Boris in Bollywood

von Simone Kaempf

Berlin, 7. März 2014. Zum Schlussapplaus kommen die drei Autoren gemeinsam auf die Bühne: Vibhawari Deshpande, Jahrgang 1979, und Shrirang Godbole, Jahrgang 1966, beides Theatermacher in der indischen Millionenstadt Pune. Dazu ihr deutsches Pendant, der Dramatiker Lutz Hübner, vor zwei Jahren vom Goethe-Institut und von der Theatervereinigung "Grips-Movement in India" zu einer gemeinsamen Arbeit in die Millionenstadt eingeladen.

Als Autoren sind sie beileibe nicht die ersten, die ein Stück über das Fremdsein in der Ferne und den Clash der Kulturen vorlegen, darüber, wie ein wollmützentragender, kulturell desinteressierter Heranwachsender ohne Vorbereitung bei einer indischen Gastfamilie landet, in wirklich jedes Fettnäpfchen tritt und Gastfreundschaft so versteht, womöglich die Tochter des Hauses zu schwängern.

Braucht man beim Car-Sharing ein Patchwork-Auto?

Während des Austauschprogramms ist ein Stück der intelligenteren Art entstanden. Angesiedelt zwischen Farce und dialogstarker Komödie breiten der Austauschschüler Boris und seine Gasteltern erst einmal vorauseilend ihre Klischees voneinander aus, wie es sich für dieses Themengenre gehört. Die eigentliche Komik nährt sich aus dem gegenseitigen Verstehenwollen, dem mit den Klischees die Grenzen gesetzt sind. Da versucht etwa Austauschschüler Boris dem Auto-vernarrten indischen Familienvater deutsches Car-Sharing zu erklären – als Patchwork-Auto lässt es sich für ihn am besten begreifen, was es so natürlich auch nicht trifft. Die Schwierigkeit, für fremde Kulturtechniken eine adäquate Übersetzung zu finden und sie gegenseitig verstehbar zu machen, läuft in "Der Gast ist Gott" immer mit.

Regisseurin Mina Salehpour packt den Text klar von der humorigen Seite an. Versetzt das Spiel auf eine abstrakte weiße Spielfläche, in der die vier virtuos spielenden Schauspieler ihre Rollen und Kostüme wechseln. Man kennt solche offene Spielweise natürlich. Laut Programmheft soll sie auch eine lange Tradition im indischen Volkstheater haben. Aber Salehpour, Jahrgang 1985, inszeniert das taufrisch, mit Tempo und hochklassigen Einfällen, mehr als nur ein Beweis für ihren Ruf als erfolgreiche Jungregisseurin oder die Auszeichnung mit dem Theaterpreis "Faust" für ihre Inszenierung von "Über Jungs", die 2012 ebenfalls am Grips Theater entstand.

Alles bleibt Spiel

Die glasklare optische Transparenz der Bühne mischt sich mit einer Prise Folklore, wenn Schauspielerin Katja Hiller mithilfe unterschiedlicher Kostüme von der deutschen in die indische Mutterrolle switcht oder Roland Wolf sich vom indischen Großvater in die Großmutter verwandelt. Im Text ist bereits angelegt, dass die Schauspieler ständig auch die Möglichkeit der Darstellung befragen ("keiner von uns war je in Indien und jetzt faken wir hier eine indische Familie"). Salehpour macht daraus ein Fantasie-explodierendes Spiel mit den Illusionen, die wir uns voneinander machen. Am schönsten die Szene, wenn Boris einen Bollywoodfilm anschaut und die Schauspieler wie im beschleunigten Vorspulmodus alle Emotionen und Reaktionen, das Staunen und Auf-dem-Kinositz-Rutschen darstellen.

Soweit der Spaß. Was aber, wenn Radha schwanger wäre? Wie ginge es mit ihr und Boris weiter? Auf diese Wendung in die Ernsthaftigkeit, die die Vorlage deutlich anbietet, wartet man bei Salehpour vergeblich. Ein Wermutstropfen dieser wirklich sehenswerten Inszenierung: Das Drama vermeidet sie, alles bleibt Spiel. Der Abschied der Jugendlichen wird am Ende einmal mit deutschem Pathos zu Wagnerklängen gespielt und einmal im Stil einer indischen Choreografie inszeniert, immerhin mit dem realistischen Ausblick, dass ein Wiedersehen ungewiss ist. So verlässt man diese markante Inszenierung mit offenen Fragen, wie Grenzen wirklich zu überwinden sind.

 

Der Gast ist Gott
von Lutz Hübner, Shrirang Godbole, Vibhawari Deshpande
Uraufführung
Regie: Mina Salehpour, Bühne: Jorge Enrique Caro, Kostüme: Maria, Anderski, Musik: Markus Hübner, Dramaturgie: Stefan Fischer-Fels, Theaterpädagogik: Susanne Rieber.
Mit: Nina Reithmeier, Robert Neumann, Katja Hiller, Roland Wolf.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.grips-theater.de

 

Kritikenrundschau

Mina Salehpour zeige am Grips Theater, "wie man so eine klassische Boy-meets-Girl-Geschichte komödiantisch, selbstreflexiv, überhöht aber niemals zynisch auf die Bühne bringt", meint Julia Niemann in der tageszeitung (10.3.2014). "Der Spaß an der Zuspitzung" überträge sich "von der Bühne auf das Publikum", der "Blick auf die Mitmenschen, ihre Unzulänglichkeiten und ihre Träume", bleibe dabei aber "immer liebevoll". Das Ganze ende jedoch "ein bisschen zu abrupt und wir hätten gerne noch mehr gesehen."

Dirk Pilz hat für die Berliner Zeitung (10.3.2014) "vier bestens aufgelegte Darsteller" in einem "supergutgelaunten Stück" gesehen, "das unter der Regie von Mina Salehpour als gekonntes Klischee-Surfing vor allem Heiterkeit verbreiten will". Pilz gibt indes zu bedenken: "Sollte dieser Abend ein Beitrag über die Hürden und Irrwege des interkulturellen Dialogs sein, ist er eine Katastrophe. Jeder harte Konflikt wird lässig weggeschnippt, alles Heikle ironisch an den Rand gespielt. Als ob kulturelle Verschiedenheit ein Small-Talk-Fall wäre und sonst alles eigentlich in Butter. Aber das ist dieser Abend ja nicht. Er ist eine Bollywood-Bubble, gezuckert mit Ironie."

 

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