Ajax - In Frankfurt inszeniert der Niederländer Thibaud Delpeut die sophokleische Tragödie als bürgerliches Trauerspiel
Der Krieger kehrt zurück
von Esther Boldt
Frankfurt am Main, 1. Dezember 2013. Die Musik dräut dunkel, ein Gitarrenloop verfängt sich im Ohr und flüstert: "Achtung! Hier droht Unheil!" Das klingt verdammt nach "Tatort", und sieht auch so aus: In einem seichten Wasserbecken, vor einer betongrau emporragenden Wand steht Ajax in Baggypants und streicht sich das nasse Haar aus der Stirn. Etwas hat ihn geritten, ein Teufel oder eine Göttin, und der Kriegsheld metzelte eine Viehherde, anstatt Rache an Odysseus zu nehmen. Nun steht er in seiner Schande, und bildschön werfen die Wasserkreise Lichtschimmer auf die Wände.
Im Bockenheimer Depot wird der "Ajax" des Sophokles gespielt, inszeniert von dem niederländischen Regisseur Thibaud Delpeut. Schauspiel-Intendant Oliver Reese hat ihn nach Frankfurt geholt, erstmals inszeniert er in Deutschland – das verheißt eine Entdeckung. In den Niederlanden ist der 1978 geborene Delpeut anscheinend ein Shootingstar, seit diesem Jahr leitet er das Schauspiel in Utrecht. Allerdings weicht das Versprechen auf Neuentdeckung rasch gähnender Langeweile, so brachial, wie Sophokles hier heruntergebrochen wird auf eine Seifenoper im Hochglanzbühnenbild.
Eine Paraderolle?
"Ajax" ist die Tragödie eines entehrten Mannes: Kriegsheimkehrer Ajax erhält nicht die Waffen seines gefallenen Weggefährten Achill, sie werden Odysseus zugesprochen. Er sieht sich betrogen, doch als er sich rächen möchte, verwirrt ihm Athene die Sinne, und anstatt ein Blutbad unter den Griechen anzurichten, tötet er Rinder und Ziegen. Als er aus seinem Wahn wieder erwacht, weiß Ajax keine andere Lösung als den Selbstmord.
Es scheint eine Paraderolle zu sein für Manuel Harder, seit dieser Spielzeit neu im Ensemble und zuletzt der Beckmann in Jürgen Kruses Hafenspelunken-Borchert "Draußen vor der Tür". Nun spielt Harder noch einmal den Kriegsheimkehrer, diesmal weit weniger glücklich. Passte der nuschelnde, rotzig-breitbeinige Prolet mit einer Spur von Melancholie, dieser schmallippige Antiheld mit seiner gestrigen Moralität ziemlich gut in die düstere Unterweltatmosphäre, so passt er gar nicht in die durchdesignte Spiegelburg, die sich Delpeut und sein Bühnenbildner Roel van Berckelaer erdacht haben.
Raubsklavin mit Stockholm-Syndrom
Antike soll hier, das sagen Gitarrenloops, heutig-schickes Kostüm und Bühnendesign, auf Augenhöhe gebracht werden. Aus der Tragödie wird ein bürgerliches Trauerspiel, der Konflikt wird ins Private verlegt. Anstelle der Chor-Öffentlichkeit ist Ajax ein namenloser Freund beiseite gestellt (Martin Rentzsch), der sacht moderiert und der, so will es der Rest Tradition, Prolog und Epilog sprechen darf. Von Letzterem wird noch die Rede sein. Wenn Ajax sich das Leben nimmt, steht seine Raubsklavin und Geliebte Tekmessa (Linda Pöppel) mit ihrem Sohn Eurysakes schlecht da – das wäre das Kleinfamilien-Aus. Und das Programmheft insistiert darauf, dass Ajax ein traumatisierter Kriegsheimkehrer ist, aus Afghanistan oder so. Auch die kennt man ja aus dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen.
Doch um diese "Tatort"-Version als handfeste Story zu akzeptieren, muss man viel hinnehmen. Leidet die Sex-Sklavin Tekmessa unter dem Stockholm-Syndrom, dass sie ihren Entführer und Gebieter so lieblich-flehend umklammert? Und die Götterfrage wird schlichtweg ausgesessen: Zwar markiert Harders Ajax anfangs Schizophrenie im zuckenden Selbstgespräch mit Athene, doch rasch kommt er wieder zur Vernunft. Wahnsinnig ist er also nicht, allenfalls wahnsinnig stolz. Aber wie sind die schicksalslenkenden Götter im betonkalten Heute zu verstehen, in dem der Himmel leer herabgähnt?
"Jetzt wird auf Sicht gefickt!"
Da hätte es etwas mehr Interpretationsarbeit bedurft, da hätte man ein paar Worte drehen und wenden müssen. So aber ist "Ajax" ein ziemlich schlechter "Tatort". Im Planschbecken wird hochtourig genuschelt, gestammelt und gekreischt, keiner der Schauspieler entwirft mehr als ein Klischee – das mächtig-verstockte Mannsbild, die bedingungs- und besinnungslos Liebende, der vertrottelt-bemühte Kumpel. Das Witzfigurenkabinett wird vervollständigt vom komödiantisch-aufgeblasenen Menelaos (Sascha Nathan) und dem bürokratisch-verschlagenen Agamemnon (Michael Benthin). Erst als Andreas Uhse kommt, Ajax' Halbbruder Teukros, stellt sich plötzlich emotionale Fallhöhe her, trifft plötzlich jedes Wort. So also hätte es sein können. So aber war es nicht.
Ach, der Epilog! Kurz ist er, die Betonwand drückt nach vorn, schiebt den Sohnemann vor sich her und auch den Chor. Der ruft etwas von Demokratie, und: "Die großen Schwänze sind weg! Jetzt wird auf Sicht gefickt." Das war das Wort zum Sonntag.
Ajax
von Sophohles
Erstaufführung der Neuübersetzung von Simon Werle
Regie und Musik: Thibaud Delpeut, Bühne: Roel van Bercklaer, Kostüme: Wojciech Dziedzig, Dramaturgie: Hannah Schwegler, Musiker: Jens Böckamp.
Mit: Manuel Harder, Christian Erdt, Martin Rentzsch, Linda Pöppel, Andreas Uhse, Sascha Nathan, Michael Benthin, Ben Gerloff, Paul Herholz.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.schauspielfrankfurt.de
"Sämtliche Personen patschen über eine geflutete Bühne mit drei Tiefenzonen, in deren Mitte ein Floß dümpelt", Bühnenbildner Roel van Berckelaer habe mehr versprochen, als sein Regisseur einzulösen vermochte, so Claudia Schülke in der Rhein-Main-Zeitung (3.12.2013). Simon Werles Neuübersetzung belebe die Wucht der antiken Sprache für die Gegenwart. "Die Schauspieler aber werden nicht alle mit dem Text fertig." Die posttraumatischen Belastungsstörungen der Afghanistan-Heimkehrer sollen Ausgangspunkt dieser Inszenierung gewesen sein, "als der Regisseur merkte, dass dieses Konzept nicht trug, hat er die geplante Rahmenhandlung fallen lassen". Von Sophokles bleibe jedoch genug erhalten, um das Premierenpublikum mit Recht zu begeistern. "Wahrscheinlich hat Delpeut seine Inszenierung sogar gerettet, indem er auf plakative Aktualisierung verzichtet und der Tragfähigkeit des Textes vertraut hat." Fazit: "Ein disparater, aber kein verlorener Abend."
"Ajax" nicht archaisch zu nehmen, heißt, seine Tragödie kleinzureden. Und es spielt im Verlauf der Inszenierung letztlich auch keine Rolle, gibt ihr bloß eine Unentschlossenheit, die sie nicht nötig hat, findet Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (3.12.2013). "Im Bockenheimer Depot spielt wieder die Bühne eine Hauptrolle", wassergefüllte Becken, eines tiefer, zwei höchstens fingerdick gefüllt, sind die Spielfläche. "Die Reflexionen der unterschiedlich bewegten Oberflächen sorgen für Wandmuster und für Ruhe wie Unruhe, und zusammen mit der diskreten Musik für eine traumverlorene Stimmung, in der sich die Schauspieler gut zurechtfinden."
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Laienprobleme, wie die Tatsache, dass Schauspieler nicht zu verstehen sind, passen nicht zu einem Theater dieser Größe.
Ich aber muss widersprechen, wenn Tekmessa hier ein Stockholm-Syndrom angehängt werden soll: Ich halte ihren Auftritt für plausibel und urtextgemäß.
Und eines sollte erwähnt werden: Der Schlussdialog Teukros (Uhse) - Agamemmnon (Benthin) ist meiner Meinung nach grandios gelungen.