Szenisches Fleisch aus der Slapstick-Konserve

von Matthias Weigel

München, 16. November 2013. Es gibt diesen Widerspruch zwischen Theorie und Alltag, mit dem man leben muss. Man weiß, dass Lidl doof ist, aber er ist halt gleich um die Ecke und hat als einziges noch offen. Man weiß, dass Google eine Datenkrake ist, nur spuckt sie bessere Suchergebnisse aus als Ixquick. Man weiß auch, dass Geschlecht eine gesellschaftlich konstruierte Kategorie ist, aber im Schwimmbad gehen wir alle in die "richtige" Umkleide. Man kann es sich in diesem Widerspruch also höchstens bequemer oder weniger bequem einrichten.

Von der Repräsentationpflicht befreit

Davon handeln vielleicht alle Stücke von René Pollesch. Nur dass er den Widerspruch mal bequemer, mal unbequemer anfasst. Und manchmal, wenn es so spaßig wird wie bei "Gasoline Bill" an den Münchner Kammerspielen, dann ist die Frage, wie viel Nebel des Verblendungszusammenhangs da eigentlich selbst verbreitet wird, zu dessen Bekämpfung er ja eigentlich angetreten ist.

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Mit Sandra Hüller und Kristof van Boven haben sich zwei neue Schauspieler erstmals von Messias Pollesch von ihrer Repräsentationserfüllungspflicht befreien lassen. Das illustre Quartett wird von der schmächtigen Katja Bürkle und dem fülligen Benny Claessens vervollständigt, und im Western-Outfit zünden sie sich vor einer hölzernen Saloon-(Doppel-)Haushälfte erstmal die obligatorische Diskurszigarette an: das international anerkannte Regie-Siegel für freiheitlich-tolerante Haltung von nikotinabhängigen Schauspielern.

Wenn die vier dann die Saloon-Hälfte um ihre eigene Achse rotieren lassen, wird damit das Prinzip einer tibetanischen Gebetsmühle demonstriert: Einmal in Bewegung gesetzt, übernimmt sie danach das Beten für uns. Die Saloon-Mühle soll für die Schauspieler das Spielen übernehmen, und uns, so Jaques Lacans These, sollen auf der Bühne die Emotionen abgenommen werden. Damit wir den Kopf frei haben – um zu überlegen, wohin wir unseren Füller verlegt haben, zum Beispiel.

Zum Beispiel Sandra Hüller, die Polleschpraktikantin

Im identitätsverwischten Cowboy-Quartett übernimmt Katja Bürkle mit ihrer strengen, schneidenden Art ganz den hysterischen Pollesch-Ton, die beiden Belgier Claessens und van Boven wischen mit ihrem unverkrampften und latent sorglosen Unterton dafür einiges an Qual und Krampf charmant hinweg. Und dann steht da noch die strahlende Sandra Hüller, die zunächst wie die neue Pollesch-Praktikantin zaghaft einen Schritt Abstand hält, sich aber als bezauberndes Cowboy-Mädel von Gegenüber in den anderthalb Stunden noch zum heimlichen Zentrum des Abends mausern wird.

Die stets kalendertauglichen, post-kapitalistischen Aphorismen des René Pollesch drehen sich diesmal um den Zynismus beim Helfen ("Ich habe mit Greenpeace zwei Delfine gerettet und werde immer trauriger"): wenn wir dabei mit unserer "Mitmenschlichkeit" nichts anderes erwirken als dass danach alles so weitergehen kann wie bisher. Und es geht natürlich auch wieder um Liebe und Partnerschaft; um die zwei Möglichkeiten, den Partner entweder "auf ein Spiegelbild von mir zu reduzieren, dich quasi als Mittel zum Zweck meiner Selbstverwirklichung zu missbrauchen" oder die zwingende Alternative, den anderen trotz aller Nähe als "unermesslichen Abgrund einer radikalen Andersheit" zu sehen, als jemanden, über den man letztendlich nichts weiß.

Das Drama der Spaltung als Lachnummer

All das sind solche Widersprüche, über die wir in unserem pragmatischen Alltag dauernd hinwegleben. Nur sind sie selten so sexy und schillernd verpackt (Standardglitzergardine: Bert Neumann), und nur bei Pollesch kann so schön gemeinsam über das existentielle Dilemma gelacht werden. Im Gegensatz zu Glanz und Elend der Kurtisanen, einem reinen Rumsteh-Rauch-Abend, spendiert der Regisseur diesmal nämlich auch szenisches Fleisch, greift sogar so tief in die Slapstick-Kiste, dass sich Benny Claessens schon mal beim Werfen in einer Bowlingkugel verhakt.

René Polleschs Arbeiten mit seinem Oberschelm Fabian Hinrichs (Ich schau' dir in die Augen..., Kill your Darlings) strotzten – trotz aller Herzlichkeit – von einem persönlichen Anliegen, von einer energetischen Opposition zum Publikum. Bei "Gasoline Bill" ist aus dem Drama der Spaltung von Anspruch und Leben eine reine Lachnummer geworden. Jeder kennt dieses Dilemma zwischen Wissen und Handeln, Theorie und Praxis, Geisteswissenschaft und Theaterspiel. Dank der Schauspieler, die auf der Bühne dieses Problem für uns spielen, brauchen wir uns damit auch endlich nicht mehr zu beschäftigen. Es wäre ja eh nur Quatsch. Danke, lieber René Pollesch, jetzt fällt mir auch gerade wieder ein, wo mein Füller ist. Nur braucht den keiner mehr, heutzutage schreibt doch niemand mehr mit Hand.

 

Gasoline Bill
von René Pollesch
Regie: René Pollesch, Bühne: Bert Neumann, Kostüme: Nina von Mechow, Dramaturgie: Tobias Staab.
Mit: Katja Bürkle, Sandra Hüller, Benny Claessens, Kristof van Boven.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 


Kritikenrundschau

"Das Stück ist vielleicht das Lustigste, was er je gemacht hat – was bei einem Spaßvogel wie Pollesch schon etwas heißt", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (18.11.2013). Dabei wird für den Kritiker auch an diesem Abend erkennbar, dass in Polleschs Theater eine "große Verzweiflung, genährt von einer unstillbaren Gier nach diskursiver Relevanz, innewohnt". Diese Verzweiflung verstecke der Autor und Regisseur "irgendwo in dem riesigen Themenwust, den er stets in seinen Inszenierungen anhäuft". Die vier Darsteller dieses Abends "bewegen sich mit grandioser Freiheit durch das Themensammelsurium, bewältigen mit Hilfe des durch nichts zu erschütternden Souffleurs Joachim Wörmsdorf die Textmassen mit leuchtender und verspielter Präzision".

Richtig geärgert hat sich Mathias Hejny von der Abendzeitung (18.11.2013) über Polleschs Stück (oder eigentlich über sein Gesamtwerk), das die Kammerspiele neuerlich mit "Erstickungsanfällen an den ganz großen Themen und Sprechdurchfall" infiziere und dabei "irgendwie egal" sei. Pollesch wird als "Mario Barth für Theaterwissenschaftler" etikettiert (oder beschimpft?) und als einer, der seine vier Darsteller "atemlos durch seinen Textverhau jagt, bis sie auf die Fresse fallen".

Sven Ricklefs besprach die Inszenierung auf SWR Kultur (18.11.2013): Die "wirklich guten Pollesch-Abende" seien immer "hochgradig intelligent" und "irrwitzig komisch". Grundvoraussetzung für einen "brillanten Pollesch-Abend" seien "brillante Schauspieler" und die habe er sich mit der "souveränen Viererbande" auf die Bühne geholt. Wie sie der Inszenierung "noch in jede noch so vermeintlich abseitige Albernheit" folgten und sie "zu glitzernden Kleinodien" machten, sei "so unterhaltsam" und mache "intellektuell so viel Spaß", dass sich das Münchner Publikum "schier aus dem Häuschen" gezeigt habe.

In der Frankfurter Rundschau (19.11.2013) hat F. Erik Franzen einmal aufgesucht, was in dem "wahnwitzigen Textsperrfeuer aus den Tiefen einer Zitathölle aus Wissenschaft und Popkultur", das die Schauspieler mit "überragender Akkuratesse abarbeiten" alles so vorkommt: das "psychologische Spiel" als "Sinnbild der Gegenwart" aus dem Blickwinkel von Jacques Lacan und Slavoj Žižek, in dem der "Patient redet und redet und redet", nur um "eben nicht zum Wesentlichen vorzustoßen"; Max Webers Protestantismus-Theorie, die Gesellschaft, in "der die politische Handelnden bloß handeln, damit sich nichts ändert", der "Interpassivitäts-Diskurs" von Robert Pfaller, Lacans Theorien zur Entlastung, dazu wird "Canned Heat" von Jamiroquai gespielt.

Im Münchner Merkur (19.11.2013) schreibt Alexander Altmann (hier die fast gleichlautende Version auf merkur-online.de vom 18.11.2013), Polleschs "grelles Antitheater mit Theorie-Overkill, anfangs Avantgarde, dann 'Kult' und inzwischen an allen führenden Bühnen Bestandteil des Repertoires", sei Gefahr gelaufen in Manier zu erstarren. Jetzt habe der längst selbst zum Establishment gehörende seinen "kratzigen Widerborsten-Stil" gleich selbst abgschliffen und eine "richtig flotte Revue" inszeniert, ein "saukomisches Diskurs-Varieté", er sei endlich beim "transzendentalen Boulevardtheater" angekommen.

 

 

 

Kommentare  
Gasoline Bill, München: warum?
Warum schreibt der Kritiker über etwas, was des Schreibens allmählich nicht mehr wert ist? Die Frage zu beantworten, scheint mir wesentlicher als die tausendste Beschreibung von Pollesch-Witzen
Gasoline Bill, München: Pollesch ist wie Feydeau
Polleschs Theater ist Unterhaltungstheater für den deutschen Großstädter am Beginn des 21. Jahrhunderts. Und wie, sagen wir, Feydeau im 19. Jahrhundert, hat das Theater von Pollesch ein rasantes Tempo, unterstützt von der Drehbühne oder von sich wenigstens drehenden Bühnenelementen. Es hat eine Türendramaturgie (bei Pollesch werden die Türen allerdings oft dort gesucht, wo sie nicht sind), und jenseits des Zeitgeistgequatsches sind Polleschs Stücke Beziehungsstücke, bloß dass die Beziehungen nicht entwickelt werden sondern referiert - deshalb sind die Stücke auch kurz und schnell und der Zuschauer kann sich gut gelaunt dem Rest des Abends widmen. Die Kritik tut sich natürlich immer schwer, wenn sie versucht so witzig zu sein wie die Aufführungen: da hebt der nächste Satz den vorhergehenden auf, ohne dass der Zuschauer mit seinen Gedanken dazwischen kommen könnte und den Satz auf seine Schlüssigkeit oder Witzigkeit überprüfen kann. Bei der Kritik geht das schon.
Gasoline Bill, München: nimm das, Lessing!
"Dank der Schauspieler, die auf der Bühne dieses Problem für uns spielen, brauchen wir uns damit auch endlich nicht mehr zu beschäftigen." - Matthias Weigel
NIMM DAS, LESSING!!! Matthias Weigel hat dich endlich nach Jahrhunderten auf einer deutschsprachigen Internetplattform besiegt!

@Hartwin Gromes:
Diese arme Kritik; Kann nie so lustig sein, wie eine Theateraufführungen... Aber da sie leider nicht witzig ist, kann sie immer noch gesprochene Sätze auf "Schlüssigkeit oder Witzigkeit" überprüfen, wozu ich als Zuschauer NIEMALS in der Lage wäre, weil dieser Pollesch die immer so schnell sprechen lässt, dieser Schlawiner!
Gasoline Bill, München: Theorie und Praxis
Hallo? Und was folgt daraus, Matthias Weigel, aus diesem Widerspruch zwischen Theorie und Praxis? Dass wir ihn auflösen sollten? Dass wir also all das am eigenen Leib erfahren sollten, was professionelle Schauspieler "nur" spielen? Das wäre ja komplett grotesk! Und vor allem, wie zynisch wäre das.

Ich hab mir gerade diesen Film "Captain Phillips" angesehen und frage mich dort ebenso, wie zynisch es ist, (vergangene) Erfahrungen realer Menschen einfach platt nachzuspielen, anstatt sie über vertiefte Recherche und Dokumentation erst einmal zu reflektieren. Oder macht der Regisseur genau das? Es scheint erst so, haut dann aber doch nicht hin. Dass die US Navy bzw. der Militarismus am Ende das Sagen hat und alle anderen, (pathetisch) leidendes Individuum wie die gesichtslose Mannschaft - egal ob hierarchisch oder anarchisch organisiert -, verlieren, ist das eigentlich einer vertieften Reflexion des Themas förderlich? Nee. Also, was soll das mit Theorie und Praxis? Dass man erstmal was wissen sollte, Ursachen, Zusammenhänge und Folgen bedenken, bevor man aktionistisch handelt, sollte doch wohl auch und gerade der US-Regierung klar sein. Aber stimmt denn das? Tja. Sorry für den Exkurs, aber manche Themen sind vielleicht doch nicht so harmlos wie sie klingen.
Gasoline Bill, München: zuviel der Ehre
Liebes Mitleid,
zuviel der Ehre - der zitierte Satz ist dann aber weniger meine These als vielmehr das Wiederaufgreifen der These Jaques Lacans, die ich zuvor geschildert habe. Deshalb auch das Wiederaufgreifen des Füller-Motives (hätte ich aber anscheinend wohl noch klarer machen müssen).

Und liebe Inga,
was diesen Widerspruch angeht; der ist immer da, und den erfährt ja jeder andauernd am eigenen Leib. Für uns folgt da erstmal nichts daraus, aber meine Frage an Pollesch war, ob er ihn mit dieser Slapstick-Nummer nicht vernebelt und zur Lachnummer macht.
Gasoline Bill, München: Dilemma und Chance
@ Matthias Weigel: Das wäre jetzt eine grundsätzliche Frage, wie Theater bzw. Kino aussehen soll. Was beide im Zuschauer bewirken sollen. Eine über Furcht und Schrecken ausgelöste Katharsis/Mitleid, also möglicherweise auch nur ein reines Gefühlsbombardement (wie bei "Captain Phillips"). Oder eine reflexive Distanz über eine - auch und vor allem sprachliche - Vermittlung und Verfremdung. Ich würde sagen, dass beides wichtig ist. Denn wir kommen über das Theaterspiel ja sowieso nie an die realen Leben ran. Und das ist zugleich das Dilemma und die Chance des Theaters: Allein über das Denken UND Mitfühlen (was für mich vor allem auch Thema der Musik ist) unser Handeln umzugestalten. Wer anderes tut, der hat sie nicht mehr alle.
Gasoline Bill, ATT Berlin: außergewöhnlich unterhaltsam
Pollesch-Alumni Katja Bürkle und Benny Claessens harmonieren brilliant mit den "Neulingen" Sandra Hüller und Kristof Van Boven, vor allem Hüller erweist sich als Pollesch-Naturtalent: Ihre in immer weitere Höhen der Selbstverslust-Panik strebende Hysterie korreliert kongenial mit Claessens unerbittlichen Entertainer-Duktus, Van Bovens subtil-trauriger Ironie und Bürkles scharfer Klarheit. Natürlich enthält der Abend zahlreiche wunderbare Pollesch-Sentenzen, die man vielleicht besser im Textbuch nachliest und überhaupt gelingt dem Diskurs-Fanatiker des deutschsprachigen Theaters hier ein außergewöhnlich unterhaltsamer und brüllend komischer Abend. Das liegt daran, dass er sich selbst ernst nimmt und gleichzeitig ironisiert, dass er das theoretische Konstrukt immer wieder szenisch ausprobiert und gegen die Wand krachen lässt, dass er nicht nur erzählt sondern auch spielt. Und dass er immer wieder scheitert und sich dessen bewusst ist. Wo so mancher Pollesch-Abend zuletzt ein wenig zu routiniert, glatt und selbstgefällig schien, reißt Gasoline Bill die Wunden wieder auf und die Pflaster herunter. Warum kann man Delfine retten und dabei immer trauriger werden? War es nicht Zeit, dass sich das Theater solchen Fragen stellt?

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2014/06/10/von-delfinen-und-mitmenschen/
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