Auf dem Glücksdampfer

von Marcus Hladek

Frankfurt am Main, 13. Juni 2014. Was machen eigentlich Frankfurts junge Wilde? Ihr eigenes Festival. An diesem Wochenende wird das Schauspiel, wo Alexander Eisenach, Ersan Mondtag und Johanna Wehner das erste Frankfurter "Regiestudio" bestritten (ein Stipendien- und Tutoren-Programm aus Drittmitteln), drei Tage lang ihr ureigenes Festspielhaus. Die Festival-Premieren vom Eröffnungsabend, drei in einem Rutsch binnen vier Stunden, fanden in den Kammerspielen statt, alle übrigen Inszenierungen, die während der Saison entstanden, laufen am üblichen Spielort, der "Box" im Schauspiel-Foyer.

Daslebendesjoylesspleasure 560 EdiSzekely u"Das Leben des Joyless Pleasure": Viktor Tremmel, Andreas Uhse, Linda Pöppel und
Daniel Rothaug © Edi Szekely

Zum Auftakt also drei Novitäten im wandlungsfähigen Einheitsbühnenbild von Jens Kilian:
Eisenachs "Leben des Joyless Pleasure" verpackt Diskurstheoretisches über das Glück in "Traumschiff"-Geschenkpapier; seine Dialogform steht der Methode René Polleschs nahe, das Erscheinungsbild: soapiger Edelst-Boulevard. "Orpheus#" des jüngst zu "radikal jung" eingeladenen Regisseurs Ersan Mondtag reist in die Stille: Den Unterweltsmythos um Orpheus und Eurydike gibt es hier als Bühnen-Stummfilm mit Tanz und Musik. In "Angst", einer Szenencollage nach Stefan Zweigs gleichnamiger Novelle, erzählt Johanna Wehner im Geist der Wiener Schnitzler-, Freud- und Zweig-Jahre um 1910 von der Ehebrecherin Irene Wagner, der Constanze Becker in der Inszenierung feine psychologische Konturen verleiht.

Kreuzfahrt mit Entfremdungstouch – "Leben des Joyless Pleasure"

In "Leben des Joyless Pleasure", dem vergnüglichsten Stück, dienen eckige Hellholz-Säulen im stummen Vorspiel als Hinterwand. Zu Kerzenlicht, erlesenen Kostümen im Stil des späten 19. Jahrhunderts und Zeitlupen-Spiel wird jene "Entschleunigung" vorgeführt, von der dann – über Video und Mikrofone aus dem Hinterraum – rasant-mokant die Rede sein wird. Eine zu Zeiten der "Titanic" angesiedelte, zugleich heutige Dreiergesellschaft (Sozialanthropologin, Poststrukturalist, Diskurstheoretiker) reist mit Ehebruchs-Potential im Dampfer "Argo" zur "Insel der Nutzlosen" und jagt dem Goldenen Theorie-Vlies glücklicher Wilder nach. Ihr Diskurs-Ziel: der eigenen Entfremdung entkommen.

Orpheus2 560 EdiSzekely u"Orpheus#": Lena Lauzemis, Kate Strong, Florian Kleine © Edi Szekely

Linda Pöppel glänzt als Schauspielerin von Frische und Gewitztheit; dem Pragmatismus ihrer Figur setzen Andreas Uhse und Daniel Rothaug skurrile Intellektuelle zur Seite. Viktor Tremmel als Heizer frei nach Eugene O'Neill ("The Hairy Ape") liefert das plebejisch-dynamische Element, indem er sich ihnen, die trotz Emanzipationsrhetorik ans Bestehende gekettet sind, als Klassen-Wilder zeigt. Ihre Wette auf seine Befreiungsfähigkeit dreht er um und findet unverkrampften Zugang zu Pöppels akademisch entfremdeter Lust. Zuletzt bricht die Diskurswelt zu uns Zuschauern durch. Eine Anti-Kreuzfahrt und verhinderte Pygmalion-Story als platonische Höhlenforschung mit der Talgkerze.

Tänzerisch durch die Unterwelt – "Orpheus#"

Ersan Mondtag entwirft "Orpheus#" in einer schönen Einfachheit, die mit klaren Einteilungen in lesbaren Zwischentiteln einhergeht ("Einsamkeit", "Tod", "Erinnerung", "Zerberus"). Eine Mickey-Mouse-Fratze markiert ihm das Tor zur Unterwelt, beherrscht gelb-weiß gestreift wie ein Strandhäuschen mit Türen und Stockwerken die Bühne. Einmal rollt ein Plateau mit Speisetisch vorüber wie Charons Unterweltsfloß.

Den starken Anfang macht Kate Strongs Ausdruckstanz, barfuß im roten Skelett-Bodysuit wie sie alle. Das noch stärkere Ende, nachdem sich Strong und Florian Kleine als Unterweltsherrscher Hades / Persephone etabliert haben (Christian Erdt und Lena Lauzemis sind Orpheus / Eurydike), bestreiten Erdt, Lauzemis und (ein wenig) Strong als psychodramatischen Rundlauf, der für Orpheus' Rückweg aus der Unterwelt einsteht. Wie Lauzemis sich Erdt als totes Gewicht anhängt, damit er sie anblickt, und wie er widersteht, bis er doch bewusst nach- und Eurydike aufgibt, ist atemberaubend. Minutenlang steht diese Eurydike in ausdrucksvoller Ausdruckslosigkeit da wie zernichtet. Ein Horror, der an Stephen Kings Orpheus-Version "Pet Sematary" ("Friedhof der Kuscheltiere") erinnert.

Vampirismus an der Ehefrau – "Angst"

In "Angst" formen die Hellholz-Säulen einen Trichter; ein gutes Symbol für die soghafte Handlung: Ein betrogener Ehemann jagt hier seiner Frau eine Schauspielerin als Erpresserin auf den Hals und saugt ihr so gleichsam das Leben aus. Ehelicher Vampirismus als Treibjagd auf eine Unbotmäßige. Das ist von Constanze Becker als Ehefrau – im stil- und zeitechten Kostüm als Spiegel psychologischer Konsistenz – toll gespielt.

Angst2 560 EdiSzekely u"Angst": in der Projektion Constanze Becker, beim Tanz Constanze Becker und Thomas Huber  © Edi Szekely

Lukas Rüppel als Erpresserin treibt witzig-böse Kleine-Leute-Travestien, der umstandslos verspielte Thomas Huber ein Wechselspiel mit Hüten nebst Scherzbrille, die seltsam gut zur paternalistischen Grausamkeit seiner Figur und dem semiotischen Einschießen auf die symbolische Ordnung "Ehe" passt. Schön die Formfindung, wie unter erodierendem Texteinlesen und Videos äußeres und inneres Geschehen surreal zerfasern. Ein guter Abend.


Das Leben des Joyless Pleasure
von Alexander Eisenach/Rebecca Lang
Regie: Alexander Eisenach, Bühne: Jens Kilian, Kostüme: Lena Schmid, Dramaturgie: Rebecca Lang, Video: Oliver Rossol.
Mit: Linda Pöpel, Daniel Rothaug, Viktor Tremmel, Andreas Uhse.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

Orpheus#
von Ersan Mondtag
Regie: Ersan Mondtag, Bühne: Jens Kilian, Kostüme: Gualtier Maldé, Dramaturgie: Michael Billenkamp.
Mit: Lena Lauzemis, Kate Strong, Christian Erdt, Florian Kleine.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

Angst
Szenische Collage nach der Novelle von Stefan Zweig
Für die Bühne bearbeitet von Henrieke Beuthner und Johanna Wehner
Regie: Johanna Wehner, Bühne: Jens Kilian, Kostüme: Laura Krack, Video: Adrian Figueroa, Dramaturgie: Henrieke Beuthner.
Mit: Constanze Becker, Thomas Huber, Lukas Rüppel
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.schauspielfrankfurt.de

 

 

Kritikenrundschau

Natascha Pflaumbaum schreibt auf dem Internetportal von Deutschlandradio Kultur (16.6.2014): In Alexander Eisenachs "Das Leben des Joyless Pleasure" philosophierten die vier Reisenden "höchst klug, höchst geistreich und höchst klugscheisserisch", zumeist in "trockenem Sozialphilosophen-Jargon", dessen "Kalauer- und Pointen-Potential" Eisenach und seine Co-Autorin Rebecca Lang auf "so spielerische und wenig besserwisserische Weise" entlarvten, dass man sich "nur so die Schenkel" klopfe. Eisenachs Humor sei "erfrischend, seine Pointen kommen 'à point', in gut erträglichen Salven, sein handwerkliches Talent ist übergroß." Eine inspirierende "Erfrischung für den Geist".
Ersan Mondtag konzipiere kein Sprechtheater, sondern eine Art Tanztheater, wobei er Bewegungen fast "vollständig entdynamisiert". Im Grunde baue er "eine Art soziale Körperskulptur". Die Sache gehe auf, weil Mondtags vier Darsteller "bereits im Stillstand auratisch" wirkten.
Johanna Wehner lasse in "Angst" das Bühnengeschehen von Constanze Becker, Thomas Huber und Lukas Rüppel zusammenschustern. Die Schauspieler seien zwar "wirklich fantastisch", doch Wehner mache "so wenig mit und aus ihnen". "Man brabbelt, man stammelt und zerlacht den Text, läuft gegen Wände, schleppt Tüten, lässt sich von minutenlangen Texteinspielungen berieseln." Unklar, warum diese Ehebrecherin-Geschichte heute noch interessant sei, unklar vor allem, was das für eine Angst in diesem Zusammenhang sei. Jedoch ist sich Pflaumbaum sicher: "Alexander Eisenach, Ersan Mondtag und Johanna Wehner werden ihren Weg gehen."

Judith von Sternburg schreibt in der Frankfurter Rundschau (16.6.2014), die "diskurstheoretisch basierte" Inszenierung sei die komischste gewesen und auch die "weitreichendste". In "Das Leben des Joyless Pleasure" parodierten die Schauspieler die "klassische Abenteuerromanreisegesellschaft", den "Diskurs über Utopie", "Glück und die gesellschaftlichen Bedingungen dafür", in die sie sich gleichwohl mit "Leidenschaft und Beharrlichkeit" verwickelten. Die "tolle Pointe" des Autors und Regisseurs Alexander Eisenach, sei die Beschreibung der Zuschauer im Zuschauerraum als "Insel der Nutzlosen". Und tatsächlich, fragt von Sternburg: "Was gibt es Nutzloseres als einen Zuschauer, aber auch: Was gibt es Schöneres, als nutzlos zuzuschauen, wenn andere etwas wirklich Interessantes tun."
Ersan Mondtag beeindrucke mit einem wesentlichen Tanzstück zum Orpheus-und-Eurydike-Stoff. Spaß, "Melancholie und Tod, das herbe Rätsel des Abschieds für immer, die Verzweiflung, für die es keine Worte gibt", all das werde dargestellt, "musikgesättigt bis an den Rand zur Süßigkeit, dabei karg und intensiv". Orpheus, der  Zuletzt bleibe Lena Lauzemis als Eurydike zurück. "Weint sie gleich? Lächelt sie gleich? Es ist entsetzlich."
In Johanna Wehners Inszenierung von "Angst" nach Stefan Zweig spiele Constanze Becker Zweigs Ehebrecherin "fabelhaft" zwischen "nackter Panik und genervter Unlust". Das Heillose der Angst aber führe in eine Auflösung des Textes und eine "albdruckhafte Bilderflut". Zu schade allerdings, dass die drei Produktionen im Spielplan nicht mehr vorgesehen seien.

Claudia Schülke schreibt im Rhein-Main-Teil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (16.6.2014), Ersan Mondtag beweise, dass er von einer überwältigenden visuellen Phantasie angetrieben werde. Sein "Orpheus" sei ein Stück Ausdruckstanz ohne Worte.
Bei Alexander Eisenachs "Das Leben des Joyless Pleasure" stünde ganz im Zeichen von Erich Fromms Apostrophierung der profitorientierten Unterhaltungsindustrie als "freudloses Vergnügen". Pate stünden "Die Schatzinsel", "Lady Chatterley" genauso wie "Sherlock Holmes" und "Der Untergang der Titanic". Die Inszenierung biete "große assoziative Bilder zwischen Chaos und Form".
In Johanna Wehners "szenischer Collage" nach Zweigs "Angst" spreche Konstanze Becker (sic!) mehr mit ihrem Gesicht als mit Zweigs Worten, die meist über Band eingespielt worden seien.

Kommentare  
Nachwuchsfestival Frankfurt: Korrektur?
Friedhof auf Englisch schreibt sich "Cemetery" und nicht "Sematary". Peinlich.

(Werter Lektor,

eine kurze Online-Recherche Ihrerseits hätte schnell ergeben, dass "Friedhof der Kuscheltiere" im Orginial "Pet Sematary" heißt, vgl. etwa http://en.wikipedia.org/wiki/Pet_Sematary oder http://www.imdb.com/title/tt0098084/.

MfG, Georg Kasch / Redaktion)
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