Neue Nabelschau

19. Dezember 2013. Die Theaterszene entwickelt einen Heißhunger auf Migranten, Postmigranten oder auf Themen, die das Zusammenleben der Kulturen behandeln. Aber schauen wir nicht nur deshalb so gebannt hin, weil es uns erspart, das wirklich Neue zu denken? Fragt heute Tobi Müller im Schweizer Tagesanzeiger.

In Nurkan Erpulats Inszenierung des "Kirschgarten" müssen Herkunft oder Hautfarbe, zumindest anfangs, nicht als künstlerisches Zeichen herhalten, "die Schauspieler sind ihrer Biografien enthoben und dürfen das machen, was sie können: nämlich spielen". Erpulat packe dann aber doch den Holzhammer aus, wenn Lopachin seinen Sieg mit einem provozierend traditionellen türkischen Fest feiere. "Und gegen Ende tappt der Abend in die eigene Falle. Der Schauspieler Sahintürk fällt aus der Figur des Lopachin und berichtet von seinen persönlichen Erfahrungen. Wie man ihn, den in Westdeutschland geborenen Türken, immer wieder gebeten habe, doch bitte mit Akzent zu spielen." Kaum sei man im Zentrum der Aufmerksamkeit angekommen, kaum könnte man das biografische Geheule mal hinter sich lassen, "gibt man den Ausgegrenzten".

Shermin Langhoff verstand es, aus dem Label Postmigrantisches Theater eine Erfolgsgeschichte zu bauen. Jetzt leitet sie mit Jens Hillje das Berliner Maxim Gorki Theater. "Von der Garage direkt zu Google. Die Frage wäre, ob Google wie eine Garage funktionieren kann. Oder aufs Theater bezogen: ob die Andersheit, die sich das Gorki auf die Fahnen schreibt, nicht im Dekorativen stecken bleibt."

Ja, das Ensemble sei bunt gemischt und hole damit viele Versäumnisse nach. Aber "Erpulats 'Kirschgarten' erinnert in seiner Art, ein Thema über einen Klassiker zu stülpen, arg an ein imaginiertes Schwarzbuch des Regietheaters: 'Macbeth' an der Börse, 'Faust' im Puff, und jetzt halt Tschechow in Kreuzberg. Was hier anders ist, sind Gesichter, Kostüme, Farben. Das ist nicht sehr viel."

Fazit: "Wir sehen hier kein anderes Theater, sondern fühlen bloß eine etwas andere Temperatur." Und vielleicht schauen wir alle deshalb so gebannt auf dieses Haus und dieses postmigrantische Programm, "weil es uns erspart, das wirklich Neue zu denken. Wie sollen Theater in Zukunft arbeiten, wie könnte man sie offener gestalten?" Auf die Dauer bringe es nichts, die alte bürgerliche Nabelschau mit der neuen Nabelschau der Migrantenkinder zu ersetzen.

 

Kommentare  
Tages-Anzeiger zum Gorki: Integrationsmärchen Muck
Lieber Tobi Müller,
das Gorki hatte fünf große Eröffnungspremieren, die sehr unterschiedlich aufgenommen und besprochen wurden. Sie beziehen sich natürlich in Ihrer Besprechung nur auf die beiden Inszenierungen, die dabei nicht so gut wegkamen. Hier wurde "Der kleine Muck", das sogenannte Weihnachtsmärchen, nicht besprochen. Ich möchte aber darauf aufmerksam machen, da genau in dieser Inszenierung von Weise im Gorki Theater der inhaltlich angestrebte Punkt getroffen wurde. In den Berliner Zeitungen war nicht vom Weihnachtmärchen die Rede, sondern der Begriff "Integrationsmärchen" wurde neu geprägt. Das fand ich sehr witzig und richtig, nachdem ich mir die Vorstellung angeschaut habe. Die Hauptrolle spielt Oscar Olivo, ein Schauspieler aus New York, der kein Hochdeutsch spricht, und der auch an der Kaderschmiede "Ernst Busch" studiert hat. Umringt ist er von Studenten der "Ernst Busch", die teilweise mit unterschiedlichen Akzenten sprechen. Sie gehen alle sehr leicht und spielerisch mit dem Thema Integration um, ohne plakativ zu werden. Ebenso tut das die Fassung des Märchens.
Das war für mich neu gedacht, weil es nicht betroffen wirkt und versucht mir einen Spiegel vorzuhalten oder mit Zeichen und Signalen auf mich deutet und mich auffordert mich zu verhalten.
Das Gorki Theater fängt gerade neu an und hat sich als erstes Thema die Migranten, Postmigranten oder das Zusammenleben der Kulturen vorgenommen. Aus ersichtlichen Gründen. Natürlich darf das nicht dekorativ werden und ich bin auch gespannt, was da noch hinzukommt und wie sich die Themen verändern. Geben wir ihnen eine Chance...
Tages-Anzeiger zum Gorki: Idealismus wärmt die Seele
Lieber Stefan,
Ihr Beitrag macht mich neugierig auf den "Kleinen Muck". Will ich unbedingt sehen.
Möchte aber trotzdem daran erinnern, dass sein Verfasser Wilhelm Hauff ein übler Antisemit war. Veit Harlans "Jud Süß" ist bekanntlich die Verfilmung seiner gleichnamigen Novelle - als Gegendarstellung zu den Fassungen von Feuchtwanger und Kornfeld.

Ich akzeptiere voll und ganz, dass man das in einem Weihnachtsmärchen nicht reflektieren muss. Auch in einer Abendvorstellung, die andere Akzente setzt, nicht.

Man könnte aber.

Vielleicht würden die Aufführungen dann komplexer. Wobei der Idealismus "Alle Menschen werden Brüder" in "Verrücktes Blut" z.B. meine Seele natürlich durchaus auch wärmt.
Tagesanzeiger zum Gorki: ewiger Konflkt?
@ Guttenberg: Worum geht es Ihnen jetzt? Geht es hier nicht erstmal um Texte und individuelle Lesarten, unabhängig von politischer Ideologie und Religion? Geht es Ihnen um den ewigen, von oben geschürten Konflikt zwischen Christentum, Judentum und Islam? Ist das der Tenor Ihres Kommentars? Dann müssten Sie beim Thema Antisemitismus konsequenterweise aber auch Célines bzw. Castorfs "Reise in die Nacht" kritisieren.
Tagesanzeiger zum Gorki: im Glashaus?
Nun, ein zu geringes Selbstwertgefühl wird man Tobi Müller sicher nicht unterstellen können.

Bleibt die Frage, ob es jetzt mutig oder gar doch ein wenig frech ist, im selben ̶At̶̶e̶̶m̶̶z̶̶u̶̶g̶ Artikel den Erfolg der eigenen Arbeit noch einmal nachzufeiern ("...dass «Elternabend – Mike Müller migriert in die Schule» – ein Stück, das von den Schwierigkeiten einer Zürcher Schule in multikulturellem Umfeld handelt – zum grössten Publikumserfolg in der Geschichte des Theaters Neumarkt wurde.") und die Arbeit anderer kleinzuschreiben (" Wenn dann Lukas Langhoff, der Mann der Intendantin, mit Volker Brauns «Übergangsgesellschaft» einen späten DDR-Kracher seines verstorbenen Vaters Thomas Langhoff inszeniert, sind wir sogar bei einer zweitklassigen Kopie von Frank Castorf gelandet. Und dies in Berlin!").

Und ist das Herausstellen von Arbeits- und Familienbeziehungen wirklich so geschickt, wenn man im Glashaus sitzt?

Vielleicht wäre für einen Feuilletonisten, Autor, Moderator und Juror des Hauptstadtkulturfonds eine coolere, objektivere Betrachtungsweise empfehlenswerter. Aber das ist nur eine Vermutung ...
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