Da musst du durch!

von Geneva Moser

Zürich, 30. Januar 2014. Wann wird man wohl die ersten Genitalien sehen, frage ich mich in Anbetracht der Ketchup-Mayonnaise-Sauerei, welche die beiden Männer und die junge Frau im Kleinmädchen-Kostüm veranstalten. Und siehe da: In der nächsten Szene stehen beide Männer unter der Dusche, ihre Geschlechtsteile im Fokus der Kamera, deren Livebild auf die Leinwand projiziert wird. Die durchschaubare Abfolge dieser ersten Szenen bleibt für den Rest von "Allegorie des Glücks" von Markus Öhrn in Zusammenarbeit mit der Performancegruppe Nya Rampen und dem Theater Neumarkt in Zürich erhalten.

Die Frage "Was könnte als nächstes provozieren, schockieren, beschämen oder Abgründe offenbaren?" scheint den dramaturgisch entsprechend flachen Aufbau der beinahe dreistündigen Performance bestimmt zu haben. Als Schauplatz dient das bereits aus "Conte d'amour" und We love Africa and Africa loves us bekannte Setting eines geschlossenen Holzkastens, einer darin häuslichen Familie (Familie Fritzl, bisher, und wohl auch heute) und einer Kamera, die alle Geschehnisse im Innern des Holzkastens für das Publikum auf Leinwand überträgt – gut gezoomt, damit die echten Tränen, das Blut und die Genitalien nicht übersehen werden können.

Kein Platz für leise Töne
Als Außenraum zu dieser Familien-Dystopie fungiert der bisweilen faszinierende Klangraum einer Black Metal Komposition (Andreas Catjar/Janne Lounatvuori), live gespielt. Zwischen diesen beiden Welten switcht filmend eine Art Joker in Rockerkluft, immer wieder in evangelikal angehauchten Predigertönen missionarisch ins Mikrophon brüllend. Dass dieser Gesellschafts-Nukleus übrigens aus zwei Vätern und einer Tochter besteht, soll wohl ebenfalls in irgendeiner Hinsicht provozieren. Irritierender ist hingegen vielmehr der Eindruck, dass die beiden Schauspieler gemeinsam unter der Dusche irgendein Unbehagen zu verspüren scheinen.


Gespickt mit allerlei psychoanalytischer Symbolik, folgen nach der Lebensmittelschlacht und den nackten Genitalien die inzestuöse Orgie – klischiertes Stockholmsyndrom und lächerliches Hundegerammel inklusive –, sadomasochistische Imaginationen bis hin zu Mordfantasien, überhaupt Tod, Sterblichkeit und die dazugehörigen Plattitüden und zum pseudoemanzipatorischen Schluss dann (ach wie schockierend!) Menstruationsblut, ganz viel Menstruationsblut.

Die missionarische Botschaft dieser Performance scheint zu sein: Da musst du durch! 
Für mich ist sie das primär, weil ich dafür bezahlt werde, zu bleiben. Für Öhrn vermutlich, weil er und Nya Rampen dem Publikum für ihr Ausharren irgendeine ominöse Befreiung versprechen. Ganz einfach: Auf das exzessive An-die-Oberfläche-Tragen und Ausschlachten des Unbewussten folgt schließlich die Katharsis, ganz ohne Mitleid, ohne Empathie, ja ohne Nähe. Denn Platz für leise Töne, für feine Verschiebungen oder Komplexität ist in diesem Black Metal Exerzitium von Beginn an keiner.

Liberation, Liberation, Liberation!
Nicht nur ist der Lärmpegel oft nur mit Ohropax auszuhalten. Auch der erste Blick in den Lebensraum dieser voyeuristisch beobachteten Kleinfamilie lässt keinen Hauch von Zweifel daran aufkommen, dass hier etwas gewaltig schief läuft. Das Mädchen am Wohnzimmerboden malt Geschlechtsteile und blutige Analpenetrationen in bunten Farben auf sein Zeichenpapier. Die Zeichen sind von Beginn an gesetzt, und es gilt sie auszuhalten. Nichts ist zerbrechlich oder unklar, nichts verlangt persönliche Meinung und eigene Reflexion. Auch sprachlich beweist diese Performance nicht gerade Feingefühl, weder auf Englisch noch auf Deutsch. Sätze wie "Die Angst vor dem Tod ist die Angst vor Veränderung" fallen in die wenigen stillen Momente hinein und stehen dann zusammenhangslos da, riesengroß und unglaublich platt.

Allegorie 560 CUWalter uEine düstere "Allegorie des Glücks" © Caspar Urban Weber

In der gezeigten Täter-Opfer-Dichotomie Männer versus Frau ist es das Menstruationsblut, welches zum Mittel des Aufstands gegen die patriarchal-ausbeuterischen Strukturen dieser Familie wird. Die junge Frau, sadistisch gequält mit religiös motiviertem Reinlichkeitsfanatismus, nutzt schließlich blutige Hygieneartikel als Waffe gegen ihre Peiniger. Die Geste bleibt so absurd wie plakativ, aber vielleicht sagt es doch etwas über das Frauenbild unserer Kultur aus, wenn außergewöhnlich viele Männer an dieser Stelle den Raum verlassen und so manche Frau in (erlösendes?) Gelächter ausbricht.

Wer also aushält bis hier, bekommt schließlich folgende Vorstellung der gepredigten Katharsis: Von einem (melodiösen!) Gitarrensolo begleitet, Blut-übergossen und nackt steigen Mann, Mann und Tochter durch ein von Joker in die Wand gehauenes Loch aus ihrer Gefangenschaft und ergeben sich in eine ekstatische Black Metal Hymne: Liberation Liberation Liberation. 
Die dunklen Löcher sind penetriert, die Abgründe an der Oberfläche, die Kellergründe ausgehebelt, die Katharsis erreicht – vielleicht kann Öhrn jetzt aufhören mit Familie Fritzl und dem Missionieren und stattdessen Black Metal Konzerte veranstalten. 
Denn es bleibt dabei: Diese "Allegorie des Glücks" – stimmt: wo ist eigentlich das Glück hin? – ist zum Davonlaufen, und mitnichten vor dem eigenen Unbewussten…

 

Allegorie des Glücks

Ein Black Metal Exerzitium über die Familie
von Markus Öhrn und Nya Rampen
Regie/Konzept/Video: Markus Öhrn, Musik: Andreas Catjar/Janne Lounatvuori, Raum: Dominic Huber, Kostüme: Pia Aleborg.
Mit: Andreas Catjar, Jakob Öhrman, Linus Öhrn, Markus Öhrn, Janeth Rothe, Rasmus Slätis.
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, keine Pause

www.theaterneumarkt.ch

Kritikenrundschau

Die Performance sei nicht schlecht – "im Gegenteil", findet Katja Baigger in der Neuen Zürcher Zeitung (1.2.2014). "Es sind freilich Tabus, die auf den Bühnen schon zig Mal gebrochen wurden, die aber hier erneut und mit viel Inbrunst unterlaufen werden." Der Regisseur drehe am Rad der Geschlechter, lasse Mann und Frau sich neu positionieren, kehre Vorstellungen um: "Zerstörungswut, Rache, Hass und Todestrieb können Glück bedeuten." Dass die Tochter die Väter mit blutgetränkten Tampons füttert, sei "eklig und witzig. Die althergebrachte Hierarchie ist verschwunden."

Kommentare  
Allegorie des Glücks, Zürich: wie sonst nur bei Vegard Vinge
Bei Markus Öhrn werden Ingmar Bergmann, Marylin Manson, Rockwut, Performanceironie und Wahrheit auf sehr mutige Weise verarbeitet- wie nur bei Vegard Vinger. Und zwar weil hier starke Bilder, eine eigene Formensprache ein eigener Rhythmus kreiert werden, die Dinge so auf den Punkt bringen wie sonst keiner und das mit Humor und Sex und coolem Sound. Die Autorin ist wie jemand, der Van Gogh für seine Krummen Linien kritisiert (...). Das sag ich als Künstlerkollege und sehr kritischer Zeitgenosse. Es ist schlimm, diese Art der schelte so konsensheischend hier zu verbreiten. Man sollte auch das Theater an Neumarkt für die mutige Geschichte loben. Denn hier gehen Leute ein Risiko ein, um etwas auszudrücken und sie gehen dieses Risiko in jeder performance ein. Nichts von den tollen Bildern wird erwähnt. Warum sollten sich Zuschauer 3 Stunden doofes video angucken? Ist es so leicht so etwas zu machen? Das ist der einzige Videomensch im Theaterbereich außerhalb der Volksbühne , der eine eigene Kraft hat- abgesehen von Kondek vielleicht. Und die Performer sind ein Traum! viele grüße aus Zürich florian
Allegorie des Glücks, Zürich: das Risiko am Risiko
"die Dinge so auf den Punkt bringen wie sonst keiner"
was für dinge werden auf welchen punkt gebracht, eine ausführliche antwort darauf würd mich von jemandem interessieren, der das genie Markus Öhrns erkannt zu haben glaubt.
und versteh ich nicht, warum risiko per se gelobt werden muss; das ist doch das risiko am risiko, dass es immer solche geben wird, die das dreistündige video - oder die konsensheischende schelte - doof finden. das sage ich als künstlerkollegin und sehr kritische zeitgenossin. aus zürich die grüsse von karin
ps: die autorin ist in erster linie eine, die und nicht jemand, der.
Allegorie des Glücks, Zürich: Drama des begabten Kindes
"Der Regisseur dreht am Rad der Geschlechter, das zum Stillstand gekommen ist, lässt Mann und Frau sich neu positionieren, kehrt Vorstellungen um: Zerstörungswut, Rache, Hass und Todestrieb können Glück bedeuten. Das suggeriert Öhrn, der als blonder Metal-Elf zu uns spricht." Na, is ja toll. Das kennen wir doch längst alles aus Alice Millers "Drama des begabten Kindes". Aus dem Drama, die eigenen Emotionen nicht fühlen zu dürfen und/oder in den eigenen körperlichen Regungen und Prozessen nicht angenommen zu werden, entstehen Aggression, Angst und Wut. ABER: Wer zeigt dieser missratenen Tochter denn jetzt, wie Liebe geht? Wer sich immer nur mit dem bzw. hier: den Unterdrückern identifiziert, wird auch in sich selbst niemals die Liebe finden. (…) Und Black Metal mag ich auch nicht.
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