Presseschau vom 11. September 2014 – René Pollesch sitzt der ZEIT für ein Porträt Modell
Sprachlose Körper, menschenlose Sätze, unstillbarer Schmerz
Sprachlose Körper, menschenlose Sätze, unstillbarer Schmerz
11. September 2014. René Polleschs Theater sei "ein Welttextverdichtungstheater", schreibt Thomas Assheuer in einem langen Porträt zu René Polleschs Text- und Theaterarbeit in der ZEIT. Der Autor-Regisseur erfinde Figuren aus Fleisch und Blut und schicke sie auf die Bühne, "wo ihre Körper von Texten durchkreuzt und verwundet werden, von Werbemüllphrasen, Medienemissionen, Managersprüchen, Politikersätzen, Ratgeberfloskeln, Modephilosophien".
Der Text der Welt, so stellt sich für Assheuer die Grundidee von Polleschs Schreiben dar, "alphabetisiert das Leben der Menschen. Deshalb sagen die Schauspieler bei Pollesch nicht Sätze auf, sondern Sätze tönen durch sie hindurch, und so wie sie reden, so fühlen sie auch." In der schönen neuen Pollesch-Welt komme das Sprechen nicht mehr von innen und verliere den Charakter einer menschlichen Äußerung. "Sprachlose Körper stehen zwischen menschenlosen Sätzen. Wahr ist nur noch die Stimme."
Pollesch beobachte jede winzige Zuckung im gesellschaftlichen Diskurs, verfolge jede tektonische Bewegung in der medialen Rede. Immer wieder komme er auf die New Economy zurück und beschreibe sie als die größte Sprach-Revolution der Gegenwart. "Als hätten sich die gesellschaftlichen Funktionseliten vorher abgesprochen, wurde um die Jahrtausendwende überall das 'unabhängige' Ich entdeckt und aufs Podest gestellt – in der Politik, in den Medien, in der Werbung. Das neue 'authentische' Subjekt solle sich aus den unsichtbaren Ketten des Sozialstaates befreien; solle endlich frei sein und autonom für sich selbst sorgen. "Während der Industriemensch des Fordismus noch im Fleiße seines Angesichts am Fließband schuften
musste, darf sich das neoliberale Ich als kreativer Selbstunternehmer und Lebenskünstler fleißig neu erfinden. Falls es nicht klappt – selbst schuld."
Es sei der französische Philosoph Michel Foucault mit seinem epochalen Buch "Die Ordnung der Dinge" gewesen, der Pollesch schon während seines Studiums in Giessen "reizbar und hellhörig" gemacht hätten, so Assheuer. Seit Beginn der Neuzeit, fasst er Foucaults Grundgedanken zusammen, hätten die Wörter ihre Verbindung zur göttlichen Wahrheit verloren und kreisten nur noch leer in sich selbst. "Sprache zensiert, normiert, manipuliert. Sie öffnet die Augen für die Welt, und sie schließt sie wieder".
Den Konservativen gefalle Polleschs Wortspieltheater nicht, aber den Linken gefalle es auch nicht. Die Liebe der Linken zu Pollesch hat sich aus Assheuers Sicht auch deshalb abgekühlt, weil Pollesch der Kapitalismuskritik in den Rücken falle. "Wer glaube, man könne die Wirklichkeit auf dem Theater nicht mehr darstellen, der nehme den Leuten jede Hoffnung, sie politisch zu verändern."
Für Thomas Assheuer läuft Polleschs Systemkritik insgeheim auf die Sehnsucht hinaus: "ein Wort, das sich selbst bedeutet und gegen nichts getauscht werden kann, es ist ein leerer, objektloser Signifikant und zugleich ein unstillbarer Schmerz." Der Sehnsuchtsschmerz markiert aus seiner Sicht die Grenze zwischen Mensch und System, "und wenn er verschwände, dann verschwände auch das Lebendige, und wir wären keine Menschen mehr."
(sle)
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