Presseschau vom 2. Oktober 2013 – Sascha Lobo schreibt in der FAZ über Günter Grass' und Botho Strauß "Besserhalbwisserei"
Der Untergang als Ende der Privatsphäre
2. Oktober 2013. Sascha Lobo, Jahrgang 1975, SPON-Kolumnist mit Iro-Frisur, Blogger, Buchautor, Journalist und Werbetexter hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.10.2013) unter dem Titel Vom Genre der Besserhalbwisserei eine lange Auseinandersetzung mit der Internet-Schelte der Herren Günter Grass und Botho Strauß geschrieben. Wir geben einige Schlaglichter aus dem Text.
Unkenntnis der kulturellen Unterschiede
Lobo schreibt, wenn Grass von "Facebook und all dem Scheißdreck" spreche (zum Beispiel hier), gebe er zu erkennen, dass er sich nicht vorstellen könne, dass ein facebook-Nutzer seine facebook-Freunde von wirklichen Freunden unterscheiden könne. Allerdings kenne Grass wohl die "kulturellen Unterschiede nicht, der amerikanische "friend" etwa sei "sehr viel weiter gefasst" als der "Freund" im Deutschen. Diese Unkenntnis bei gleichzeitiger Meinungs- und Urteilsfreude sei das Symptom der Krankheit "unwissende Arroganz". "Eine Krankheit, die ironischerweise nicht nur Grass, sondern oft auch das Netz und speziell die sozialen Medien unerträglich macht." Grass, der schlicht keine Erfahrung mit und Ahnung vom Internet habe, gebe einem "Bauchgefühl" nach. Und sei schlicht nicht bereit, "einen anderen Maßstab zu akzeptieren als seinen eigenen – "ein evidenzaverser Ichling".
Strauß' elitaristische Sicht
Ganz anders Botho Strauß. Dessen Text Der Plurimi-Faktor sei eine "furiose Gegenwartsanalyse". Strauß argumentiere "sachkundig und erfrischend redlich aus der Perspektive des radikal Intellektuellen mit einem klar formulierten Bedürfnis nach einer Elite". Mit "seltenem Mut" leite Strauß "aus intellektueller Überlegenheit offen und öffentlich eine Deutungshoheit ab, Sprachmacht als Begründung eines gesellschaftlichen Machtanspruchs". Diese "elitaristische Sicht" verberge sich in "vielen führenden Köpfen". Man äußere sie nur nicht in der "Öffentlichkeit" mit ihrem "nivellierendem Fetisch der Pseudogerechtigkeit". Natürlich aber gebe es eine Elite, "sie zu leugnen, verleiht ihr nicht weniger, sondern mehr Macht". Nur spreche keiner das verbreitete Gefühl aus, "dem Pöbel dort draußen moralisch und eigentlich auch sonst überlegen zu sein".
Allerdings sei Strauß kein Feind der Demokratie, im Gegenteil bekenne er sich "beinahe begeistert" zur "Staatsform der Volksherrschaft". Bloß wende er sich gegen "die Demokratisierung sämtlicher Lebensbereiche". Wie Grass sehne sich Strauß danach, dass die Gesellschaft sich an einer Elite orientiere. "Nur dass Strauß darin eine Gruppe sieht und Grass eine einzelne Person – sich selbst." Wenn Strauß beklage, dass es keine Avantgarde mehr gebe, kaum noch "neue unzugängliche Gärten" übersehe er, dass es beides sehr wohl gebe, er habe offenbar bloß "keinen eigenen Zugang mehr dazu". Er vermisse die "Begrenzung des Zugänglichen" und meine das Netz. Die Begrenzung aber existiere nach wie vor, in Form der Datenflut in der digitalen Sphäre.
Programmiersprachgewalt
Straußens "unverstandener Außenseiter" sei heute in seiner "digitalen Variante" in der Figur des "Nerd" angelegt. Mit dem Internet habe der Einzelgänger in Nerdgestalt größere Gestaltungmacht als je zuvor. Nur könne Strauß diesen weltprägenden Außenseiter, der mit "Programmiersprachgewalt" "Welt und Erleben einer Generation" bestimme, nicht erkennen, weil er ausschließlich in Bereichen suche, die er selber akzeptiere.
Die Auflösungserscheinungen tradierter Vorstellungen von Privatsphäre, Privatheit und Hochkultur durch die Massentechnologien nehme Strauß als Anlass zur Warnung. Schon 1993 habe er mit dem "Anschwellenden Bocksgesang" solch eine Warnung veröffentlicht, samt Verklärung der Figur des Außenseiters. Doch anders als dieser 20 Jahre alte Essay sei der "Plurimi-Faktor" kein Manifest, sondern ein Dokument der Selbstvergewisserung und damit "Zeichen des Zweifelns und Verzweifelns" an der Welt durch einen Außenseiter der um keinen Preis ein Mitmacher sein wolle.
Halbbildung heute
Merkwürdigerweise fehlten bei all den zahlreichen Verweisen mit Oswald Spengler und Theodor W. Adorno zwei Klassiker der Abgrenzung von "gebildetem Außenseiter zur Masse und Technologie". Spengler sei vielleicht aus dem Blick geraten, weil dessen Feier des Außenseiters als Führer inzwischen "irgendwie aus der Mode" geraten sei.
Jedenfalls jedoch sei der Info-Demente der digitale Widergänger des "Halbgebildeten" von Adorno. Und "tatsächlich" sei "das Netz", schreibt Lobo weiter, "anders als oft erwartet, zu lange auch von mir erhofft, eben kein Bildungsautomat, sondern, ohne ein epistemologisches Fundament des Nutzers, eine Halbwissenmaschine, die das anstrengende Genre der Besserhalbwisserei hat allgegenwärtig werden lassen."
Strauß' Humor und Schrecken
Im übrigen sei der "Plurimi-Faktor" ein Lesegenuss, voll von verborgenem, "aber großartigen Humor". Sicherlich habe Strauß selber schallend gelacht, als er den Begriff "Reaktionär" mit ein paar Handgriffen in sein Gegenteil umgedeutet habe und als er , er in anderen Büchern behaupte: "Aller Schwindel beginnt mit Metaphernschwindel", seinerseits "eine Vielzahl absurder bis ausgelutschter Metaphern" in seinen Text eingebaut habe.
Vor allem aber sei Botho Straußens "Der Plurimi-Faktor" zuallererst ein Appell. Im Straußschen Universum sei das Internet ein "Privatfernsehen auf Speed". Sein "Plurimi-Faktor" wende sich mit dem Aufruf "bildet Avantgarde-Banden" gegen die Populärkultur. Er spreche diejenigen direkt an, die mit "mangelndem Schamgefühl" im Netz "Selbstentblößung" betrieben und damit in den Untergang führten. Unter Untergang verstehe Strauß das höchst naiv herbeigeführte, also nicht vorausgesehene Ende des Privaten im sozial vernetzten 21. Jahrhundert, "ein mutmaßlich unbeabsichtigtes, aber glänzendes Analogon zur Spähaffäre, geschrieben vor Snowden."
(jnm)
Mehr zum Thema: Auf nachtkritik.de kommentierte Dirk Pilz Strauß' "Der Plurimi-Faktor"
Wir halten Sie auf dem Laufenden
Wir sichten täglich, was in Zeitungen, Onlinemedien, Pressemitteilungen und auf Social Media zum Theater erscheint, wählen aus, recherchieren nach und fassen zusammen. Unterstützen Sie unsere Arbeit mit Ihrem finanziellen Beitrag.