Souveränität wegnehmen

von Christian Baron

21. Juli 2014. Glaubt man Florian Kessler, dann ist die deutsche Gegenwartsliteratur zu brav und zu konformistisch. Eine Erklärung, woran das liegt, schob der Kulturjournalist in seinem viel diskutierten Kommentar in der "Zeit" zu Anfang des Jahres auch gleich nach: Jene durch die Schreibschulen von Leipzig bis Hildesheim ausgespuckte Generation junger Autorinnen und Autoren entstamme einem saturierten Mittelklasse-Milieu. Mangels Lebenserfahrung dominiere daher belangloses Gedöns die literarische Republik; relevante Welthaltigkeit sei praktisch inexistent. Gewiss nicht bewusst, aber doch sinnvoll reiht sich eine soeben erschienene wissenschaftliche Publikation in die daraus entstandene hitzige Feuilleton-Debatte ein.

"Junge Stücke" betitelten die Theaterwissenschaftler Andreas Englhart und Artur Pełka den von ihnen herausgegebenen Sammelband, der auf einer internationalen Fachtagung zur Situation und zu den Theatertexten insbesondere deutschsprachiger Jungdramatiker beruht. Schon in der Einleitung bescheinigen sie den Autoren "eine breite dramenästhetische Vielfalt". Sie konstatieren aber auch, dass sich die Spielhäuser textlichen Nachschub "auffallend häufig" von Absolventen der Studiengänge "Szenisches bzw. Kreatives Schreiben" holen. Engelhart und Pełka erscheint es dabei jedoch ausnehmend wichtig, den Nachwuchs vor den in der Debatte schwelenden Vorwürfen von formaler Diffusität und inhaltlicher Bedeutungslosigkeit in Schutz zu nehmen.

Neues politisches Theater?

So sei es "fast unfair und ein bisschen gemein", den Talenten ihre privilegierte soziale Herkunft vorzuwerfen. Zumal die Stadttheater durch miserable Arbeitsbedingungen ohnehin systematisch all jenen das Ankommen im künstlerischen Beruf erschweren, die keine cover junge stueckefinanzielle Unterstützung durch die Eltern erhalten können. Überdies habe es diese "pragmatische Generation" schwer, in Nachfolge der aufsässigen Klassiker von Schiller bis Büchner oder der 68er "eine in der Rebellion sich dialektisch ausprägende, eigene Identität zu finden". Dass sie genau danach händeringend suchen, zeigen die zahlreichen sich anschließenden Analysen und Interpretationen.

Wie geschaffen erscheint inmitten der generativen Orientierungslosigkeit der Trend jener Jungstars, ein "neues politisches Theater" zu kreieren mithilfe der Tendenz zu Postmoderne und Postdramatik, welche die Autoren der Fallstudien fast durchweg zustimmend und lobend feststellen. Als zentrale Elemente der Gegenwartsdramatik diagnostizieren die Beiträge dementsprechend die Dekonstruktion beispielsweise von Geschlechtskategorien (John Birke), das Aufbrechen vormals eherner formaler Ingredienzen wie Dialog/Konflikt/Finalität/Abgeschlossenheit (Philipp Löhle), den Wunsch nach sprachlicher Zerstreuung von Macht (Martin Heckmanns), die Abwesenheit von Belehrung und Agitation (Rimini-Protokoll) sowie die formale und inhaltliche Rätselhaftigkeit selbst jener Texte, die sich explizit mit Ökonomie befassen (Ewald Palmetshofer).

Feurige Selbstverteidigungsrede des Juniors

Wenngleich Hans-Peter Bayerdörfer den jungen Stücken eine "magmatische Formenvielfalt" zwischen "gezieltem Experiment und nicht weniger gezieltem inhaltlichem Engagement" attestiert, belegen die im Buch versammelten Texte doch die Thesen des prominenten Dramaturgen Bernd Stegemann, der in seiner "Kritik des Theaters" (2013) gegen die seiner Meinung nach vorherrschende postmoderne Darstellungs- und Inszenierungspraxis wütet, welche vor der Komplexität des Kapitalismus kapituliere und nach dem Motto verfahre: "Man kann nichts mehr aussagen, aber das sieht sehr schön aus."

Nicht nur die oftmals fehlende kritische Distanz zu den besprochenen Stücken, sondern auch das Ausblenden junger Autoren wie etwa Milo Rau, die dem postdramatischen Theater ablehnend gegenüberstehen, lassen diesen erkenntnisreichen, wenn auch quantitativ überfrachteten Band wie eine unprätentiöse Apologetik der in die Defensive zu geraten drohenden Lieblinge deutscher Förderpreisjurys erscheinen. Dazu passt auch der abschließende Beitrag des Bandes, in dem mit Nis-Momme Stockmann einer der zuvor untersuchten Junioren selbst das Wort ergreift – und zu einer feurigen Verteidigungsrede seiner Autorengeneration anhebt.

"Scheiß Souveränität im Umgang mit der Welt"

Das Theater warnt er vor dem "Verschwinden des Autors", das zwangsläufig erfolge, wenn an die Schreibenden weiterhin Ansprüche wie mehr Realismus, mehr Verständlichkeit und mehr Welthaltigkeit herangetragen werden. Hollywood ist sein Negativexempel, weil es zeige, "wie Kunst ist, wenn sie der Gier nach dem Signifikat, nach dem konsumierbaren Sinn, freien Lauf lässt – ein Film arrangiert sich um eine plakative, eine redundante Prämisse". Sie müsse "redundant sein, sie muss dem Kanon entstammen, andere müssen sie bereits für uns verstanden haben". Eine tiefe Abneigung empfindet er gegen das Verständnis politischen Theaters als Instanz der Parteilichkeit und als Vermittlerin klarer Botschaften: "Ich möchte niemandem etwas geben. Ich möchte den Menschen eher etwas wegnehmen – die scheiß Souveränität im Umgang mit der Welt".

Stockmanns Beitrag rundet damit die Anthologie stimmig ab, indem er eloquent der von Kessler monierten Bürgerkinder-Anspruchslosigkeit widerspricht und sich emphatisch gegen die von Stegemann erhobene Forderung nach mehr Realismus im subversiven Spiel verwahrt. Denn er bleibt "lieber dumm und auf der Suche, als im Gefängnis der Proklamation für immer der Ästhetisierung des Bekannten und der Reproduktion unserer Kausalitäten dienen müssen".

 

Andreas Englhart, Artur Pełka (Hg.):
Junge Stücke. Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater
Transcript Verlag, Bielefeld, 2014, 416 S., 35,99 Euro.

Kommentare  
Buchkritik Junge Stücke: Publikumserziehung
Ach, der Nis-Momme. Schafft es echt immer und immer wieder, eigentlich löblicher Aussagen mit selbst- und sprachverliebter Arroganz rüberzubringen. Wer sein Publikum erziehen will, sollte vielleicht lieber ein (...) Lehrer werden.
Buchkritik Junge Stücke: Rückkehr zu Camus
Ach, es ist doch eigentlich ganz einfach. Wer die Auswirkungen der "großen Geschichte" auf den eigenen Körper nie konkret erlebt hat, wer die Ungerechtigkeit nie am eigenen Leib erfahren musste, der hat im Grunde auch keinen Anlass, engagiert zu schreiben. Weil er nichts hat, was ihn persönlich angeht. So beschreibt ja auch Stockmann sein Dilemma. Dass seine Eltern die Kämpfe bereits ausgetragen und er somit im Grunde nichts mehr zu tun hätte. Aber stimmt denn das? Ist wirklich das Ende der Geschichte und/oder der "großen, utopischen Ideen" erreicht? Wir müssen ja nicht gleich zu einem mit der RAF-sympathisierenden Sartre zurückkehren, der da sagte, dass der engagierte Schriftsteller sich der Tatsache bewusst sei, dass sein Wort ein Handeln ist, dass er den unmöglichen Traum aufgegeben habe, ein unparteiisches Bild der Gesellschaft zu zeichnen.

Wir können ja auch - und auch ICH würde dafür plädieren - zu Sartres späterem "Konkurrenten" des Existentialismus zurückkehren, zu Camus, der da sagte, dass der Existentialismus ein HUMANISMUS sei:

"Er wollte froh sein, war es auch irgendwo in seiner Eitelkeit, und doch, als er sich beim Verlassen des grünen Feldes nach Munoz umdrehte, legte sich ihm beim Anblick des fassungslosen Gesichts dessen, den er geschlagen hatte, plötzlich eine düstere Traurigkeit aufs Gemüt. Und so begriff er, daß der Krieg nicht gut ist, da einen Menschen zu besiegen ebenso bitter ist, wie von ihm besiegt zu werden."

Ebenso hier, und jetzt alle nochmal nachdenken:
"Später sollte er sich an diese Geschichte erinnern, als er (wirklich) begriff, daß die Menschen so tun, als respektierten sie das Recht, und daß sie sich nur der Macht beugen."

Beide Zitate aus: Camus, "Der erste Mensch".
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