Postkriegs-Femme-Fatale

von Michael Stadler

München, 18. Juni 2014. Schock! Die Geburt des Kinos rüttelte die Zuschauer wach, zu Beginn eines Jahrhunderts, das nicht nur den Siegeszug des bewegten Bilds, sondern auch zwei Weltkriege und noch einige Katastrophen mehr erleben sollte. Im Jahr 1947 vegetiert Helen Lawrence, Postkriegs-Lady, bewusstlos in dem Krankenbett einer psychiatrischen Klinik vor sich hin. In der Spielhalle der Kammerspiele keine Kulissen, dafür die Wände in Blau: eine Blue Box für digitale Projektionen. Vor der Bühne ist eine halbdurchsichtige Leinwand gespannt und wartet auf das erste Bild. Das dann auch kommt: Helen bekommt elektrische Ströme verpasst. Schock! Es bzzzt auf der Soundspur. Auf der Bühne klein, auf der Leinwand groß schlägt sie die Augen auf. So wird mit ihr das Kino geweckt: für "Helen Lawrence", die "Cinematic Stage Production" von Stan Douglas.

Technik hochmodern, Look retro

Der kanadische Künstler ist dafür bekannt, die Möglichkeiten innovativer Technik in seinen filmischen wie fotografischen Werken auszuloten und die Grenzen zwischen den Kunstformen zu überschreiten. Dabei wendet er sich thematisch vorwiegend der Vergangenheit zu, was zurzeit sowohl in der Ausstellung "Stan Douglas: Mise en scène" im Münchner Haus der Kunst als eben auch in "Helen Lawrence" zu sehen ist. Douglas' erster Theater-Ausflug wurde im März in Vancouver uraufgeführt und gastiert jetzt einige Male, begleitend zur Schau, in den Münchner Kammerspielen.

HelenLawrence2 560 DavidCooper uEine Nachkriegs-Lady auf Rachefeldzug: Lisa Ryder als Helen Lawrence © David Cooper

Die langgestreckte Bühne der Spielhalle verströmte schon immer ein wenig Kino-Flair (Alvis Hermanis zeigte hier Wassa im Theater-Cinemascope-Format). Bei "Helen Lawrence" schiebt sich tatsächlich eher die gleichzeitige Herstellung und Vorführung eines Films in den Vordergrund, als dass das Theater mit der Präsenz der spielenden Körper punkten könnte. Das zwölfköpfige Ensemble agiert durchweg hinter der halbtransparenten Leinwand und nimmt sich – je nachdem, wer frei ist – mit drei Kameras auf. Die Aufnahmen werden vorne schwarz-weiß auf die Leinwand projiziert, wobei die Schauspieler im Film sich in einer virtuellen Welt bewegen, durch hinzugefügte digitale Räume, die Douglas ausgehend von Archiv-Fotos rekonstruiert hat. Hochmodern die Technik, retro die Optik.

Zwischen Film Noir und HBO

Douglas hat sich intensiv mit den Nachkriegsjahren auseinandergesetzt, auch für eine App, die er in fünfjähriger Arbeit geschaffen hat: "Circa 1948" (circa1948.nfb.ca) lässt anhand historischen Materials das einstige Vancouver auferstehen, besonders das Old Hotel Vancouver und das Viertel Hogan's Alley, wo sich dereinst Arbeiter, Prostituierte, Glücksspieler und Verbrecher aller Art tummelten. An diesen Schauplätzen entwickeln sich auch die verschlungenen Plot-Linien von "Helen Lawrence", wobei die Produktion sich in ihrem Look – Douglas selbst ist 3D Production Designer –, in ihren Kostümen und der Erzählung stark am Film Noir orientiert.

Helen probiert das Femme-Fatale-Sein aus: Ein Jahr nach ihrem Klinikaufenthalt in L.A. checkt sie im Old Hotel ein, um nach ihrem Ex-Geliebten, dem Buchmacher Percy Walker, zu fahnden. Er hat ihren Ehemann ermordet und den Verdacht auf Helen gelenkt, woraufhin sie in der Klinik landete. Percy geht seinen illegalen Geschäften mittlerweile vom Old Hotel aus nach, im Verbund mit Buddy Black, der einen – hübsch für München – "Biergarten" in der Hogan's Alley führt, Prostitution und Glücksspiel inklusive. Die Polizei ist korrupt, die Musik jazzig, die Sprache auf knackigen Noir-Slang gepolt, wobei sich die gewitzte Concierge des Hotels bald gastspielstrategisch klug erklären lässt, was "asshole" auf Deutsch bedeutet.

Dass Helens Racheplan sich im Geflecht der Handlungsfäden schnell verliert, kann man als noir-typisch verstehen, immerhin ist die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg mit all den Kriegsheimkehrern und Witwen – auch davon erzählt dieser Abend – ziemlich aus dem Lot. Vor allem aber könnte das am Autor des Textes, Chris Haddock, liegen, der auch an Serien wie dem HBO-Prohibitions-Epos Boardwalk Empire mitschrieb. Das Prinzip des seriellen Erzählens, bei dem stets mit mehreren Figuren und Handlungssträngen jongliert wird, durchdringt "Helen Lawrence" spürbar und macht dieses Experiment kleinformatiger, als es der großformatige Einsatz der Technik erwarten lässt.

Ausblendung des Körpers

Die Schauspieler, viele in Kanada bekannt, spielen zwar weniger für die letzte Theaterreihe als für die Video-Kamera, aber das mit makelloser Präzision. Allan Louis unterlegt den Ganoven Buddy Black auch stimmlich mit einer weltmüden Note. Eine schön miese Nummer macht Hrothgar Mathews aus dem Hotelbesitzer Harry Mitchell, dessen Toupet ebenso gut sitzt wie der Noir-Ton – bis er am Schluss von Percy gekillt wird. Nicholas Lea, schon böse in der Serie "Akte X", macht aus Percy einen Fiesling mit passend geschniegeltem 40er-Jahre-Feeling. Beim Morden drängt sich die Nähe des Film Noirs zum expressionistischen Stummfilm auf: Percys Gesicht, im Gewalt-Akt verzerrt, schwarz-weiß in Großaufnahme.

Wie das Kino mit seiner Konzentration auf das Gesicht den Körper weitgehend und recht schmählich ausblendet, das lässt sich in diesem gefilmten Theater gut beobachten. Und dann schaut man eben doch auf das Geschehen hinter der Leinwand, auf die Schauspieler, die da sind, oben und unten rum. Oder auf Allan Louis, der einfach nur im Dunkeln ein paar Schritte gehen muss, um vom Old Hotel in die Hogan's Alley zu gelangen. Da zeigt sich der Zauber des (digital verstärkten) Theaters.

HelenLawrence1 560 DavidCooper uDas einstige Vancouver und seine Unterwelt steht bei Stan Douglas wieder auf. © David Cooper

Trotz des hervorragenden Einsatzes der Technik und den souveränen Darstellern entkommt die Inszenierung nicht der Sterilität einer Film-Theater-Kunst-Installation, die sich visuell ausreizt, weil aufregendes Kino die flexible Kamerabewegung im Raum braucht. Vom Konzept her ist Douglas' Experiment allerdings schlüssig: Jede Nachkriegs-Generation versucht, sich ihre Realität, wie einen Film, wieder stabil zu konstruieren, und dabei entstehen doch immer wieder nur neue Illusionen.

Am Ende drückt Helen Lawrence (die wunderbare Lisa Ryder) der lesbischen Concierge Julie (Haley McGee) noch einen Kuss auf den Mund, um dann den nächsten Zug Richtung Seattle zu nehmen, wo der fliehende Percy sitzt ... Das Rache-Finale hält Stan Douglas überraschend kurz. Endlich Raum fürs Kopfkino.

 

Helen Lawrence
A Cinematic Stage Production
Konzept und Regie: Stan Douglas, Story: Chris Haddock, Stan Douglas, Text: Chris Haddock, Dramaturgie: Rachel Ditor, Matthew Jocelyn, Bühne: Kevin MCallister, Kostüme: Nancy Bryant, Licht: Robert Sondergaard, Musik und Sound Design: John Gzowski, 3D Production Designer: Stan Douglas.
Mit: Crystal Balint, Greg Ellwand, Ryan Hollyman, Sterling Jarvis, Nicholas Lea, Allan Louis, Ava Jane Markus, Hrothgar Mathews, Haley McGee, Mayko Nguyen, Lisa Ryder, Adam Kenneth Wilson.
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Bisher war es auf deutschsprachigen Bühnen vor allem die Britin Katie Mitchell, die mit Livefilmverfertigungen Aufsehen erregte, zuletzt z.B. mit Wunschloses Unglück (Wien, Februar 2014), Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino (Hamburg, November 2013), Die gelbe Tapete (Berlin, Februar 2013).


Kritikenrundschau

"Was an dem Projekt (…) beeindruckt, ist weniger der wirre Krimiplot und die betuliche Erzählweise, sondern die Durchdringung von Raum und Fläche durch virtuosen Umgang mit High-Tech-Bilderzeugung an einer faszinierenden Schnittstelle von Darstellender und Bildender Kunst", schreibt Mathias Hejny in der Abendzeitung (20.6.2014).

"Es kommt nicht allzu häufig vor, dass Kino derart lebendig wirkt und dass auf einer Bühne derart filmisch erzählt wird", schreibt Michael Schleicher im Münchner Merkur (20.6.2014). Stan Douglas verwische geschickt die Grenzen zwischen den Darstellungsformen. "Das große Verdienst von Douglas und seinen Schauspielern ist, dass in der Spielhalle gerade nicht Technik und Machart dieses (…) Abends im Zentrum stehen." Es werde vielmehr ein "spannender, unterhaltsamer Krimi" erzählt.

Kommentare  
Helen Lawrence, München: Stereotype
Aufregendes Kino braucht also eine flexible Kamera Einstellung und Film Theater und Kunst Installationen sind immer steril. gegenbeispiele brauche ich wohl nicht anführen. Ich frage mich nur, wieso ein Theaterkritiker, der dermaßen in Stereotypen denkt, zu einer Aufführung von Stan Douglas geschickt wird?
Helen Lawrence, München: Der Kritiker antwortet
Lieber BrettvorKopf, ich behaupte nicht, dass jede Kunst-Installation steril ist. In diesem sicherlich technisch und schauspielerich beeindruckenden, aber letztlich hermetischen Experiment von Stan Douglas ist dies jedoch, meiner Meinung nach, der Fall. Oder hatten Sie das Gefühl, dass sich die Energie der Schauspieler auf das Publikum übertragen hat und Sie einen mitreißenden Film-Theater-Abend erlebt haben?
Helen Lawrence, München: unreflektiert
Ich brauche keine Energie von Schauspielern auf der Bühne, die sie als Konstante des Theaters einfordern. Ich habe auch nichts gegen sterile, hermetische Installationen im Theater. Die Ecke, aus der sie argumentieren, ist furchtbar altmodisch und unreflektiert. Was erwarten sie von einem Abend, den Stan Douglas inszeniert hat? Immer wieder nur Theater?
Helen Lawrence, München: kritische Nachfrage
Nochmal: Stellen sie sich vor, sie sehen auf der Documenta eine Installation von Stan Douglas. Anschließend kritisieren sie, dass der Besuch sie nicht mitgerissen hat, und die Energie der Darsteller sich nicht übertragen hätte. Man würde sich zu Recht fragen, weshalb sie dies einfordern? Jetzt sehen sie eine Arbeit des Künstlers in einem Theaterraum und bemängeln Ähnliches. Wieso ist ihre Kritik an diesem Ort gerechtfertigt?
Helen Lawrence, München: Der Kritiker antwortet
Ich schätze mal, weil es eben ein Theaterraum und nicht die Documenta ist. Zudem ist "mitreißend" ein dehnbarer Begriff, ebenso das Wort "altmodisch" (ich würde zum Beispiel behaupten, das Spiel der Schauspieler gerade innerhalb des technischen Rahmens altmodisch war).

Ich habe insgesamt das Gefühl, dass wir uns missverstehen: Meine Kritik ist, aus meiner Sicht, kein totaler Veriss. Die Leistung der Schauspieler, der Einsatz der Technik und die Arbeit von Stan Douglas, der mit Sicherheit ein großer Künstler ist, werden doch im Text gewürdigt - es ist auf jeden Fall ein Experiment, das allen Respekt verdient, aber durch Beschränkungen, die sich auch durch den Einsatz der 3D-Technik ergeben, im Ergebnis nicht ganz überzeugt. Gewisse Kriterien kommen bei einer Kritik zur Anwendung, das ist nun mal die Regel, und in diesem Fall scheinen mir die Rahmenbedingungen des Experiments dafür zu sorgen, dass innerhalb eines Theaterraums eine Installation gezeigt wird, die den Kontakt ("Energieaustausch") zwischen Schauspielern und dem Publikum weitgehend unterbindet. Das erscheint mir fürs Theater kritisierenswert, auch wenn das Experiment beachtlich ist. Wenn für Sie jedoch andere Maßstäbe gelten, ist das völlig in Ordnung.
Helen Lawrence, München: Frage nach dem Mehrwert
Vielleicht geht es weniger um das "Mitgerissen"-Werden, als um die (wie ich finde: sehr berechtigte! warum altmodische?) Frage nach dem "Mehrwert" dieser Verbindung aus filmischen und theatralen Ausdrucksmitteln im Theaterraum. Dieser Mehrwert hat sich mir - bei aller Faszination für die verwendete 3-D-Technik und das überaus präzise Agieren der DarstellerInnen - nicht erschlossen. Er hätte in der Verknüpfung zwischen der Live-Präsenz der Akteure und dem "Erinnerungs"-Medium Film liegen können; aber auch ich hätte mir hier mehr produktive Irritationsmomente zwischen diesen Ebenen gewünscht, die mehr bei den Zuschauern auslösen können, als "nur" Bewunderung/Faszination (wobei auch dies natürlich ein legitimes Ziel von Theater sein kann und darf - ganz klar).
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