Die totale Entfesselung zum Kitsch-Ulk

von Jens Fischer

Hamburg, 8. Februar 2014. Er ermöglicht das, wofür er erfunden wurde: fasziniertes Gruseln. Gerußter Kopf, den Körper in Latex gegossen, mit Nosferatu-Blick einem Sarg entsteigend, krümmt er sich zum Spiderman und wütet im Deutschen Schauspielhaus durch apokalyptische Sprachbilder. Oder ist am Theater Bremen gleich gespenstischer Kapitän eines Geisterschiffes, an dessen Deck sich grotesk-debile Lemuren tummeln, aufgequollen wie Wasserleichen, fies wie Splatterfilm-Zombies. Er, das ist der Holländer, fliegen soll ihm möglich sein.

Jedenfalls hat man das mal so mythologisiert, weil die Holländer einst sagenhaft schnell ums Kap der Guten Hoffnung schippern konnten, dass den Engländern auf der Handelsroute nach Indien nur das Gruselstaunen blieb. So etwas weiß Sebastian Baumgarten an beiden Bühnen zu erzählen. Er saugt Regiekonzepte nicht aus den Worten der Vorlage, sondern recherchiert sie rechts und links neben dem Stück, übermalt und grundiert dieses mit den Lesefrüchten. Neben der Rezeptionsgeschichte sind drei Zeiten auf der Bühne präsent: die der Handlung, die des Autors und die unsrige.

Wankende Bühnenkunstwelt

So auch beim zweiteiligen "Holländer"-Projekt. Richard Wagners romantische Oper ist wohl die berühmteste Ausformulierung der Sage vom ewig über die Meere irrenden Seemann, den nur eine bis in den Tod treue Frau erretten kann. Baumgarten hat diese Teufelei in sienem "Holländer" am Theater Bremen inszeniert. Das Basismaterial, das Dramaturgen sonst zum internen Gebrauch zusammenstellen, bringt er nun in Hamburg zur Uraufführung. Ein Konglomerat an direkten Quellen, Einflüssen und Assoziationen. In beiden Produktionen gerät die Bühnenkunstwelt ins Wanken. Und wir erfahren durch Videofilmchen, Bild- und Texteinblendungen, Ausstattungsaccessoires ein Patchwork der Bedeutungszusammenhänge.

In Bremen wurde es arrangiert als ironisches Schauermärchen auf einer Rummelplatzvarieté-Bühne. Die dem Libretto entnommenen Worte "Ehre" und "Treue" prangen leitmotivisch am Portal. Es geht also um deutsche Geschichte, die Matrosen tragen daher wilhelminische Pickelhauben oder Weltkriegsstahlhelm, Eisernes Kreuz und Reichsadler-Tattoo. Afrika kommt als Satan ins Bild, dem der Holländer sich verschreibt. Summa summarum sollen wir beim Wagner-Hören mitdenken: Die dunkle Seite der deutschen Romantik und das 1848er-Revoluzzern führten zu größenwahnsinnigem Nationalismus, Militarismus, Kolonialismus und Faschismus. Zum Klangsturmfinale wird daher ein Bild von Albert Speers "Germania" auf den Vorhang projiziert.

Gouda-Produktion in der Zukunft

In Hamburg ist der Holländer (Götz Schubert) selbst der Teufel, buhlt mit Mephisto-Worten um Senta, die schon lange an seinem Porträt malt: die lustvoll besetzte Angstfantasie wird nun Objekt ihrer Missionierung. Baumgartens "Ballade vom Fliegenden Holländer" spielt 2073, Buren haben sich aus Angst vor der Weltkriegsgeschichte in Südafrika als puritanische Sekte zurückgezogen, die Gleichförmigkeit harter Arbeit (Produktion holländischen Goudas!) bestimmt den Alltag. Statt Kopftuch tragen die Frauen eine Art Badekappe deerotisierend überm Haar.Hollaender4 560 DavidBaltzer uAngstfantasie vor deerotisierenden Badekappen: Götz Schubert als Holländer © David Baltzer

Nach Art des Baumgarten-Humors kommt der Guru des Ganzen, Sentas Vater Daland, gerade aus Europa zurück. Guckt mal, was ich euch mitgebracht habe! Er präsentiert eine Burka – und deutsche Soldaten zum Besamen: reborn Lebensborn. Stolz ist Daland auf ein fast autarkes, "in sich geschlossenes System" seiner frömmlerischen Gemeinschaft. Was nun ein selbstreferentieller Spaß Baumgartens ist, hatte er doch in Bayreuth den "Tannhäuser" im Bühnenbild einer Biogasanlge spielen lassen, um charmant polemisch Gesellschaften zu kritisieren, die durch strenge Organisationsform und Abschottung existieren und dabei Errungenschaften der Aufklärung negieren.

In der Küche der Postmoderne

Nun dringt der Holländer in diese Welt der christlichen Bio-, Öko-, Nachhaltigkeits-Fanatiker ein, erinnert sie an all das Verdrängte. Er steht für den Hang zum Dionysischen, Anarchischen, Destruktiven – die totale Entfesselung der Produktivkräfte des Menschen. Und preist dessen Erlösung durch Vernichtung. Sein Kampf mit Senta ist der zwischen Individualität tötender, radikaler Gemeinschaft und Gemeinschaft tötender, radikaler Individualität. So viel "meta" ist bei Baumgarten obligatorisch.

Ebenso wie die Komiksahne: Ein Hippie-Miraculix braut einen Zaubertrank, um den Glauben an das Gespenst des Kommunismus wiederzuerwecken. Was trotz dezent moderner Zutaten aus der Baudrillard- und Derrida-Küche nicht gelingt. Nur das Holländer-Gespenst feiert fröhliche Spukeffekte. Die Folgen für Senta exzorziert der Vater mit Elektroschocks, bis sie vom Holländer gen Himmel entführt wird, purer Wagner-Kitsch-Ulk: Erlösung ist nur im Tod zu haben. Während die durch Liebe in Bremen auch Kitschquatsch ist: Das Bühnenbild versinkt in Trümmern, die Holde sinkt darnieder – und Baumgarten blendet weitere Anwärterinnen ein, die nach solchem Erlebnis lechzen.

Musikalische Grusel-Illustration

Also zwei lässig amüsante, mit üppig aufgefahrenen Theatermitteln prima unterhaltende, mitdenkenswert kontextualisierende Aufführungen. Nur die Hauschka-Musik enttäuscht in Hamburg. Der fürs Klangforschen hochgelobte Klavierpräparator versucht eine Art Bigbandjazz-Musical in Kammermusikformat, liefert jenseits der Choräle, Gebete, Balladen mit minimalistischer Strenge nur filmmusikalisch humor- und kraftlose Grusel-Illustrationen. Zum Faszinieren zu wenig.

 

Die Ballade vom Fliegenden Holländer (UA)
nach Motiven von Hauff, Heine, Hudtwalcker, Fitzball, Marryat und Wagner u. a.
Spielfassung von Sebastian Baumgarten und Jörg Bochow
Regie: Sebastian Baumgarten, Bühne: Joep van Lieshout, Kostüme: Jana Findeklee, Joki Tewes, Musik: Hauschka, Musikalische Arrangements: Hauschka, Thies Mynther, Video: Stefan Bischoff, Licht: Holger Stellwag, Chor-Einstudierung: Nina Lahme, Dramaturgie: Jörg Bochow.
Mit: Andreas Grötzinger, Paul Herwig, Anne Müller, Sasha Rau, Götz Schubert, Aljoscha Stadelmann sowie Irene Benedict, Mieke Biendara, Fridtjof Bundel, Uwe Dreysel, Marek Egert, Sarah Eyfferth, Raphael Gehrmann, Eva Hüster, Marie Jordan, Angelina Kamp, Rabea Lübbe, Antonia Michalsky, Florian Miro, Felix Oliver Schepp, Pirmin Sedlmeir, Anton Weil, Marek Wild. Musiker: Hauschka, Robert Hedemann, Sebastian Hoffmann, Johannes Huth, Johnny John, Stephan Krause, Thies Mynther, Rainer Sell.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

Baumgartens "Ballade vom Fliegenden Holländer" sei "eine Fleißarbeit am Urtext (…), eine Von-allem-etwas-Sause, sehr dekorativ bebildert und die nächste Leistungsschau der Schauspielhaus-Bühnentechnik, die schon in den Premieren der letzten Wochen ständig am Limit gefahren wurde", schreibt Joachim Mischke im Hamburger Abendblatt (10.2.2014). "Der Erkenntnisgewinn über den zur Unsterblichkeit verfluchten Niederländer und seine existenzielle Tragik" halte sich allerdings "in Grenzen. Das große Ganze trennte auch in diesem Fall von Assoziations-Übergewicht nur ein gefährlich schmaler Grat vom allgemein Beliebigen." Mischkes Fazit: "Überehrgeizig und deswegen unentschieden. Mann könnte dieses Musik-Theater-Experiment als gescheitert betrachten. Das allerdings auf hohem Niveau."

Christian Wildhagen vergleicht in der Frankfurter Allgemeinen (10.2.2014) Baumgartens "Ballade" mit dem "Don Giovanni" von Antú Romero Nunes, ein anderer Fall, bei dem sich "das Schauspiel seine Stoff-Infusionen von der Oper" zurückgeholt habe. Baumgartens Ansatz sei nun "weit weniger spielerisch, dringt dramaturgisch ungleich tiefer in die Stoffgeschichte ein – und gerät prompt in die Gefahr eines postmodernen Assoziationstheaters, in dem sich der eigentliche Stoff verflüchtigt, weil alles irgendwie mit jedem zusammenhängt." Bei Baumgarten sei "die Romantik nur noch Zitat". Einiges jedoch beeindruckt Wildhagen durchaus: "Die berühmten Schattenriss-Effekte aus Murnaus Gruselklassiker inspirieren Baumgarten dann auch zu der stärksten Szene des Abends: Wie Max Schreck im Film umgarnt der riesige Schatten des Holländers die plötzlich mädchenhaft kleine Senta, als wolle er sie fressen wie einst der Wolf das Rotkäppchen."

 

Kommentare  
keine Barbaren, Bern: Hinweis
Die Kritik von Andreas Klaeui zur Philipp Löhles neuem Stück ("Wir sind keine Barbaren") ist leider nicht anklickbar!

(Danke, rudi!
die redaktion)
Fliegender Holländer, HH: Zustimmung
Ein toller Abend zur absolut richtigen Zeit!
Fliegender Holländer, HH: kleine Zwischenbilanz
nach 4 Inszenierungen (von denen ich 3 gesehen habe) Zeit für eine erste Zwischenbilanz der "Heilsbringerin" Karin Beier: Für mich persönlich eher durchwachsen! Auch dieser Inszenierung fehlt es an neuen Ideen und berührenden Momenten. Allzu sehr hat man das Gefühl hier wird auf Biegen und Brechen was gesucht, das dann doch nur Aufgewärmtes von schon so oft (uns besser) Gesehenem ist. Die lokale Presse ist freudig erregt, während Frau Beier im Rest der Republik kaum Beachtung findet. dabei möchte sie es doch so sehr, um sich für noch höhere Weihen zu empfehlen. Wieder mal zeigt sich, daß das Schauspielhaus eben doch eines der am schwierigsten zu bespielenden Häuser ist.
Mal sehen wie lange sich KB hält....
Fliegender Holländer, HH: Lust oder Biomaschine
Die Form gefällt mir. Klingt so schön übertrieben durchgeknallt, dass man hier wohl nur sagen kann: Das einzige, was "wir" zu fürchten haben, ist die Furcht selbst. Genießt die obszöne Unterseite der (männlichen) Macht! Na ja, ich als Frau vielleicht nicht ganz so, ehrlich gesagt. Das Elysium ist eben nicht die unendliche Liebe, sondern vielmehr auf der einen Seite die allesverschlingende Lust (siehe der Holländer) oder auf der anderen Seite der Mensch als Biomaschine bzw. Biomaterial (siehe Daland). Hat Baumgarten vielleicht auch ein paar gute Filme als Material verwendet? Zum Beispiel "Cloud Atlas" von Tom Tykwer und den Wachowiaks?
Fliegender Holländer, HH: zwischen innovativ und abghoben
@Achim Eutebach:
Ich meine, dass das Schauspielhaus nicht schwieriger "zu bespielen" ist als andere Häuser-warum auch? Es ist ein wunderschönes Theater mit viel Atmosphäre, was einem ein entspanntes Gefühl gibt, wenn man drin sitzt.
Die Schwierigkeit resultiert vielmehr aus dem in den letzten Jahren und Jahrzehnten gewachsenen Ansprüchen, eines der besten Gegenwartstheater zu bieten. Und hier ist es eben verdammt schwierig, sicher den schmalen Pfad zwischen innovativ und "abgehoben" zu finden - und das jeden Abend für 1000 Zuschauer!
Das kann nicht immer funktionieren. Aber wenn wir Glück haben, finden Karin Beier und ihr Team einen interessanten Weg. Nur ein wenig Zeit sollte sie dazu haben. Bisher hat noch jeder Intendant eine "ruckelige" erste Spielzeit gehabt.
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