Entdecker des Menschlichen

11. April 2014. Peter Kümmel beginnt seinen großen Artikel zum 450. Geburtstag von William Shakespeare mit einem Zitat von Alexandre Dumas: "Nach Gott hat Shakespeare am meisten geschaffen." Dem wäre eigentlich nicht mehr viel hinzuzufügen, Kümmel tut es trotzdem.

Er resümiert noch einmal das karge biographische Wissen um den Mann aus Stratford. Schildert das elisabethanische London, eine "der prächtigsten und finstersten Städte" des 16. Jahrhunderts, mit ihrem riesigen Vergnügungsviertel vor den Toren der Stadt. Gibt Tiefgründiges, wie den Satz des Literaturwissenschaftlers Harold Bloom, "dass Shakespeare jener Mann sei, der den modernen Menschen erst 'erfunden' habe". Und informiert über Quellen des Werks und Arbeitsweisen des Meisters: Shakespeare benützte die Stoffe, die er vorfand, aber "die Stoffe und Figuren erlangten unter seiner Hand eine Qualität, die man nur mit Universalität bezeichnen kann".

Wer war er?

Kümmel gibt die gängigen Zweifel wieder, dass Shakespeare wirklich der Shakespeare gewesen sei, vielleicht war er Christopher Marlowe oder der Earl of Oxford, oder, eine Version, die Kümmel vom Übersetzer Frank Günther entleiht, "ein junger Schauspieler, der die Königin öffentlich verkörpert habe, die selbst von der eigenen Schwester ermordet worden sei ...".
Und betreibt Zuschauersoziologie: Sein Publikum bestand aus den Handwerkern, Bürgern und Edelleuten. "Um sie alle zu fesseln, arbeitete Shakespeare mit wirkungsvollen Mitteln: Überdruck und Überwältigung. Er feuerte ganze Breitseiten an 'Material' aufs zuhörende Volk ab."

Kümmel schreibt weiter über die Rolle von Zensur, leerer Bühne und nachmittäglichem Aufführungsbeginn für Shakespeares Wortkunst, über Shakjespeares Geschichtsverständnis und die doch beträchtliche Dunkelheit und den Nihilismus seines Werkes.

Wundern über Welt im Kopf

Natürlich müssen auch Robert Musil und Friedrich Nietzsche zitiert werden, der in "Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik" (1872) schrieb: Der Zuschauer gebe bei Shakespeare den ohnehin nutzlosen Versuch auf, zweckhaft zu leben, und gerate in die Lage, sich selbst als stürzende Spielfigur zu sehen. Kümmel wieder als er selbst, abschließend: In Shakespeares Figuren wirke der Furor, der die Moderne prägt: "Sie wundern sich über die Welt und über die Welt im eigenen Kopf."

Mitsamt allen Entgleisungen

Außerdem bietet das Shakespeare-Dossier der Zeit noch eine dreiviertel Seite Schauspieler und René Pollesch über Shakespeare, Shakespeare im Kino, in der Musik, der lyrische Shakespeare und Shakespeare in Brasilien, China, Jordanien und Indien.

Zum Abschluss gibt es noch ein Gespräch mit dem inzwischen recht schrulligen 84jährigen Shakespeare-Forscher Harold Bloom. In der wichtigsten Passage bringt Bloom eine Korrektur an: Man habe ihn missverstanden als er davon sprach, Shakespeare habe das Menschliche erfunden. Er habe nicht erfinden gemeint im Sinne von: Edison erfindet die Glühbirne. Er habe gemeint, Shakespeare habe die "Essenz des Menschlichen" verstanden und enthüllt, "mitsamt allen Entgleisungen, die das Menschliche ausmachen".

(jnm)

Kommentare  
450 Jahre Shakespeare: verdächtig
Ich muss hier mal kurz was zitieren, okay? Darf ich? Los geht's:

"'Wärest du der Löwe, so würde der Fuchs dich betrügen; wärest du das Lamm, so würde der Fuchs dich fressen; wärest du der Fuchs, so würdest du dem Löwen verdächtig werden, wenn dich der Esel vielleicht verklagte; wärst du der Esel, so würde deine Dummheit dich plagen und du lebtest doch nur als Frühstück für den Wolf. Welch ein Geschöpf könntest du sein, das nicht einem anderen Geschöpf unterworfen wäre?' - 'Shakespeare', Dmitri lächelte und schaute den Katzen zu, in den klaren Himmeln." (D. Dath, "Abschaffung der Arten")

Ist allein der Schreiber frei, das heisst auch frei von allen Leidenschaften? Wir leben doch nicht im Sozialdarwinismus! Sapere aude!
450 Jahre Shakespeare: is jut
Nach Gott und Shakespeare habe ICH am meisten geschaffen!
450 Jahre Shakespeare: wer sagt es zu wem?
Zur Nr. 1: Vielleicht hilft es Ihnen weiter, unerträgliche Inga, wenn Sie herausfinden, welche Figur das zu welcher Figur in welcher Szene in welchem Stück sagt...
450 Jahre Shakespeare: keine Ahnung
@ Frank-Patrick-Steckel: Danke für die Blumen. Vielleicht kommt's aus dem "Sommernachtstraum"? Jedenfalls der Esel. Nein, ehrlich gesagt, keine Ahnung. Können Sie's mir sagen?
450 Jahre Shakespeare: Vernunft wagen!
Zu Nr. 4: Ich kann es Ihnen sagen. Aber: Sapere aude!
450 Jahre Shakespeare: durch Ignoranz erledigt
Hallo Herr Steckel !
Danke ! Weiter so . Freue mich jedesmal .
Schade nur, dass so wenige darauf reagieren . Aber ich glaube, die meisten hoffen, dass sich das durch Ignoranz erledigt. Auch eine Strategie .
Gruß
450 Jahre Shakespeare: wenn Leidenschaft schwappt
@ F.-P- S.: Nein, es geht nicht. Wenn die (politische) Leidenschaft überschwappt, dann geht es nicht vernünftig.
450 Jahre Shakespeare: was bringt mir das?
@ F.-P-S.: Othello. Jede/r kann googlen. Sie dagegen verlegen sich ja mittlerweile allein aufs Übersetzen. Othello. Und, was bringt mir's für mein Leben? Ist eine Kunst-Inszenierung etwa dafür verantwortlich, dass?! Oder war's Realität? Kann nicht wahr sein, oder?
450 Jahre Shakespeare: Trommelwirbel
@ Peter; Ach, so! Sie sind ja süß. Aber ich versteh Sie schon. Sie sind ein ganz schlauer, was? Sie glauben also wirklich im mystischen Sinne an die göttliche Gerechtigkeit?:

"Diese göttliche Gerechtigkeit ist für Dante eine immanente: eine selbsttätig wirkende, fast unpersönlich anmutende Macht, die im Reiche der Ewigkeit die Seele mit unwiderstehlicher Gewalt beherrscht und lenkt. Mit magischem Zwange nötigt sie dort den Willen, selbst wider Willen das zu wollen, was sie gebietet." (Erläuterungen zu Dantes "Göttlicher Komödie") - und Trommelwirbel!
450 Jahre Shakespeare: immer eine Freude
Wie ich schon sagte ,Herr Steckel : jedesmal eine Freude !
Gruß
Peter
450 Jahre Shakespeare: feige Ignoranz
@ Peter: Nee, vielleicht sind sie auch nicht süß, sondern das genaue Gegenteil. Ignoranz kann ich nämlich nicht leiden. Das ist feige.
450 Jahre Shakespeare: Fehler
Zu Nr. 8: Ah so – „Sapere aude“ bedeutet im zeitgenössischen Verständnis „Googlen kann jeder“. Ich hätte es mir denken können. Stimmt aber nicht. Das fragliche Zitat stammt nicht aus OTHELLO.
450 Jahre Shakespeare: Es bleibt spannend
@12: bravo! Was fuer ein fruehstuecksdialog, hab jetzt sogar ein lachen auf den lippen. Der tag kann beginneb. Und heut abend schau ich wieder rein, mal sehen, wer die loesung finden wird. Es bleibt spannend!
450 Jahre Shakespeare: Der weibliche Timon von Athen
@ IM Lustig: Mensch, die Lösung hatte ich hier schon längst gepostet. Ich bin der weibliche Timon von Athen. Aber dann auch wieder nicht. Hilfe, weiss ich denn immer noch nicht, wer ich bin? Ha ha ha. Und wenn, dann geht's hier wohl irgendwie auch um Othello darf nicht platzen. Hab ich schonmal gesehen, sowas.
450 Jahre Shakespeare: Kurz, knapp, effizient
FPS - Morgen, Steckel, Freude, wie Sie die Fronten klärn. Kurz, knapp, effizient - man kommt sich vor wie in Probe:D... Ich weiß es auch nicht aus dem Kopf und müsste suchen auf Verdacht und weiß von Dramen manches - das unterscheidet Sie eben von vielen, dass Sie es eben wissen! - Und das find ich gut, wenn das auch mal so l e i c h t h i n sichtbar wird hier- Grüße
450 Jahre Shakespeare: Festgelesen
Timon ises, von Athen. Danke, hab mich sogleich festgelesen, muss man unbedingt wieder einmal machen!
450 Jahre Shakespeare: Im Licht der neuen Erkenntnisse?
So, und nun müßte die gute Inga uns nur noch den Gefallen tun, und ihre unter Nr. 1 gestellte Frage im Licht der neuen Erkenntnisse zu beantworten suchen.
450 Jahre Shakespeare: Dramaturgien schlafen
Zu Nr. 16: Ja, in der Tat - unsere Bochumer Aufführung von 1990 ist leider völlig folgenlos geblieben.
Die Dramaturgien schlafen.
450 Jahre Shakespeare: Ist der Mensch ein Schmarotzer?
@ F.-P.S.: Ich kenne das Stück nicht. Nur ungefähr dessen Grundthema. Dass da eine/r beginnt, die Menschen zu hassen, weil er/sie erkannt hat, dass Güte in einer "schlechten Welt" oder eben aufgrund von "schlechten Menschen" immer nur ausgenutzt wird. Ist der Mensch also ein Schmarotzer auf Kosten anderer? Ich mag nicht daran glauben. Dialogische Klärung wäre die Lösung. Und wenn auch die Sprache nicht weiterhilft? Dann besser die Musik. Denn allein die Musik kann das Denken umgestalten, ohne verletzend gegenüber anderen Menschen handeln zu müssen.

Die Schwierigkeit kann sowieso jede/r an sich selbst erkennen. Den reinen Geist gibt es nicht bzw. es gibt ihn nur im Schreiben. Ansonsten machen Menschen auch gern mal ne unreine Terz. Der Körper ist kein Sklave oder Diener des Kopfes. Im Gegenteil, manchmal spielt der Körper von ganz allein und der Kopf kann ihn nur gewähren lassen. Lasst "uns" spielen oder "wir" werden am Schmerz zugrunde gehen. Sorry, aber ich kann manchmal nur dramatisch.
450 Jahre Shakespeare: Umgewandelt, nicht schlafend
@17: na ja, da schau ich rein und die loesung steht da. Nur, lieber FPS, ich glaube nicht, dass die Dramaturgien schlafen, ich weiss, sie sind umgewandelt und man versteht sich als Management, neutral gegenueber Inhalten, problemorientiert gegenueber Zuschauerzahlen und angstvoll bei Kritik. Kann das Speichelleckertum kraftvolle Leistung entfalten? Nee, was, das geht nicht! Und das schlimme ist, die jetzt am Druecker sind, die halten sich fuer fit! Will be back!
450 Jahre Shakespeare: Gestern in Rom
Hier sind die wahren auseinandersetzungen, von denen in deutschen medien kein wort zu hoeren ist, weil die manager in den runfunk und fernsehanstalten wie in den theatern angst vor realen konflikten haben, hier, im sinne shakespeares, gestern, in rom: http://www.youreporter.it/video_Scontri_durissimi_al_corteo_12_aprile_a_Roma
450 Jahre Shakespeare: So war das nicht gemeint
Zu Nr. 19: Nein, so war das natürlich nicht gemeint: Herausfinden, in welchem Stück das von Herrn Dath offenbar nicht gekennzeichnete Zitat (in welcher Übersetzung?) steht – und die Szene, vom Stück ganz zu schweigen, dann trotzdem nicht lesen, statt dessen in schrecklichster Ingamanier scheintiefsinnig drauflos schwafeln! Ich kann auch etwas Lateinisches beitragen: Tolle, lege!
450 Jahre Shakespeare: Trauer und Wut
F.-P.S.: Jetzt muss ich aber doch mal etwas zu dem WIE ihres Schreibens hier sagen. SIE sind es doch, welcher den Ruhm bereits eingefahren und also auch noch etwas zu verlieren hat(te). Ich dagegen habe bereits alles verloren und somit nichts mehr zu verlieren, vielleicht auch durch Theaterleute. Mich macht das alles wirklich traurig und allein aus dieser Ohnmacht heraus, weil nichts offen geklärt wird, werde ich wütend. Manchmal hilft selbst das Lesen nicht mehr über diese Trauer und Wut hinweg. Wenn Sie mir also etwas sagen wollen, dann sagen SIE doch bitte etwas zu Stück und Szene. Danke.
450 Jahre Shakespeare: Theater und Ruhm
Warum dann nicht offen, Inga? Warum die Wut und die Trauer und die Vermutung oder das Gefühl, Theaterleute wären daran schuld, dass Sie ALLES (geht das ?) verloren haben, eben nicht konkret thematisieren? Warum müssen hier konkrete Theatermenschen, die keine konkrete Schuld an Ihrer Lage trifft, mitbewütet, -getroffen usw. werden, obwohl sie um konkrete Sachen debattieren möchten. Ist nk dann hier die richtige Seite?
Und geht es also im Theater um Ruhm, der einzufahren wäre? Kann man an Theater oder Kunst überhaupt denken, wenn man an Ruhm denkt, der einzufahren sein müsse? - Ich weiß nicht, das kannn ich nicht glauben...
450 Jahre Shakespeare: Frage
Gibt es eine Alternative zur alles beherrschenden Gier nach Macht und Reichtum? Und wenn ja, welche? Und wer war's jetzt? Wenn ich die Lache so höre. Widerlich.

http://www.shakespeare-company.com/programm/timon-aus-athen
450 Jahre Shakespeare: Statfords Stadtverwaltung
Kurze Zwischenfrage: Sollte man nicht auch über das Datum reden? Oder ist das inzwischen von der Stadtverwaltung in Stratford endgültig entschieden worden? Dem Mehlhändler wurde eine Feder in die Hand gerückt. Dass es einen mainstream gibt, auch in den Redaktionen, der sich damit ungern auseinander setzt, darauf verwette ich mein zweitbestes Bett.
450 Jahre Shakespeare: Klärung
@ itcouldbetrue: Ja, das geht. Und ich meine damit jetzt nicht das Materielle. Und Ruhm ist gleich Gier nach Macht und Reichtum. So sieht's in den meisten Fällen eben aus. Auch bei denen, welche mit hehren Worten reden. Mir geht's nicht um Ruhm, sondern um offene Klärung. DAS kann ich aber nicht allein, dafür müssten die betreffenden (und möglicherweise auch falsch von mir getroffenen) Theaterleute und/oder andere Menschen, welche möglicherweise zumindest Mitwisser sind, dann schon reden.

@ Jochen: Das versteht ja keiner. Dem Mehlhändler wurde eine Feder in die Hand gedrückt. Was ist damit gemeint?
450 Jahre Shakespeare: genesen
@ 23: An Ingas Wesen soll die Welt genesen?
450 Jahre Shakespeare: sachbezogen
Werte Kombattanten,

die Redaktion erinnert freundlich an den Kommentarkodex: "Die Kommentare müssen zu einer sachbezogenen Debatte des im jeweiligen Beitrag behandelten Themas beitragen."

Kommentare, die sich nicht ausdrücklich auf das Thema des Threads beziehen, werden nicht veröffentlicht.

MfG,
Georg Kasch / Redaktion
450 Jahre Shakespeare: Frage
Okay, Shakespeare: Herr Steckel wird uns gewiss sagen können woraus das ist: "Denn Neid unnd Eifersucht hindern gie Guten daran/das Beste zu tun."... Ich hab es vergessen, nur der Satz ist mir irgendwie eingebrannt -
450 Jahre Shakespeare: Lektürehinweis
Ich möchte Ihnen nichts sagen, ich wollte Sie lediglich dazu ermuntern, den Zusammenhang der von Ihnen kritisch zitierten Replik aus TIMON AUS ATHEN genauer in Augenschein zu nehmen, um Sie in die Lage zu versetzen, die von Ihnen aufgeworfene Frage selbst beantworten zu können. Das scheint mir aufgrund von Umständen, die ich nicht überblicke, bedauerlicher Weise zu mißlingen. Wenn Sie wissen wollen, wie ich das Stück lese, darf ich Ihnen die Ausgabe des Titels im Verlag Laugwitz empfehlen - sie enthält, neben meiner Übersetzung, einen ausführlichen Essay von Dr. Gabriele Groenewold zur Konzeption der Bochumer Aufführung. (Beim ZVAB gibt es auch noch ein Exemplar des Bochumer Programmbuchs, welches außer der Bühnenfassung von TIMON und diesem Essay eine reichhaltige Zitatensammlung im Kontext des Stücks bietet.)
450 Jahre Shakespeare: Vierter Akt, 1. Szene
@ Frank-Patrick Steckel: Ich kann es selbst beantworten. Vierter Akt, sechste Szene, Gespräch zwischen Apemanthus, einem zynischen Philosophen und Timon, einem edlen Athener. Im Grunde geht es da um die von Timon gesetzte These, dass ein Mensch zum Sklaven oder Herren geboren werde. Worauf Apemanthus antwortet, er wolle lieber ein wildes Tier unter den wilden Tieren sein als das Schicksal der Menschen teilen. Tja, zynisch, aber wahr. Denn ein Tier tötet nur, weil es Hunger hat. Ein Mensch dagegen besäße eigentlich die Vernunft, sich gegen die Unterwerfung des Menschen durch den Menschen, also gegen Sozialdarwinismus und Co. zu wenden und zu wehren. Es gibt keine geborenen "Sklaven" bzw. "Herren". Doch gebraucht der Mensch diesen seinen Geist offenbar oftmals nicht, weil es sich eben besser auf Kosten anderer lebt, auch wenn man diese zu genau diesem Zweck über das Geld "abrichtet" und zurechtstutzt - so Timon mit seiner Gier nach Gold und Macht. Diese Haltung empfinde ich persönlich zynischer als die des Philosophen. Auch de Sade argumentierte ja zum Beispiel so, dass es immer Sklaven und Herren geben werde. Er aber zog daraus den Schluss, sich selbst zu geißeln bzw. geißeln zu lassen, das heisst an sich selbst zu spüren, wie sich Ideologien in menschliche Körper einschreiben.

"Die Guten" gibt es also nicht. Es gibt nichts "Gutes", ausser man tut es. Und vorher hätte ich gern noch, dass ein paar Menschen hier ein paar Dinge klären. Geht das?
450 Jahre Shakespeare: ungewisse Autorschaft
Mit dem Zwischenruf (26) wollte ich daran erinnern, dass der Artikel einen runden Geburtstag bespricht. Den Geburtstag eines Mannes, der seiner Witwe sein zweitbestes Bett hinterließ, aber kein Buch, weil er keines besaß; dessen Denkmal in der Pfarrkirche zu Stratford-upon-Avon ursprünglich jemanden zeigte, der auf einem Mehlsack ruht - heute hält er Feder und Buch in der Hand. Ich wollte daran erinnern, dass das Festhalten an seiner Autorenschaft möglicherweise auch finanzielle Gründe hat. Ich wünschte, irgendjemand würde trotz Zeilenhonorar sagen: „Es gibt nichts zu feiern, wir wissen nicht, wer’s war.“ Ach, wär‘ das schön! Ja, alles was uns betrifft ist ungewiss, außer dem Tod; und wer, wenn nicht der unbekannte Autor dieser Texte würde diese Ungewissheit als Preis unseres Daseins feiern?
450 Jahre Shakespeare: Timon von Athen
Timon begrüßt seine Freunde im 1. Akt mit den Worten „Nehmt Platz! Willkommen seid ihr meinem Reichtum/Mehr als mein Reichtum mir.“ Und später sagt er zu ihnen „Ich könnte Reiche unter euch verteilen/Mein Freunde, ohne zu ermüden.“ Spricht so ein Mensch, den die „Gier nach Gold und Reichtum“ plagt? Apemantus ist ein Kyniker, kein Zyniker. Die Tiere sind für einen Kyniker im Stande der Unschuld. Timon dagegen sieht Athen als einen Dschungel voller Bestien, die sich gegenseitig ans Leben wollen und stellt exakt die Frage, die Sie offenbar überlesen haben: „Wie kannst du ein Tier sein, ohne der Untertan eines andern Tiers zu sein?“ Timon spricht nämlich nur von sich selbst als einem in wohlhabenden Verhältnissen aufgewachsenen Mann, dessen Weg zur ethisch begründeten Armut des Apemantus aus diesem Grund dornenreicher sei - davon, „dass ein Mensch zum Sklaven oder Herren geboren werde“, sagt er nichts. Ein Grund dafür, daß Stücke wie TIMON so selten auf den Spielplan gelangen, besteht in der oberflächlichen Art, in der sie gelesen werden.
450 Jahre Shakespeare: Keine Antwort???
@30: Das steht nirgends, soweit ich weiß, bei Shakespeare. Aber ich gebe zu, es könnte bei ihm stehen! – Ich kenne den Satz ziemlich gut. Es ist die Übersetzung einer Inschrift auf dem Türrahmen des Alleppo-Zimmers, 8. Jhdt. Islamisches Museum. Ich weiß das deshalb, weil der Satz 40 oder 60 oder vielleicht auch 80 mal (wer soll das zählen müssen!?) in meinen ATB aus 25 Jahren auftaucht. Er ist der statistisch gesehen zweithäufigst auftauchende Satz und wird nur noch geschlagen von einem anderen Satz: Keine Antwort. Keine Antwort. Keine Antwort. Ich bin sehr froh, dass es so lange Sperrfristen gibt. Wenigstens mental in mir vorhandene. Keine Antwort stünde sonst ziemlich vielen Leuten, die ziemlich viele Leute hier kennen, nicht besonders gut zu Gesicht. Da würde ich mich für eine auch nur gedachte Demaskierung sehr schämen. Und über Neid und Eifersucht will ich gar nicht erst reden, weil ich das außerhalb von Literatur nicht denken kann. Kann ideologiebedingt sein. Das wäre möglich.
450 Jahre Shakespeare: Schuldknechtschaft
@ Frank-Patrick Steckel: Die Gier nach Gold und Reichtum muss Timon ja nicht plagen. Aber er macht das Geld und darüber auch sich selbst zu einem Gott, welcher seinen Reichtum an die Menschen verteilt und dafür dann auch Dank bzw. ihm gegenüber schmeichelndes Verhalten erwartet. Es gibt doch diesen Begriff der "Schuldknechtschaft". Timon meint, dass nicht alle Menschen das Geld verdient hätten, weil einer, der "zum Hund geboren" sei, es dann auch nur zu den widerlichsten Ausschweifungen verwenden würde. Ich hatte mal einen WG-Mitbewohner, Helge Jürgens, welcher sich selbst als "herrenlosen Straßenköter" bezeichnete. Das ist dann natürlich tatsächlich ein Problem. Wenn einer das nicht melancholisch meint, also dass "wir" Menschen eben leider oftmals immer auch offen hin zum Tier sind, sondern vielmehr so, dass er sich selbst schon automatisch als Sklaven sieht. Kann andererseits auch sein, dass Helge ein radikaler Christ war, der damit meinte, dass er ein Knecht Gottes sei. Oh je, immer diese Untertanenmentalität. Ich mag nicht recht dran glauben. Denn die Liebe kommt von innen, nicht durch Unterwerfung. Und auch nicht über das Geld.
450 Jahre Shakespeare: Greenblatt, NYT, Holocaust
Zu Nr. 33: Wie angebracht die Scheu der schreibenden Gratulanten vor einem offenen Konflikt mit der Shakespeare-Orthodoxie ist, belegt ein Schlagabtausch zwischen Stephen Greenblatt, einem der großen Renaissanceforscher der Gegenwart, und einem Journalisten der New York Times, William S. Niederkorn, aus den Jahren 2004/05. Nach der Veröffentlichung von Greenblatts umfangreicher orthodoxer Shakespearebiographie „Will in the World“ („Will in der Welt. Wie Shakespeare zu Shakespeare wurde“) schreibt Niederkorn am 30. August 2005 unter dem Titel „The Shakespeare Code, and Other Fanciful Ideas From the Traditional Camp“ eine – die Überschrift deutet es an – respektvoll-skeptische Rezension. In dieser Rezension merkt Niederkorn an, daß Greenblatts opus magnum keine neuen Fakten vorzubringen habe und er verweist auf ein soeben erschienenes Buch mit dem Titel 'Shakespeare' by Another Name: The Life of Edward de Vere, Earl of Oxford, the Man Who Was Shakespeare" von Mark Anderson, welches, seiner Ansicht nach, „serious attention“ verdient. Er schließt seinen Artikel mit der aufmunternden Frage „What if authorship studies were made part of the standard Shakespeare curriculum?“ Noch am Tag des Erscheinens dieses Artikels antwortet Greenblatt mit einem Leserbrief an die NYT: „The demand seems harmless enough until one reflects on its implications. Should claims that the Holocaust did not occur also be made part of the standard curriculum?“ - Man ist sprachlos.
450 Jahre Shakespeare: Autorschaft dekonstruiert?
@ 37.: Herr Steckel, könnten Sie erklären, wie das gemeint ist? Die Frage der Autorschaft ist also verbunden mit der Frage nach der persönlichen Verantwortung? Und wenn man den Begriff der Autorschaft dekonstruiert, so gibt es auch keine persönliche Verantwortung mehr? Ich verstehe, was Greenblatt damit meint, würde aber sagen, dass es doch noch einen Unterschied gibt zwischen dem schreibenden Autor und dem handelnden Autor. Und den Holocaust kann und darf man meines Erachtens auch nicht mit der verallgemeinernden These der "Erbsünde des Menschen" in Verbindung bringen bzw. "entschuldigen". Hannah Arendt sagte dazu (nach Alois Prinz):

"Sie hat den Eindruck, dass jene [die Intellektuellen] auf eine besonders raffinierte Art an der Wirklichkeit vorbeisehen, indem sie nämlich bei jedem Problem nach der wesenhaft-metaphysischen Ursache fragen. Statt die Gründe der Zerstörung um sie herum bei den Nazis zu suchen, gehen sie zurück bis zu den 'Ereignissen, die zur Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies geführt haben.'"
450 Jahre Shakespeare: Erstaunliche Rigorosität
@ 38: Nun scheint die Debatte aber zu entgleisen. F.-P.S. weist dankenswerterweise auf Empfindlichkeiten der Shakespeare-Orthodoxie hin und auf die erstaunliche Rigorosität, mit der vorsichtig vorgetragene wissenschaftliche Bedenken zurückgewiesen werden. Von Schuld oder Verantwortung ist nicht die Rede! Wenn es so weiter geht, landen wir bei der Erbsünde. Bitte, bitte, nicht.
450 Jahre Shakespeare: Erklärung nicht mitgeliefert
@ Jochen: Ja, wenn die Erklärung nicht mitgeliefert wird, dann passiert sowas. Ich wollte jedenfalls nur einerseits zum Ausdruck bringen, dass Shakespeare nun wirklich nichts mit dem Thema Holocaust und/oder Holocaustleugung zu tun hat. Dass man also schon die jeweiligen historischen Kontexte mitbedenken sollte. Und dann wollte ich andererseits - rekurrierend auf das Thema Holocaust - zum Ausdruck bringen, dass der Holocaust nun wirklich nichts mit dem Thema Erbschuld zu tun hat, sondern mit der persönlichen Verantwortung der Täter und deren Unterstützer.
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