Die Frau vom Meer - Anna Bergmann inszeniert Ibsen im Akademietheater Wien
Born to Die
von Kai Krösche
Wien, 7. September 2013. Wie eine Glasglocke schwebt das Bühnenbild, ein weißer Salon mit Fensterfront und Türen, auf die vorher kahle Bühne des Akademietheaters nieder, verdeckt die unverputzte Betonwand. Wie ein Schleier schweben immer wieder die eingängigen Akkorde von Lana del Reys "Video games" durch den Saal. Und wie Verlorene bewegen sich die Figuren aus Ibsens Stück "Die Frau vom Meer" unter der Regie von Anna Bergmann über die Bühne, als seien sie Schatten ihrer eigenen, unerfüllten Hoffnungen, als hangelten sie sich mithilfe ihrer Träume und Lebenslügen unbeholfen über den Abgrund der Leere ihres eigenen Daseins. Unter den Holzdielen des Salons ist es feucht, warten die Untiefen des Wassers, das die Kulisse, einer unheilvollen Ahnung gleich, zu unterspülen scheint.
Inmitten dieser morschen Welt versucht Doktor Wangel, seine seit Jahren zunehmend in Depressionen versinkende Frau Ellida aufzuheitern. Er lädt den alten Hauslehrer Arnholm ein, wie sich schon bald herausstellt ein früherer, zurückgewiesener Verehrer Ellidas, der die Einladung als Wunsch Wangels, ihn mit seiner älteren Tochter zu vermählen, fehlinterpretiert. Er, der alte, loyale und sie doch niemals verstehende Freund ist es auch, dem Ellida den Grund für ihre Melancholie anvertraut: Vor vielen Jahren, noch vor der Ehe mit Wangel, versprach sie ihr Herz an einen fahrenden Seemann, der zu einem unbestimmten Zeitpunkt wiederkommen und sie holen will. Und dessen Rückkehr, so glaubt, so spürt es Ellida, unmittelbar bevorsteht.
Auf schwankendem Grund
Christiane von Poelnitz ist diese Ellida: Getrieben wie ein eingesperrtes Tier wankt sie über die Bühne, seufzt sie unter der erdrückenden Last der bevorstehenden Heimsuchung. Unter Kraftakten scheint sie immer wieder nach einer Haltung zu suchen, um gleich wieder zusammenzubrechen unter dem Gewicht ihrer Gefühle. Die Freiheit, die sie sich wünscht, ist eine endgültige Freiheit, eine Freiheit von allem und damit auch vom Leben selbst.
Die Männer um sie herum wissen mit ihr nichts anzufangen: Tilo Nest als Arnholm tänzelt und taumelt umher auf der Suche nach immer wieder neuen Posen und Möglichkeiten, das Wesen der ihn umgebenden Frauen zu ergründen, scheitert aber jedes Mal aufs Neue an einer Blindheit, derer er sich selbst bewusst zu sein scheint, ohne sie sich eingestehen zu wollen. Falk Rockstrohs Doktor Wangel versteckt sich hinter dem Schutzmantel des rationalen Pragmatikers, der an die Heilung seiner Frau mit den Mitteln der Vernunft glaubt, schließlich aber an seinem eigenen (Lebens-)Ansatz scheitern muss.
Christoph Luser vermittelt die Tragik des durch eine Lungenkrankheit Todgeweihten, der lebt, spricht, hofft und plant, als gäbe es keinen Grund zur Sorge: Ob das Interesse von Wangels jüngerer Tochter Hilde (Jasna Fritzi Bauer) wirklich – wie sie flapsig behauptet – seiner Krankheit gilt oder vielmehr der utopischen Verweigerung, selbige zu akzeptieren, bleibt bis zum Schluss im Unklaren. Alle umtänzeln sie sich, kreisen um sich selbst, finden keinen Weg zu- und keinen miteinander, bleiben gefangen in ihrem Alleinsein.
Heimsuchung
Der Mann vom Meer, mit dem sich die Protagonistin in Ibsens Stück einst symbolisch vermählte, ist bei Anna Bergmann kein geringerer als der Tod selbst. Seine Heimsuchung ist konsequenterweise auch nicht die eines leibhaftigen Mannes, sondern die zunehmend quälendere und omnipräsente Todessehnsucht einer Frau, der die Fähigkeit, sich von der Leere ihres Daseins durch Oberflächlichkeiten abzulenken, unwiederbringlich verloren gegangen ist: Ellida sieht hinter die Dinge und weil sie hinter die Dinge sieht und sie vielleicht, vielleicht auch nicht, versteht, hat sie die Verbindung zu ihrem Umfeld und damit zur Welt selbst verloren.
Ein pathologischer Fall? Vielleicht aber auch nur eine Frau, die jenen Glauben an den Sinn unseres Daseins verloren hat, auf dem das Funktionieren unserer Gesellschaft fußt. Sie wird zur unfreiwillig Sehenden, und weil sie die einzige ist, die in das tiefe, in seiner Unendlichkeit und Unfassbarkeit dem Meer gleichende Nichts starrt, wird sie auch zur ultimativ Einsamen und Verlorenen. Kein Mann ist es, der sie holen kommt, es ist ihr eigener Abgrund, in dessen Bodenlosigkeit sie schließlich, einmal losgelassen, fallen wird.
Ins offene Meer
Am Ende wird die Frau vom Meer ins Wasser gehen. Keine familiäre Reunion, keine Aussicht auf ein neues, befreites Leben wird sie aus ihrer Einsamkeit retten: Der Tod allein ist der Ausweg, spült sie fort aufs offene Meer, befreit sie von ihrer unerfüllten, weil unerfüllbaren Sehnsucht. Schlussendlich ahnt auch ihr Mann, dass er sie gehen lassen und verlieren muss: Nicht an einen anderen Mann, sondern an das Nichts. Das ist deshalb so maßlos traurig, weil es in seiner unversöhnlichen Ausweg- und Hoffnungslosigkeit ein unausweichliches Gefühl der Folgerichtigkeit vermittelt.
Was Anna Bergmann und ihrem Team gelungen ist, ist große Kunst, nicht, weil dieser Abend Antworten und Lösungen bietet, sondern weil er jene, die Grundfesten erschütternde Ahnung von der Einsamkeit der Menschen und der Vergeblichkeit menschlicher Kommunikation hinter der Oberflächlichkeit des Alltags hervor- und ins Bewusstsein zerrt. Einem den Hals zuschnürt, die Tränen in die Augen treibt und zum Schrei des Widerstands provoziert. Zu einem stummen Schrei, weil man nicht weiß, gegen was man überhaupt anschreien will. Aber man will es, muss es – was bliebe einem auch anderes übrig?
Die Frau vom Meer
von Henrik Ibsen
Regie: Anna Bergmann, Bühne: Ben Baur, Kostüme: Claudia González Espíndola, Video: Sebastian Pircher (Impulskontrolle), Sounddesign: Heiko Schnurpel, Choreographie: Daniela Mühlbauer, Didi Resch, Licht: Felix Dreyer, Dramaturgie: Florian Hirsch.
Mit: Christiane von Poelnitz, Falk Rockstroh, Alexandra Henkel, Jasna Fritzi Bauer, Tilo Nest, Christoph Luser, Franz J. Csencsits, Maxi Gerstbach.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause.
www.burgtheater.at
Bei Anna Bergmann werde die "Frau vom Meer" Ellida "konsequent in den Wahnsinn getrieben", so Martin Lhotzky in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (8.9.2013). Der "Wiedergänger-Widerpart" werde ihr genommen, stattdessen müsse sich Christiane von Poelnitz, "um die bedrohlichen Worte des Fremden zu Gehör zu bringen, sich in einem Anfall von Schizophrenie wälzen, vermutlich ihren Sohn umgebracht haben, den Parkettboden aufbrechen, um am Ende darin von ihrem Ehemann ertränkt zu werden. Sozusagen als Beihilfe zum Selbstmord." Was eine "interessante Auflösung für diese norwegische Absurdität" hätte sein können, werde zuvor durch "Albernheiten" und "schlimmste Einfälle" – z.B. "ein Tauchgang in einem Aquarium und ein malender, tanzlehrender, fotografierender Transvestit" – verdorben.
"Von der Wildnis der offenen See zurück ans abgestandene Brackwasser des Festlandes - das kann Depressionen verursachen" – Dieses Ibsen-Bild greife Bergmann vielfach auf, schreibt Margarete Affenzeller im Standard (9.9.2013). Die Regisseurin ändere "die Erzählweise und den Schluss", streiche den "fremden Mann" und mache mit Ibsens versöhnlichem Finale "kurzen Prozess". Das Konzept wirke trotz Leerstellen "schlüssig", auch wenn es "in Summe nicht ganz überzeugt. "Viele Manöver (Kulissen, Körperkomik, live gesungene Lieder, Videos) sind ein wenig ratlos aneinandergereiht und versuchen den Kern des Stücks aufzupolieren: das Gefangensein der Frau in der Ehe". Bergmanns Unternehmung sei zwar "ein redliches Unterfangen", das "den Plot neu adaptiert, aber auch dann gewisse Ungereimtheit nicht los wird".
Bergmann, so beschreibt es Barbara Petsch von der Presse (9.9.2013), mache "aus der mystischen Vieleck-Geschichte (...) ein Psychodrama auf den Spuren von Hitchcock oder Ingmar Bergman". Der Schwerpunkt der Story werde dadurch "etwas rabiat verschoben von Ibsen, der sich mit Freiheit und freier Wahl befasste, zu einer Psychose mit Todesfolge". Über diesen Ansatz lasse sich zwar streiten, die Inszenierung habe aber "eine hohe Dichte". Auch die Besetzung sei "großartig". Bergmann habe "den Plot auf eine einfache, einleuchtende Story heruntergebrochen, einfallsreich und gut inszeniert. Aber Ibsens Kosmos in seinem vieldeutig schillernden Farbenreichtum erscheint hier wie ein Flaschengeist, eingeschlossen in eine Schnapsflasche."
"Der Text wurde stark gekürzt, die Inszenierung sieht aber radikaler aus, als sie ist", meint Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (17.9.2013). In einem lockeren Setting mit passenden Popsongs erzähle Bergmann "doch nur recht brav das Stück nach, wobei es ihr zwei peinliche Nebenfiguren besonders angetan haben: In den meist sehr komischen Szenen mit Christoph Luser als lungenkrankem Möchtegernkünstler und Tilo Nest als pädophilem Oberlehrer beweist die Regisseurin feines Gespür für Subtext." Gleichwohl verliere sie sich in Details und schaffe im Ganzen einen auf "unkonzentrierte Weise ambitionierten" Abend.
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Ich verstehe dich, Kritiker. Und trotzdem... Ach.
das ist schön, dass Sie mich verstehen. Aber dann sollten Sie vielleicht auch wissen, dass ich den Unterschied zwischen einer Rolle und der Schauspielerin, die sie spielt, kenne und meine Einsamkeit noch nicht so weit geht, dass ich mich nach fiktiven Figuren sehne. Und dass manchmal die banalsten Erkenntnisse, wenn gekonnt zurück in die Erinnerung gerufen, oft die erschütterndsten sein können.
Liebe Gretel, danke fürs In-Schutz-Nehmen, aber mich hat der Vorgängerkommentar mehr erheitert als gekränkt ;-)
das freut mich, dass Sie mein Kommentar erheitert hat, denn so war er auch gemeint. Aber Sehnsucht haben nach fiktiven Figuren ist so schlecht nicht und überhaupt: Wo fängt das eine an, wo hört das andere auf? (Siehe Minichmayr im neuen Pollesch...)
Mit bestem Gruss aus Berlin,