Heimaturlaub

von Christian Rakow

Berlin, 8. Mai 2014. Also die größte Schwierigkeit war ja, nicht vollautomatisiert zur Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz zu trotten, sondern ins Haus der Berliner Festspiele, wohin das Theatertreffen Volksbühnen-Chef Frank Castorf mit seinem Münchner Céline-Abend "Reise ans Ende der Nacht" (Nachtkritik) verpflanzt hatte. Dort, im alten West-Berlin, kam gleichwohl schnell ein Heimatgefühl auf: Vier Stunden plus/minus waren avisiert (drunter wär's was für Laschzocker, nicht für Castorfianer). Auf der geräumigen Bühne: eine herrlich schäbige Piratenzuflucht mit Holzhütten und altem Ford Transitbus, von Bert Neumann, nee pardon, Aleksandar Deníc. À la bonheur, die Stilettos von Kathie Angerer! Und die tropenfiebrige Aufgekratztheit von Martin Wuttke! Und natürlich der bewegliche Furor von Marc Hosemann. Ach Quatsch, es waren Britta Hammelstein, Bibiana Beglau und Franz Pätzold aus dem Ensemble des Residenztheaters München.

Eineinhalb Stunden lang wirkte dieser Abend exakt so, wie man es befürchten musste nach den Meldungen von der Premiere: irgendwie geborgt wuselig, irgendwie angeschafft hysterisch, irgendwie "Stark, dass München sowas jetzt auch kann". Aber dann bekam der Exportschlager doch seine eigene Färbung. Mit Franz Pätzold. Wie der junge Kerl sich in das schmutzige Regenwasser dieses aufkommenden Theatermonsuns stürzte, wie er nervenwund Ängste und Aggressionen des Helden Ferdinand (und seines Kompagnons und Alter Egos Léon) austobte, wie er seine schmerzliche Liaison mit der Dirne Lola (mit wachsender Wucht: Britta Hammelstein) in einer dreißigminütigen Tour de Force an die Rampe und auf die Videowand knallte – Wahnsinn! Da begann das, dass dieser Abend nicht nur mit ollen Theaterpistolen fuchtelte, sondern den Abzug durchzog.

Der Verständnistest
Ich hatte Célines Roman extra nicht gelesen (für einen Shorty, dachte ich, darf sich auch ein Kritiker diesen Luxus leisten) – zumal es hieß, ohne Romankenntnis sei man aufgeschmissen. Test!!! Nee, kann ich nicht bestätigen. Der lange Ich-Trip dieses Stücks menschlichen Treibholzes namens Ferdinand Bardamu, dessen Stationen zwischen Frankreich im Ersten Weltkrieg, Afrika und Amerika Castorf in freien Sprüngen, wilden Flashbacks gegeneinander schneidet, kommt schon gut rüber. Er funktioniert wie ein Fiebertraum, ein Wahninnstrip von Schoß zu Schoß der Prostituierten aller Länder (oder mit Castorfs auch hier wieder ausgiebig zitiertem Leib-und-Magen-Autor Heiner Müller pointiert: "Von Loch zu Loch aufs letzte Loch zu lustlos").

reise ans ende3 560 matthias horn u Fatima Dramé, Britta Hammelstein und Aurel Manthei reisen ans Ende der Nacht © Matthias Horn

"Wir werden bis ans Ende marschieren und dann werden wir erfahren, was wir in diesem Abenteuer gesucht haben", heißt es einmal. Nicht alle Zuschauer sind mitmarschiert (nach der Pause schaut man auf einige leere Sitze). Und klar, die Suche blieb ergebnislos (wer könnte auch das Abenteuer eines intensiven Lebens aufschlüsseln!). Aber der Weg war es wert. Massiver Jubel vom "Rest verbliebenen Publikums", wie Bibiana Beglau uns scherzhaft nannte. Kein schmaler Rest, selbstredend, und überhaupt, wie Heiner Müller wusste: "Der Rest ist Lyrik."

Die Nachtkritik der Münchner Premiere von Reise ans Ende der Nacht im Oktober 2013.

Unsere Theatertreffen-Festivalübersicht mit Nachtkritiken und Kritikenrundschauen zu allen Premieren sowie Shorties zu den TT-Gastspielen.

Unter dem Hashtag #TTreise wurde aus der 2. Theatertreffen-Vorstellung getwittert.

Siehe auch den Blogeintrag: Eine Theatertreffenjurorin übt sich in der Kulturtechnik des Abschreibens über einen Plagiatsfall im Programmheft des Theatertreffens.

Kommentare  
TT-Shorty Reise ans Ende der Nacht: toll, wild, stimmig
Danke an die Theatertreffen-Jury, daß sie diesen Castorf-Abend nach Berlin einlud und mir (und sicher vielen anderen) damit die Reise nach München ersparte. Ein toller, wilder, chaotischer und doch stimmiger Abend, wenn auch ohne Überraschungseffekte, denn der hätte in sehr ähnlicher Weise auch am Rosa-Luxemburg-Platz laufen können. Daß etliche Zuschauer gegangen sind - geschenkt, der Rest jubelte um so lauter! Gibt es immer noch Theatergänger, die nicht wissen, was sie erwartet, wenn Frank Castorf Regie führt?
TT-Shorty Reise ans Ende der Nacht: Wege aus der Erstarrung
Nein, ich glaube nicht, dass es immer noch Theatergänger gibt, die nicht wissen, was sie erwartet, wenn FC Regie führt. Dafür sorgt ja u.a. nk. Es wird aber Nicht-Theatergänger geben, die nicht wissen, was sie da erwartet. Die interessiert dann entweder Theater nicht, oder speziell Frank Castorf nicht oder allgemein Intendantenregie-Theater nicht. Schön, dass Castorf sich dieses Textes angenommen hat, irgendwie vermittelt es mir den Eindruck, als würde er sich damit gerade ein bisschen aus einer Erstarrung seines Denkens bewegen, auch mit dem SAUSCHWER zu bearbeitenden Jahnn-Textes in Wien, es würde mich ungeheuer freuen, wenn sich hier jemand treu bliebe indem er sich verändert, anders geht es ja ohnehin nicht!, aber bei Castorf hab ich schon fast nicht mehr daran geglaubt - schade, dass man so selten überzeugend wirken kann, wenn man schreibt, dass man sich freut...
TT-Shorty Reise an Ende der Nacht: Schlaf brauchen
Um die Nicht-Theatergänger ging es mir nicht, die waren ja nicht da. Aber um die doch erkleckliche Menge, die sich eine immerhin nicht ganz bilige Karte kauft, um in eine Inszenierung zu gehen, die vorher schon an verschiedenen Stellen ausführlich besprochen wurde und deren Länge auch bekannt ist, und die dann trotzdem in der Pause geht. Weil es doch anders war als erwartet oder weil man glaubt, bis zur Pause genug gesehen zu haben und sich deshalb ruhig als "Laschzocker" outen kann, oder weil man am nächsten Tag wirklich zeitig raus muß und seine acht Stunden Schlaf braucht? Im letzteren Fall würde es ja fürs Theater sprechen - daß die Leute kommen, obwohl sie wissen, daß sie zur "Halbzeit" gehen müssen.
TT-Shorty Reise ans Ende der Nacht: arg short
Bin mit der Kritik einverstanden, wenns auch arg short ist... Allerdings für mich unverständlich, dass der Abend beschrieben wird, ohne die Beglau zu erwähnen. Was sie spielt hebt den "Volksbühnen-Furor" in eine entrückte Poesie, die doch überwältigend kraftvoll ist.
TT-Shorty Reise ans Ende der Nacht: großartig
Mahlzeit thomas, ich habe in München gesehen und war ebenso begeistert!! das buch ist großartig, das stück ebenso.
TT-Shorty Reise ans Ende der Nacht: risikobereite Schauspieler, safe Regie
Beglau ist der Wahnsinn, Ja. Wie weit sie bereit ist zu gehen ist außergewöhnlich und glasklar auch eine Qualität des Schauspielerregisseurs FC. Auch auf Britta Hammelstein bezogen! Außergewöhnlich. Aber die Inszenierung leider gar nicht. Der dunkel anarchistische Rausch, das düster orientierungslose Menschlein des Romans hat sich für mich nicht eingestellt. Vielmehr ein an Castorfscher Wiedererkennbarkeit leidender Abend. Zu safe. Zu routiniert. Zu sauber. Verrückt das über einen Castorf Abend zu sagen. Aber so wars. Riskieren tuen vielleicht andere. ... Wo ist FCs Rausch der einen Sog erzeugt der unentrinnbar auf das dunkel funkelnde des Menschseins hinweist?
TT-Shorty Reise ans Ende der Nacht: großer Abend
Es ist eine sich selbst auflösende Welt, die Castorf beschreibt, ein, die auch für das Individuum kaum mehr Platz hat. So spaltet sich auch die Figur des Bardamu auf: Beglau ist ihre blasse, harte, unerbittlich zynische Seite, Pätzold gibt ihr den wütend verzweifelten Ton eines, der um die Falschheit seines Tuns weiß und doch nicht anders kann. Er ist die Entdeckung des Abends, ein mit vollstem Körpereinsatz irrlichternder Menschheitsrest, der mit jedem Lebensimpuls die Karre weiter in den Dreck fährt. Und er ist, neben Mathei, auch Robinson. Wo letzterer grobschlächtig poltert, die animalische Seite der dunklen Natur des Menschen gibt, ist Pätzolds Léon der Gefährlichere: ein charmant überzeugender Verführer, ein mephistophelischer Spötter und Hoffnungsvernichter. Und doch sind sie alle, Bardamu und Robinson, Beglau, Pätzold und Manthei, eines, untrennbar verbunden als Teile des modernen Menschen, des teuflischen Opportunisten und verzweifelten Liebessuchers.

Denn natürlich geht es auch um die Liebe, wie immer bei Castorf, ist diese Reise eben auch ein Hetzen von Frau zu Frau.Diese sind zumeist Prostituierte und zugleich stets der ehrlichere Teil dieser Unmöglichkeitsbeziehungen. Meistens spielt Britta Hammelstein sie, die man bei geschlossenen Augen glatt für Katrin Angerer halten könnte, so sehr mischensich in ihrer Stimme Weltekel, trotzige Selbstbehauptung und existenzielle Verzweiflung. Kaum zu ertragen die nicht enden wollende Taxiszene, in der sie Matheis Léon ihrn Ich-Anspruh entgegenschreit und zugleich vom Traum, im anderen aufzugehen, nicht lassen will. ein Traum, der stets alptraum bleibt an diesem für Castorf erstaunlich ruhigen Abend. Immer wieder lässt er die Stille zu, reduziert das Personal auf Zweiergruppen, lässt sie aufeinanderprallen, ohne alles mit übermäßiger Geschäftigkeit zu übertönen. Natürlichgibt es die Selbstreferenzialität, lässt er dfie Unmenschlichkeit dessen, was hinter dem Kolonialismus steckt, im Müller-Worten (aus Der Auftrag) singen, gibt es die üblichen Wortspiele. Und doch übermalt er die Brüche, von denen Beglau einmal als Autorenstimme spricht, nie, steht der Abgrund, dem diese Gestalten entfliehen wollen, jederzeit sichtbar, ja, greifbar im Raum. Ganz am Ende wippt Beglau saft im Rhythmus von Bob Dylans “Things Have Changed”. Nein, verändert hat sich hier nichts,der Abgrund gähnt, die Menschheit taumelt. Ein bei seiner Theatertreffen-Premiere zu Recht bejubelter, großer Abend.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2014/05/11/im-schwitzkasten-des-lebens/
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