Fast normal (Next to Normal) - Die Deutsche Erstaufführung des Broadway-Erfolgsmusicals am Stadttheater Fürth
Dramaturgisch einwandfrei durchgerüttelt
von Dieter Stoll
Fürth, 11. Oktober 2013. Eben noch flippten die Psychopharmaka wie riesige Bonbons triumphierend durch düstere Gedanken einer Suizidgefährdeten, da kippt die depressive Patientin in einem Verzweiflungsakt sämtliche Aufheiterungs-Medikamente in die Toilette. Den besorgten Ehemann, der seine seit 16 Jahren an einer "bipolaren Störung" erkrankte Frau mit schwindenden Kräften zu lenken versucht, fertigt sie scheinbar gutgelaunt ab: "Wir haben die glücklichste Klospülung der Straße".
Leistungsstarkes Werk
Der ruppige Witz passt zum Genre, der Anlass dazu ist ein veritabler Tabu-Bruch. Denn im Show-Schaumschlag, mit dem die Musical-Sparte mittlerweile weltweit eingeseift wird, gab es über die Jahre öfter mal schwarzen Humor, aber noch nie etwas Vergleichbares wie den Todestanz um das Bewusstsein von real existierender Geisteskrankheit. Das Komitee für den Pulitzer-Preis war nach der Broadway-Uraufführung vonNext to Normal davon offenbar so verblüfft, dass es den drei Tony-Awards der Spezialisten aus dem Jahr 2009 tatsächlich 2010 die Auszeichnung fürs beste Drama hinterherreichte. Mit der jedem Pädagogen zur Ehre gereichenden Begründung, dieses "leistungsstarke" Werk habe "die Bandbreite des Anwendungsbereichs Musical erweitert". Kann man so sehen. Bleibt die Frage, was der gesprengte Rahmen dem Theater bringt.
Jenseits der Musical-Betriebsunfälle
Dass es bis zum Import nach Deutschland einige Spielzeiten dauerte (und ohne den persönlichen Einsatz des für Übersetzung und Erstaufführung zuständigen Titus Hoffmann wohl noch mehrere gedauert hätte), ist erklärbar. Anders als in den USA, wo etwa Stephen Sondheim mit seinem literarischen Ehrgeiz als alternative Größe zu Webber & Co. schon lange akzeptiert war, haben sich hierzulande die freien Produzenten aufs spektakuläre Großformat spezialisiert und die Stadttheater mit ihrer Spartentrennung überwiegend künstlerische Betriebsunfälle verursacht. Wo Sänger auf komplexe Dialoge oder Schauspieler auf kehlkopflastige Songs gestoßen wurden, gab es nur in Sonderfällen Erfolgsmeldungen.
Kurzum, der von dieser singenden Krankenakte überzeugte Hoffmann - er war unter anderem Produktionsleiter beim Wiener Musical-Glücksfall "The Producers", das auch im Berliner Admiralspalast Station machte - musste, nachdem er die deutschen Aufführungsrechte gesichert hatte, bei vielen ängstlichen Intendanten Klinken putzen. Der Fürther Theaterchef Werner Müller konnte es wagen, er engagiert für all seine Premieren durchweg gezielt die Darsteller und war mit den sechs mitgebrachten Akteuren aus der einschlägigen Szene optimal bedient.
90 Prozent Musik
Die Fürther Inszenierung auf mehrstöckigem Bühnengerüst mit Video-Illustration, das auch jede "Westside Story" verkraften könnte, ist vor allem auf Tempo bedacht. Gleitende Übergänge für Charakter-Miniaturen, harte Schnitte zwischen den Show-Blöcken. Immer darauf achtend, dass die deutsche Übersetzung der 39 Song-Teilchen geschmeidig abgesetzt bleibt von den wenigen, drastisch einschlagenden Prosa-Brocken: "Ich spüre gar nichts mehr", klagt die Kranke. "Patient stabil", sagt der Arzt.
Nach solch dunklen Momenten ohne Sound-Salbung hilft ein wenig Sentimentalität und der Ruf nach "Licht", der metaphorisch geballt zum Finale kommt – gesungen wie mindestens 90 Prozent der nahezu komplett durchkomponierten Aufführung. Brian Yorkey (Buch und Liedtexte) erzählt also nicht direkt dem Publikum, eher im Umweg dem Komponisten (Tom Kitt blättert ein Sortiment von Möglichkeiten aus Rock-Balladen, Soul-Imitaten wie auch raffinierten Ensemble-Konstruktionen auf und manchmal sülzt er nur herzhaft wie unser Xavier Naidoo) von dieser Standardfamilie Goodman, die vom Schicksal dramaturgisch einwandfrei durchgerüttelt wird. Als wolle er herausfordernd sagen: Was fällt dir dazu ein?
Gedankliche Komplikationen nicht zu befürchten
Die Fürther Musiker um Christoph Wohlleben, hinter der Dekoration souverän im Einsatz, balancieren mit den öfter mal auseinanderstrebenden Elementen von Konzert und Drama. Abstürze sind nicht zu befürchten, alle Beteiligten beherrschen ihr Handwerk.
Die Handlung bleibt sperrig: Mutter Diana (Pia Douwes singt und spielt sie voller melancholischer Rest-Energie) hat ihre Depression, seit Sohn Gabe im Kindbett starb (der junge Dirk Johnston geistert wie leibhaftig weitergewachsen als kletternder Dämon im T-Shirt durch Handlung und Bewusstsein), während die vernachlässigte Tochter (Sabrina Weckerlin) in den Drogenrausch abdriftet, aber zu unser aller Freude Halt findet am bodenständigen Freund Henry (Dominik Hees, ganz Sympathieträger, da er das Leben für eine Katastrophe hält, aber dabei cool bleibt). Vater Dan (Thomas Borchert) sucht Lösungen im "Depressions-Chatroom" und gerät an Ärzte (mal tranig wienerisch, mal als Rockstar-Therapeut: Ramin Dustdar), die auch die Zerstörung von Erinnerung durch Elektro-Schocks als "fast normal" empfehlen.
Bei der Premiere war zu beobachten, wie sich das Publikum, geeicht auf die üblichen Musical-Rituale mit den großzügigen Publikums-Juchzern nach jedem Song-Aufschwung, erst vom Schrecken des höheren Anspruchs der Fabel erholen mussten. Als dann klar wurde, dass das "System Musical" auch auf dieser etwas mehr als sonst gewundenen Abzweigung eigenartig funktioniert, also zumindest in Deutschland schwerlich mit den gedanklichen Komplikationen eines Schauspiels zu verwechseln ist, war der Jubel nicht mehr aufzuhalten. Der gerührte Kritiker der New York Times und die Pulitzerpreis-Jury hätten ihre Freude dran gehabt.
Fast normal – next to normal (DSE)
Musik von Tom Kitt, Buch und Gesangstexte von Brian Yorkey,
deutsche Fassung von Titus Hoffmann
Regie: Titus Hoffmann, Choreografie: Melissa King, Ausstattung: Stephan Prattes.
Mit: Thomas Borchert, Pia Douwes, Ramin Dustdar, Dominik Hees, Dirk Johnston, Sabrina Weckerlin.
Dauer: 2 Stunden 35 Minuten, eine Pause
www.stadttheater.fuerth.de
"Da reißt ein Stück 700 Leute — die handelsüblichen Musical-Claqueure inklusive — aus den Sitzen, weil es an die Lebenswirklichkeit des 21. Jahrhunderts andockt", schreibt Matthias Boll in den Nürnberger Nachrichten (15.10.2013). Das "Husarenstück" von Regisseur und Übersetzer Titus Hoffmann besteht aus Bolls Sicht darin, eine kongeniale deutschsprachige Fassung der verblüffend dichten, Ironie, Tragik und Gefühl "souverän im Gleichgewicht haltendenden Textfaktur" des Originals erarbeitet zu haben, "die diesem 150-Minüter einen von der ersten Sekunde an fesselnd soghaften Drive gibt". Wäre nicht der aus Bolls Sicht "dramaturgisch holprigere zweite Teil mit einem allzu Apotheken-Umschau-mäßig parlierenden Therapeuten (Ramin Dustdar) und ein Schluss, der mit dem Song 'Licht' eine ärgerlich deplatzierte Kirchentags-Atmosphäre schafft", direser Kritiker "könnte Stück und Produktion für rundum großartig halten".
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