die Action eigentlich der fruchtloseste Aspekt von Melvilles Roman ist. Die Sinnsuche im Nichts des Ozeans rutscht in den Hintergrund, gerade weil der Regisseur immer wieder virtuos Spannung aufbaut, nur um aus seiner Spannungsästhetik gleich darauf ironisch zu flüchten, mit ein wenig Salbadere übers Seerecht oder über die kulinarischen Vorzüge von Walfleisch.

Zum Schluss fährt die Inszenierung dann noch einmal alles auf: 44 Seemänner bevölkern die Bühne, es wird russisch gesprochen, arabisch, es wird Musik gemacht. Ein hübsches Bild, ein friedliches Bild. Das sich schließlich in einem verrätselt-apokalyptischen Finale auflöst – die Hölle bricht los, die Soundanlage des Thalia gibt, was sie hat, und Gefangene werden nicht gemacht. Am Ende: glatte See, nichts zu sehen. Eine große Inszenierung, bei der man sich nicht sicher ist, ob sie ihr Thema womöglich auf atemberaubende Weise haarscharf verfehlt hat.

 

Moby Dick
nach Herman Melville
Regie: Antú Romero Nunes, Musik und Sound-Design: Johannes Hofmann, Rewert Lindeburg, Ausstattung: Matthias Koch, Dramaturgie: Sandra Küpper.
Mit: Julian Greis, Mirco Kreibich, Daniel Lommatzsch, Thomas Niehaus, Jörg Pohl, Rafael Stachowiak, André Szymanski, Sebastian Zimmler.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause.

www.thalia-theater.de

 

 

Kritikenrundschau

Manchmal an diesem Abend sei man geneigt, die "Künstlichkeit für Sekunden zu vergessen – so überzeugend stellt das Acht-Männer-Ensemble die Mühen einer langen Seefahrt mit einem Segelschiff" dar, so Matthias Heine in der Welt (9.9.2013) über Nunes' "Moby Dick". Der Regisseur habe ein Händchen "für Massenszenen und Choraufmärsche". Die Schauspieler nähmen einen mit "auf die schäumenden Wogen ihres Fantasiemeeres". Die Fantasie, mit der Nunes die "Choreografien ersonnen hat und die Kraft, mit der das Ensemble sich in seine Matrosenarbeit stürzt, schaffen zusammen etwas, das zum Staunenswertesten gehört, das man seit Langem auf einer deutschen Bühne gesehen hat". Nur dass er Qeequeg "nahezu verschwinden ließ", könne man ihm schwerlich verzeihen.

Nach "rund 30 Minuten philosophierens über die Gottlosigkeit oder die Farbe weiß, verlieren die acht Schauspieler (...) ihre Ruhe und schmeißen sich so heftig in ihre Rollen als Walfänger wie nur Männer es können", schreibt Armgard Seegers im Hamburger Abendblatt (9.9.2013). Man fühle sich als Zuschauer regelrecht "in einen Action-Film versetzt". Die Schauspieler, ein "wunderbar miteinander agierende Ensemble", "geben alles und harmonieren miteinander, als wären sie eine Person".

"Zu gucken und zu staunen" gibt es bei Nunes auch für Anke Dürrs (Spiegel online, 9.9.2013) Geschmack genug. "Man sieht Männerfreundschaft, Jungs beim Räuber-und-Gendarm-Spielen, deren kindliche Phantasie beim pantomimischen Tun einen beglücken würde, wenn es wirklich Jungs wären und keine erwachsenen Schauspieler. (...) Was man nicht sieht, ist die Hybris der Männer, ihre Angst", die Raserei Ahabs, die Bedrohlichkeit des Wals. Das alles komme bei Nunes nur verbal vor, er habe "die philosophische Ebene des Romans ausgeklammert" und an den Inszenierungsanfang gestellt, "weitgehend ohne Verbindung zum nachfolgenden Action-Theater". "Die Individuen des Romans aufzulösen und zu einer weitgehend ununterscheidbaren Masse zu machen", sei eine "unglückliche Entscheidung und alles insgesamt "nicht sehr tiefgründig".

Kommentare  
Moby Dick, HH: eine wichtige Figur fehlt
... Aber ich bin mir sicher: Eine optisch großartige Inszenierung,
die aber das eigentliche Thema der Geschichte tatsächlich grandios
verfehlt- der Kampf eines hasserfüllten einsamen Mannes
gegen den übermächtigen Gegner Moby Dick spielt an diesem Abend nur ganz am
Ende eine Rolle.
Das ist schade, denn dem Zuschauer fehlt auf diese Weise die mächtigste
Identifikationsfigur des Romans - Kapitän Ahab!
Einer der interessantesten Figuren großer Literatur fehlt - das ist mehr als schade und war für mich ziemlich unverständlich, auch wenn ich das Talent des Regisseurs für große Bilder durchaus zu würdigen weiß.
Moby Dick, Hamburg: Ahabs Motive
@Elke Schneefuß: Ahab fehlte nicht: Seine Figur löste sich auf, in der Masse Mensch der Walfänger, aber seine Motivation, der Hass und die Einsamkeit tauchten durchaus noch auf. Man kann darüber streiten, ob das eine kluge Entscheidung war, ich denke: kann man machen.
Moby Dick, Hamburg: was haben wir gesehen?
Es war nicht "haarscharf verfehlt", es war völlig daneben. Allerdings nicht für die Mehrheit des Publikums, das sich an guten Leistungen der Schauspieler (erwartungsgemäß) erfreute, jede Planscherei
und jeden Gag bejubelte und insgesamt zufrieden war. Nur, was haben sie eigentlich gesehen? Keinesfalls Moby Dick! Was man gesehen hat, war eine Art Illustration zu dem Stück, oder das, was häufig als Videoprojektion im Hintergrund flimmert, oder im Film als Soundtrack läuft und die Handlung unterstützt. Aber welche Handlung haben wir gesehen? Dabei ist der wichtige Kern doch einfach, Frau Schneefuß hat ihn doch schon knapp beschrieben. Falk Schreibers Replik greift gar nicht, denn Ahab kann sich nicht im Kollektiv auflösen, er ist das personifizierte Gegenteil! Der Wal taucht nur als Schemen auf und ist doch ganz real, so wie der Todeskampf Ahabs. Aber das alles stört wohl nur Personen, die das Buch gelesen haben und schätzen.
Moby Dick, Hamburg: verschluckte Zivilisationskritik
Zur Inszenierung gibt es auch laufendes Bildmaterial von der Probenarbeit (NDR 3, Hamburg Journal, 6.9.2013 , 19:30 Uhr) samt Statements von Antu Romero Nunes.

Zur Inszenierung nur kurz (ich versuche, mich dazu später anhand der Kritiken etcpp. noch etwas ausführlicher zu äußern):

Ein durchaus anstrengender Abend, der aber ganz bewußt die Eigenheiten des Theaters ausspielt "gegen" das, was in vielen Köpfen übermächtig sein dürfte, nämlich die Erfahrung mit dem "Moby Dick"-Filmstreifen von John Huston mit Gregory Peck als
Ahab, und der sich implizit ganz bewußt mit dem "unsicheren" Status der Erzählerfigur Ishmael auseinandersetzt (siehe dazu auch das Programmheft).
Ich teile nicht so sehr die "Jona-Masse"-Interpretation, die aus dem Roman destilliert wird, aber man kann diese in der Tat, wie Falk Schreiber schreibt, machen, erst recht mit Hinblick auf den bekannten "Leviathan"-Stich, der zum gleichnamigen Buch von Thomas Hobbes geläufig ist. Natürlich kann ich Stimmen gut verstehen, die eben gegen diesen entindividualisierenden Zug der "Jona-Masse"-Inszenierung aufbegehren, erst recht, wenn man möglicherweise bedenkt, daß die "Moby Dick"-Personage für Gudrun Ensslin noch als Charakterisierungsfolie der individualisierenden Selbstbetrachtung der RAF beispielsweise diente.
Allerdings ist es meineserachtens auch kein geringes Verdienst der Inszenierung,
jene für viele ZuschauerInnen (offenbar) unbekannten Texte aus "Moby Dick" zur Geltung kommen zu lassen (und fast will es mir so erscheinen, daß gerade die Leserin, der Leser des Romans mehr von der Inszenierung hat und eher Verständnis für diese haben dürfte). Mir kommt in den bisherigen "Kritiken" zu kurz, daß vieles, was hier wie Salbadere oder Besserwisserei in Monologen daherkommt, tatsächlich kein Google-Improvisations-Gespinst der Nunes-Truppe ist, sondern im Roman vorfindlich , ob nun eben der lange Monolog, den Herr Schreiber besserwisserisch nennt und der furios ist (!) -wie zB. andere Monologe bei Nunes zuvor (siehe "Die Räuber" am MGT !); das mit dem "Minimalismus" bei Herrn Schreiber stimmt daher auch nicht ganz, denn das gilt wohl eher für die Thalia-Sachen (zB. den "Merlin")-, Mrs. Charitys Ingwerepisode oder die Begegnung mit der bremischen "Jungfrau". Die Nunes-Inszenierung verschluckt für meine Begriffe
allerdings so ziemlich den grund-konstruktiven und massiv zivilisationskritischen
Zug des Romanes, in dem Melville letztlich für die Eigenerfahrung plädiert und eine Verfeinerung der Sinne, für welche er tausendfach Assoziationsbelege liefert, immer wieder "Analogien", die zu denken geben: auch in Richtung "Die Zerstörung der Tragödie durch die großen (christlichen !?) Massenbewegungen" (siehe dazu Walter Kaufmann "Der Glaube eines Ketzers", das Kapitel "Freud und die tragischen Tugenden", in dem direkt Bezug genommen wird auf "Moby Dick"), gewissermaßen propagiert. Was in der Inszenierung etwas "zusammenhanglos" zur Action daherkommt, stellt im Roman sehr wohl eine Plausibilisierungs- und Motivationsgrundlage für einen regelrechten Tragödienstatus bzw. die fortlaufende Handlung dar. Eigenerfahrung und Google-Enzyklopädie-"Wissen" aufeinander zu beziehen anhand des "Moby Dick" wäre unter zahlreichen anderen (auch politischen)
Inszenierungsansätzen denkbar, und so werden wir hier nicht den letzten "Moby Dick" auf deutschen Bühnen gesehen haben, obschon das eben kein regelrechtes "Stück" ist wie oben geschrieben steht ; in Lübeck wird es demnächst zB. auch einen geben.
Moby Dick, Hamburg: Sympathie für Abschweifungen
EIN BEIFANG:

Unter den gegebenen Umständen halte ich die Angabe "... nach Herman Melville"
für unzureichend. Die Thalia-Inszenierung und das Programmheft bezieht sich auf die Übertragung von Matthias Jendis ins Deutsche, währenddessen ich beispielsweise zum Zwecke der Vorbereitung die Übertragung durch Friedhelm Rathjen zu Rate zog und weiterhin ziehe. Um mich ein wenig in Analogie zu üben und mich dabei weiterhin auf den Roman zu beziehen, mögen sich diese Übersetzungen in etwa so zueinander verhalten wie bei Melville der Glattwalkopf zum Pottwalkopf;
sie, die Übersetzngen, waren aber nicht zuletzt auch Gegenstand eines regelrechten "Übersetzerstreites"
(siehe dazu dradio de. vom 8.12.2004) und stellten für mich (auf meiner "Jagd")
einen nicht zu unterschätzenden Beifang dar. Ich erinnerte mich dabei schlagartig an eines meiner prägendsten Schulerlebnisse. Unsere Lateinlehrerin machte sich -Internet war fern- mühevoll daran, zu einem Martial-Zweizeiler alle möglichen Übersetzungsangebote zusammenzutragen, die, oft samt Begründung, von den gelehrten Latein-Übersetzern so gemacht wurden, und kam schon für diesen Zweizeiler auf eine stattliche Anzahl von um die 50, wo um kleinste Nuancen gekämpft wurde. Da hüte sich ein jeder ein wenig davor, alles gleich so anzunehmen, was, wie unverrückbar, in Schwarz auf Weiß geschrieben steht. Auf diese, wie ich finde spannende, Vergleichsmöglichkeit zweier jüngerer Moby-Dick-Übertragungen wollte ich hier gerne hingewiesen haben. Sprach ich in §4 von Plausibilisierung und Motivierung durch die zahlreichen Abschweifungen Melvilles, so möchte ich nicht verhehlen, daß Rathjen hier dennoch durchaus auch von einem Chaos spricht, aber meine Sympathie für die "kleinen Abschweifartikel" speist sich möglicherweise auch ein wenig aus meiner eigenen Vorliebe für derlei Abschweifungen - mein Hinweis, hoffe ich, hält das an dieser Stelle in Grenzen, obschon soetwas wie die Inkonsistenz der Redestile bei Ahab, für die Rathjen im Nachwort seiner Übersetzung Beispiele anführt, durchaus im Hinterkopf desjenigen bleiben mögen, der später möglicherweise ein wenig gegen den fehlenden Ahab der Inszenierung argumentieren will, so als kämen ulkigerweise Argumente für den amalganisierten Inszenierungs-Ahab gerade aus derjenigen Übersetzung, die nicht benutzt wurde etcpp. ..
Moby Dick, Hamburg: bedrohliches Szenario
DAS ENDE:

"Ein hübsches Bild, ein friedliches Bild ...", schreibt der Nachtkritiker. Das habe ich am Premierenabend (und aus Reihe 20) ganz anders empfunden. Ich sah ein Bild voller Ambivalenz und Spannung, so als käme ich in einem mir fremden Land auf einen Marktplatz, um unversehens auf eine Menschenansammlung zu treffen, bei der vollkommen unklar auszumachen ist, ob da nun etwas gefeiert wird oder politisch demonstriert oder gar im feierlichen Rausch politisch agitiert. Tatsächlich ist mir anläßlich eines Jahreswechsels in den frühen 90ern in Bratislava auf dem Platz des Nationalaufstandes dergleichen einmal passiert. Der Präsident hielt, ähnlich wie hierzulande üblich, eine Neujahrsansprache, währenddessen aus einer Gruppe von 15-20 Leuten immer mehr Unmut (offenbar) aufwallte, Einzelne zu rufen, zu brüllen begannen. Dann gab es Gegenstimmen und es schaukelte sich hoch, Glas klirrte, Böller wurden in die Menge geworfen, man ging aufeinander los, und die Masse preschte fluchtartig auseinander: ein gefährlicher Moment, bei dem ich ziemliches Glück hatte. Schon der russische "Agitator" vor einer überwiegend "friedlichen" Menge der multinationalen Mannschaft in der Inszenierung ließ in mir derlei Erinnerungen aufkommen, und ich finde und empfinde in bzw. gegenüber Massenaufläufen stets latent Bedrohung. Auch soetwas wie die Erfahrung mit der "Loveparade" schwingt da mit,
und auch hier wurde der Begriff "tragisch" gebraucht, und auch hier wurde dieser Begriff -meineserachtens zurecht- befragt. Schaut man auf das Meer, so mögen uns die "Gegen-Wale der Moderne", namentlich Kreuzfahrtschiffe, gegen welche die Titanic als Zwerg sich ausnimmt, all die MSC- und Costamochadicks einen ganz ähnlichen Eindruck machen von "Friede, wo kein Friede ist". Aber, trotz Giglio und trotz Duisburg, Mc Fit boomt und Costa legt regelmäßig weiterhin dort ab, wo einst noch kleine Langelandfähren auf "Butterfahrt" gingen von Kiel aus. Das wurde wirklich mit einer beeindruckenden Wucht inszeniert. Eigentlich reichten ein wenig Musikansatz, Biergartengegrummel und diese russischen bzw. "arabischen" Agitatorenstimmen, und schon stand das bedrohliche Szenarium. Als dann das Ende kam, und die Masse gen Publikum stieß und dann noch einmal gen Bühnenhinterwand, war das wirklich enorm explosiv. Eigentlich stürmte diese Masse, so meine Interpretation, hier ganz gemäß der Passage über die zwei Rücken des Wales (durch die völlig seperat voneinander gelegenen kleinen Walaugen); überhaupt spielte sich das Theater dort ab wie aus dem Inneren eines Wales.
War das Publikum hier Festfisch oder Losfisch, Jäger oder mögliche Beute ??
Jedenfalls spielte sich die Mannschaft der Pequod ungefähr so gen Publikum wie der Wal gen Oberfläche aufzutauchen pflegt: auch "Moby Dick" selbst also gehörte in das "Pequod"-Amalgan der Inszenierung. Am Ende nimmt die Inszenierung noch einmal den Faden "Der Einzelne und die Masse, und warum gibt es keine Tragödie der Massen ?" auf, der zuvor verschiedene Kontrastierungsstufen durchlaufen hatte:
1. Die Einzelnen aus der Gruppe (ganz zu Beginn).
2. Der Einzelne (der Romancier) und die Mannschaft der alltäglichen Verrichtungen
(erst gegenüber dieser "besserwisserischen Figur" nahm die Mannschaft für
mich ein gewisses Gewicht an).
3. Der Einzelne als Überbordgegangener und die darüberhinwegrollenden
Routinetätigkeiten der "Masse".
4. Der Einzelne, der aus einer (friedlichen) Menge eine (kritische) Masse nahezu
formt (das besagte Ende).

Ganz so unmotiviert kommt mir das Ende insofern nicht vor, zumal es en passant noch mindestens zwei weitere Funktionen erfüllt:

Es läßt die 44 Laienspieler das machen, was der Roman insgesamt stark macht:
Erfahre es selbst ! 44 Laienspieler erfahren an dieser Stelle selbst, in diesem Fall den "Theaterwalfang".
Und es läßt noch einmal die Wucht von 44 Mann eindrücklich erfahren, einer offenbar vielsprachigen, multinationalen Besatzung !
Moby Dick, Hamburg: nicht vollends überzeugt
(Fortsetzung)

Wenn Herr Heine (etwas sehr überschwenglich für meine Begriffe) diese Massen-
choreographie so ausdrücklich lobt und bedacht wird, wie gut Nunes es (siehe "Räuber") versteht, Schauspielern einen Raum für atemberaubende Soli einzurichten, dann können wir, denke ich, in etwa erahnen, wo Nunes ganz offensichtlich seine Stärken hat, und was es für den Stoff für Konsequenzen hat, wenn er sie ausspielt.
Die Interpretation/Behandlung des Stoffes scheint mir da ein wenig zu sehr von diesen Stärken her gen existentialistisches "Entweder/Oder"-Drama gedrängt worden zu sein, und aus diesem Grunde bin ich auch nicht vollends überzeugt von diesem "Moby Dick", dessen Besatzung kaum zu subsummieren ist unter "Etwas Besseres als den Tod finden wir überall" (um bei Bremen zu bleiben), aber diskutabel ist er und seine inszenatorische Form gewiß mehr als es hier bislang geschieht. Es wäre für mich schon interessant, zB. wie sich Herr Schreiber auf diesen Abend vorbereitet hat, wie Frau Schneefuß oder Kraftus etcpp., oder ob jemand verstehen konnte, was die "Agitatoren" des Endes sagten, und was heißt es genau "Eine Figur fehlt (auf der Bühne", wenn der/die Fragende sie möglicherweise selbst mit in den von allen geteilten Bühnenraum trägt ??? Nicht einmal Cptn. Bildad fehlte, der eigentlich (in Nantucket verbleibend) garnicht mehr hätte mit von der Partie hätte sein dürfen, was an der Mrs. Charity-Szene zu illustrieren wäre, wo der Koch "Blasskopp" wiederholt
"Ihre Frau ...(hat mir den Ingwertrank gegeben)" antwortet.
Die Auflösung sämtlicher Figuren verhindert keineswegs die Zurechenbarkeit für diejenigen, welche dann tatsächlich den Roman gelesen haben, aber letztlich gehen sie unter : mit Mann und Maus. Tatsächlich haben wir auf der Bühne keinen Erzähler
und "Stellvertreter des Wales" (siehe Programmheft), die Kunst verbietet sich hier den Irrealismus des Romanciers an Bord, der gewissermaßen gleichsam seinen offiziellen Tod überlebt und, wie es von "Moby Dick" nur behauptet wird ,an zwei Orten zur gleichen Zeit zu sein versteht (siehe wiederum Programmheft: vieles dürfte Ismael garnicht mitbekommen, was er schildert zB. von der Frühstücksszene) , nötig, und so "verschwindet" halt auch Ismael (wenngleich er das längste Solo speist)
in jener , von mir in Anlehnung an Pater Mapple Jona-Masse genannten Schauspieler-Riege, eine Radikalisierung, die dem Schauspiel möglich ist.
Wie gesagt, wenn auch Wale dort zerlegt werden, so sehe ich die Bühne durchaus als "Bauch" des Wales irgendwie (siehe die Massenbewegungen am Ende !), ob nun Wal-Kannibalismus da mitschwingt oder nicht. Wie heißt es in der Sentenzensammlung zum Wal ganz allgemein im zweiten Kapitel:

"Es kamen verschiedene Zeitungen, und wir sahen in den Berliner Theaternachrichten, daß man Walfische auf die dortige Bühne gebracht."

(Eckermanns Gespräche mit Goethe)

Mal sehen, ob mit weiteren Zeitungen noch besprechbare Äußerungen zum Hamburger Wal eingehen..
Moby Dick, Hamburg: wenig überregionale Reaktion
Es sind für meine Begriffe überraschend wenige überregionale Pressestimmen zu einem THALIA-Auftakt ! Kein Deutschlandradio, kein Deutschlandfunk (wie in Braunschweig !), keine Süddeutsche Zeitung (Herr Briegleb berichtete von der Lübecker Willi-Brandt-Revue !), keine FAZ, keine taz etcpp. .
In der KN eine Hymne geradezu, in der LN eine Betrachtung, die den Abend eher zwiespältig sieht (dazu vielleicht später, so richtig Bewegung ist ja nicht in diesem Thread).
Wenig überregionale Reaktion (für einen zweiten Platz in der nk-Liste allemal), sieht das noch jemand so, oder habe ich falsch gesucht ??
Moby Dick, Hamburg: Steinbrücks Slogan
Heute ist zum "Moby Dick" des Thalia-Theaters noch eine weitere Kritik hinzugekommen,
die Matthias Schumann für die Netzseite "Hamburger Feuilleton" verfaßt hat mit dem
durchaus wohl anspielungshaften Titel "Das WIR entscheidet". Irgendwie war das ja auch der Steinbrück-SPD-Slogan (man möchte schon fast sagen "seinerzeit"), und tatsächlich war Steinbrück dann just am Sonntag nach der "Moby Dick"-Premiere zu Gast auf der Thalia Bühne (Zeit-Matinee); das Thalia-Theater hatte draußen noch für "Moby Dick" geflaggt. Aus dem "Wo Ahab war, soll Steinbrück sein" ist bekanntlich nicht viel geworden, und der Wal ist unterdes zur weitaus kleineren Bühne des Jungen Studios des Lübecker Theaters unterwegens und hat heute Premiere. Toi toi toi nach Lübeck !
Moby Dick, Hamburg: wäre es wert gewesen
Immer noch vollkommen unverständlich, warum Nunes nicht mit dieser Inszenierung schon sein Debüt beim Theatertreffen hatte. Bin gespannt, was die jetzige Einladung nach Berlin bringen wird.
Moby Dick, Hamburg: ein Auftauchen
Das ist soetwas, was auf nachtkritik de. zuweilen ganz schön ist, wenn, wie jetzt in # 10 geschehen, nach Jahren (und aus der Erinnerung) eine vergangene Inszenierung noch einmal ein wenig Öffentlichkeit für sich gewinnt ! Ob es ein Fehler genannt werden sollte, daß "Moby Dick" seinerzeit nicht zum TT durfte, weiß ich nicht; ich sage das nicht nur irgendwie zum Troste, daß ich persönlich es viel wichtiger finde, was diese Inszenierung Ihnen, werte "10", heute noch zu bedeuten in der Lage ist, ja, daß Sie heute sich nicht nur daran erinnern (können), sondern etwas damit anfangen !! Ich denke irgendwie, daß es letztlich eh mehr als 10 Theaterereignisse in einer Spielzeit gibt, die bei Theatertreffen spannend wären; gewiß, ich hätte "Das halbe Leid" auch noch einmal gerne (in einer Berliner Version ???) erlebt, um ein aktuelles Beispiel zu nennen, aber als "Fehler" möchte ich es andererseits nun auch nicht kennzeichnen, daß SIGNA letztlich an dieser Stelle nicht den "Zuschlag" bekam und "time to prepare new things" bekommen hat
(wie es die SIGNA-Seite nennt). Wer als Kind -wie ich- mit "Moby Dick" als Hörspiel und als Jugendlicher dann mit dem allseits bekannten Film nit Gregory Peck als Ahab aufwuchs, für den ist die Lektüre des Melville-Romanes bereits eine kleine Sensation für sich,
denn Hörspiel und Film nehmen sich dazu tatsächlich allerhöchstens wie Single-Auskopplungen aus, nichts gegen solche !; der oben besagte "Übersetzerstreit" ist dazu noch eine Gelegenheit für sich, sich im kritischen Denken einmal anders als anhand eines Krimis zu üben, auch heute noch ist das wohl so; und jene Nunes-Inszenierung war dahingehend sehr wohltuend, abgesehen von seiner halsbrecherischen Qualität, jener Lektürelinie stärker verpflichtet zu sein als einer rein modischen Übertragung des Stoffes jener Auskopplungen. Wer die Lektüre dem Theaterereignis vorausgehen ließ, der hatte auch von diesem mehr und war gelegentlich eher verblüfft und überrascht durch Zuschauerreaktionen als durch das, was an Bühnenperspektive der Lektüreerfahrung hinzugesellt wurde. Meine Einträge von damals machen es ja auch deutlich, daß auch ich mich seinerzeit für eine TT-Nominierung hätte erwärmen können. Nun, seitdem ist der Spermwal , jüngst zB. in Rendsburg oder Braunschweig (zur Inszenierung von Tim Tonndorf und dem Intendantinnenstart in Braunschweig gibt es ja den TheaterHeute-Bericht von Michael Laages (Märzausgabe, Seiten 44-47) , zur Inszenierung dazu auch noch einen Internettrailer) wiederholt aufgetaucht und so mancher Liter künstlichen Walrats geflossen, und das Theater toppt, sehr wohl zumeist aus ähnlich traurigem/noch traurigeren Anlaß, noch die Klimakatastrophe um Längen, wenn es das Meer nun in Braunschweig und Konstanz "behauptet", obschon die Delphine die Elbe schon wieder verlassen haben. Ahab mag die Züge der Pottwale minutiös berechnet haben, an den gestrandeten erst kürzlich an den Gestaden Dänemarks und Schleswig-Holsteins wäre wohl auch er (noch einmal ganz anders) verzweifelt..
Moby Dick, Hamburg: zwei Nunes-Stücke
Naja, ganz ist der Walrat der Nunes-Inszenierung noch nicht verteilt;
ich war tatsächlich fälschlicherweise davon ausgegangen, "Moby Dick" hätte bereits seine Derniere erfahren. Dem ist nicht so, und so stehen im Mai dann auch die Vorstellungen 49 und 50 von "Moby Dick" im Thalia an. Wer möchte, hat eine gute Gelegenheit, in einer Art "Himmelfahrtskommando" am 10. Mai den "Moby Dick" zu sehen und am Tag darauf die TT-prämierte "Odyssee". Es müssen ja wahrlich nicht immer Premieren sein; solche Gelegenheiten wie zB. jetzt zu den beiden Nunes-Sachen finde ich persönlich häufig reizvoller und kann das auszuprobieren nur empfehlen! "Derniere, vielleicht", so könnte gut und gerne eine Theaterseite heißen, die gerne mal späte Besprechungen "wagt"..
Moby Dick, Thalia Digital: Kämpfe mit dem Wal
Die Derniere ist noch nicht in Sicht. Zum Abschied des Hausregisseurs Antú Romero Nunes zeigte Thalia Digital diese Inszenierung, die auch ins Basler Repertoire der neuen Vierer-Intendanz übernommen werden soll.

Der knapp 2,5stündige Abend lebt von der Energie und Spielfreude seines Ensembles: Nunes und seine diesmal rein männliche Crew choreographierten pralle Action-Szenen voller Humor und Körperlichkeit und schufen ein Theaterfest, wie wir es in kargen, von Abstandsregeln geprägten Corona-Zeiten vermutlich noch eine ganze Zeit lang nicht mehr erleben dürfen. Sebastian Zimmler, Mirco Kreibich, Daniel Lommatzsch, Thomas Niehaus und Jörg Pohl folgen Nunes von der Alster nach Basel, letzterer sogar als Co-Intendant, und werfen sich nicht nur in Wasserschlachten, sondern auch in pantomimische Kämpfe mit dem Wal und gewagte Schiffsmanöver.

„Moby Dick“ überdauerte aber auch deshalb die Jahre, weil Nunes hier zeigt, dass er auch ganz anders kann: nicht nur hochtouriges Theater, manchmal haarscharf am Kindergeburtstag, sondern auch leise, poetische, nachdenkliche Töne. Die erste halbe Stunde besteht nur aus einer Aneinanderreihung kleiner Soli: mal düster-melancholisch, mal exzentrisches Mansplaining. Jörg Pohl nimmt die langen Wikipedia-artigen Exkurse aus dem Roman-Klassiker aufs Korn, in denen sich Herman Melville in langatmigen Ausführungen über alles, was wir noch nie über Walfang wissen wollten, erging. Satirisch arbeiteten sich daran auch Anita Vulesica und ihre HfS Ernst Busch-Studentinnen in ihrer „Moby Dick“-Adaption im 3. Stock der Volksbühne 2019 ab.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/06/26/moby-dick-antu-romero-nunes-thalia-theater-hamburg-kritik/
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