Und ewig rollt der Stein

Dresden, 26. Januar 2015. Seit Oktober 2014 breitet sich die ausländerfeindliche Bewegung der "Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" (Pegida) in deutschen Städten aus. Ihr "Geburtsort" Dresden ist gleichwohl die einzige Stadt, in der die allmontäglichen Pegida-"Spaziergänge" die Gegendemonstrationen an Größe übertreffen. Woran liegt das? Und wie gehen die Theatermacher vor Ort mit der politischen Lage um? Die Intendanten Wilfried Schulz (Staatsschauspiel Dresden) und Dieter Jaenicke (Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste), beide seit 2009 in Dresden, sprechen im Interview mit den nachtkritik.de-Redakteuren Christian Rakow und Sophie Diesselhorst.


nachtkritik.de: Herr Jaenicke, an Ihrem Haus in Hellerau arbeiten regelmäßig internationale Compagnien. Fühlen sich Ihre Künstler in der Dresdner Innenstadt als Fremde?

Jaenicke: Erst vor ein paar Tagen hatten wir eine Gruppe von Kuratoren und Künstlern aus Taiwan zu Besuch, die als erstes fragte: Können wir einfach so auf die Straße gehen? Ist es gefährlich? Wir haben uns dann darauf geeinigt: Vielleicht ist es für diejenigen, die die Stadt nicht kennen, am Anfang gut, dass sie mit uns zusammen gehen.

Weil manche Viertel "No-Go-Areas" sind?

Jaenicke: In die Viertel, die "No-Go-Areas" sind, würden sie sowieso nicht gehen. Für die Künstler ist vor allem die Neustadt interessant, oder sie gucken sich vielleicht die historische Altstadt an. Aber wir haben es auch in der Neustadt schon erlebt, dass Menschen anderer Hautfarbe ziemlich übel angepöbelt werden.

hellerau refugees 560 chr uFlüchtlinge willkommen: Installation am Festspielhaus in Dresden-Hellerau © chr

Ist das eine Beobachtung, die Sie teilen, Herr Schulz?

Schulz: Ja, diese Angst, die von "Pegida" wie eine Schimäre für sich in Anspruch genommen wird, ist jetzt ganz real auf der anderen Seite angekommen. Fremdenfeindlichkeit war in den letzten Jahren kein großes öffentliches Thema in der Stadt. Nun kommen lauter Alltagsbeispiele angeflogen: Zum Beispiel wurde mir erzählt, dass neulich in der Bahn einer Mutter mit Kinderwagen, die nicht dem Durchschnittsbild einer Dresdnerin entsprach, beim Einsteigen die Türen versperrt wurden. Das finde ich als kunstproduzierender Mensch zum Verzweifeln, dass sich in einer Kunst- und Kulturstadt par excellence nicht auch die Sensibilität progressiv entwickelt.

Jaenicke: Wir haben lange Zeit in dieser Stadt damit verbracht, uns hauptsächlich mit den tatsächlichen oder vorgeblichen Ängsten des "Pegida"-Umfelds auseinanderzusetzen, und es ist wirklich an der Zeit, dass wir mal über die Ängste derjenigen sprechen, denen "Pegida" Angst macht. Besonders über die Ängste der Flüchtlinge: Die trauen sich wirklich nicht mehr auf die Straße. Aber ich würde auch für mich in Anspruch nehmen: Mir macht das richtig Angst.

In welcher Form haben Sie beide sich mit den Positionen der "Pegida"-Demonstranten beschäftigt? Sind Sie zu den Veranstaltungen der Landeszentrale für politische Bildung gegangen, die von Anfang an offensiv auf Dialog gesetzt hat?

Schulz: Ich gehe jetzt am Freitag (am 23. Januar, Anm. der Red.) dorthin, weil die Organisatoren mich um ein Statement gebeten haben. Auf einer Demonstration war ich nicht, aber wir haben das Thema natürlich auch im Haus: Wir haben hier 300 Mitarbeiter, und auf Mitarbeiterversammlungen wurde schon die kritische Frage gestellt: Warum verhält sich das Theater nicht neutral, warum agieren wir so offensiv?

Was antworten Sie darauf?

Schulz: Ich finde, dass Theater und Kunst an bestimmte Haltungen und Gedanken von Aufklärung und Sensibilität in der Gesellschaft gebunden sind. Wir stehen auf der Seite der Schwachen und Flüchtenden, das kann man sich nicht aussuchen. Und als Privatperson Wilfried Schulz antworte ich: Ich sehe es als Tabubruch, dass Leute auf Demonstrationen neben Neonazis hermarschieren. Ich habe partiell eine andere Haltung als Frank Richter (von der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen, Anm. der Red.), der sagt: Man muss zuhören. Ja, aber die Frage ist, wie weit kriecht man in diese Köpfe rein, und da gibt es für mich eine Grenze. Ich bin kein Sozialtherapeut, der die Aufgabe hat, die Leute wieder in die Gesellschaft zu integrieren.

dieter jaenicke hellerau 280 joscha jennessen uDieter Jaenicke © Joscha JennessenJaenicke: Es ist unsere Aufgabe als Theatermacher, uns zu virulenten gesellschaftlichen Themen zu verhalten, ob uns das gerade passt oder nicht. Insofern verschließen wir uns auch keinem Dialog. Aber was wir gerade erleben, ist eine Akzeptanz, den politischen Diskurs an den extremen rechten Rand auszuweiten. Und das finde ich gefährlich. Ich glaube, es führt dazu, dass Menschen, die vielleicht vorher auch schon so gedacht haben, sich nun davon ermutigt fühlen, Leute beleidigend anzugreifen. Ich habe zum Beispiel neulich einen Brief bekommen von jemandem, der selber schreibt, dass er nie im Festspielhaus Hellerau war und auch nie kommen würde, der aber trotzdem ganz genau zu wissen meint, dass wir "entartete Kunst" machen. Sich aus der Terminologie des Nationalsozialismus zu bedienen, noch dazu in Dresden, wo seinerzeit die erste "Entartete Kunst"-Ausstellung stattfand, das ist schon sehr bedenklich. Und daraus ergibt sich für mich vor allem die Einstellung: Wir müssen zeigen, wo wir stehen.

Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Reaktion der Landespolitik Sachsens auf die "Pegida"-Bewegung?

Schulz: Schwierig. Wir waren vor ein paar Tagen auf dem Neujahrsempfang des Ministerpräsidenten Tillich, der sich durchaus Mühe gegeben hat: Der ganze Empfang stand unter dem Motto "Weltoffenes Dresden", der Bandleader war deutlich arabischer Herkunft, ein junger Mann vietnamesischer Herkunft hat die Veranstaltung moderiert. Und Tillich hat in seiner Rede gesagt, dass Dresdens Offenheit eine große Tradition hat, die Hälfte der Gebäude hier von ausländischen Baumeistern gebaut worden sind und so weiter. Das ist alles gut und richtig gewesen; aber es ist kein einziger Satz dazu gefallen, dass wir ein Problem haben. Es klang immer so nach: "Wir müssen nur lange genug sagen, dass wir ganz toll sind und das sehr gut machen, dann wird sich das schon durchsetzen." Nach 1989 hatte die Politik hier Schwierigkeiten, klare Abgrenzungen zwischen Konservativismus, Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus zu treffen. Ein ehemaliger CDU-Minister hat mir mal auf einer Premierenfeier gesagt: "Na, wir als CDU hier sind rechts." Dieses fast CSU-hafte: Wir wollen den rechten Rand mitvereinnahmen, dann wird schon nichts passieren – das ist sehr verbreitet, und deswegen müssen wir im Moment mehr denn je über die Unterschiede zwischen Konservativismus, Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus sprechen.

Was genau wird da eigentlich konserviert? 1989 war ja erst einmal eine Bruchstelle, ein Systemwechsel.

Jaenicke: Ich weiß es nicht. Ich könnte jetzt darüber spekulieren, dass vielleicht ein gewisses Ausblenden von tatsächlichen Problemen, das es mit Sicherheit in der DDR stärker als im Westen Deutschlands gab, sich weiter fortgesetzt hat. Was mich wirklich wundert, ist: dass Menschen, die sich selbst entschieden haben, Politiker zu werden, also Gesellschaften zu beeinflussen, zu führen, allen Ernstes zu glauben scheinen, wir lösen Probleme, indem wir um sie herumfahren! Es hat gedauert, bis die Politik sich überhaupt zu "Pegida" geäußert hat, und sie tut es in Teilen nach wie vor sehr zaghaft.

Schulz: Es gibt in Dresden und Sachsen eine große rückwärtsgewandte Sehnsucht. Eine Sehnsucht, die sich an Strukturen des Feudalismus, an Herrscherfiguren, August der Starke-Mythen und so fort orientiert. Das Bürgertum – und "Pegida" rekrutiert sich durchaus auch aus dem Bürgertum, aus der labilen Mitte – will sich aus der Zeit rauskatapultieren. Man fragt nicht: Wie wollen wir leben? Sondern man sagt: Wir hätten es gerne wieder schön wie damals. Es ist eine große Harmoniesehnsucht in der Gesellschaft, auch eine große Hermetik. Und was oft fehlt, ist eine Selbstdistanz, eine selbstverständlich kritische Haltung.

Herr Jaenicke, Sie haben der Stadt angeboten, Flüchtlinge bei sich im Festspielhaus Hellerau unterzubringen – warum?

Jaenicke: Erstens: Wir haben die räumliche Möglichkeit. Zweitens: Es ist wichtig, dass wir nicht nur reden, Diskurs machen, ein Banner aufhängen, sondern konkrete Angebote machen. Und drittens ist es für uns Alltag, mit Menschen aus allen möglichen Kulturen zu tun zu haben.

Kampnagel in Hamburg hat eine Gruppe von Lampedusa-Flüchtlingen untergebracht. Daraufhin wurde die Leiterin Amelie Deuflhard von der AfD angezeigt – befürchten Sie Ähnliches?

Jaenicke: Das sehe ich gelassen. Bei uns wird man ja gar nicht merken, wer Flüchtling ist und wer Künstler. Wir wollen die Leute außerdem in unsere Abläufe einbeziehen. Im Theater gibt es ja jede Menge unterschiedlicher Arbeiten. Aber wir wollen uns schon auch fragen: Können wir eine Bühne schaffen, den Flüchtlingen die Möglichkeit geben, ganz direkt selbst zu erzählen?

Herr Schulz, können Sie sich vorstellen, ein ähnliches Modell hier im Staatsschauspiel zu etablieren?

Schulz: Jeder macht das, was er machen kann. Wir haben vorletzte Woche lange mit dem Flüchtlingsrat gesprochen, und dabei ist für uns herausgekommen: Wir können helfen, ein Transmissionsriemen zu sein, Asylbewerber mit einer Selbstverständlichkeit in die bürgerliche Gesellschaft einzuladen und aufzunehmen. Wir werden jetzt pro Monat eine Reihe von Vorstellungen anbieten, zu denen wir über den Flüchtlingsrat einladen. Die zweite Ebene ist die Arbeit der Bürgerbühne, wo wir eine ganze Reihe von integrativen Projekten machen und planen.

Inwieweit sind in der Bürgerbühne, die ja als Erfolgsmodell in Sachen Partizipation gilt, in den letzten Jahren Themen, die "Pegida" zu besetzen versucht, verhandelt worden?

wilfried schulz dresden 180 matthias horn uWilfried Schulz
© Matthias Horn
Schulz: Wir haben die "Odyssee" gemacht; außerdem ein Projekt von Rimini Protokoll mit Vietnamesen, die hier leben. Die Resonanz war immer positiv. Man muss allerdings auch deutlich sagen: Unser Publikum ist nicht das Publikum, das bei "Pegida" mitmarschiert. Wenn unsere Schauspieler nach den Vorstellungen ihre Resolution für Toleranz und Weltoffenheit vorlesen, gibt es manchmal sogar Standing Ovations – was einerseits traurig ist, weil man ja alle erreichen möchte, andererseits aber auch eine große Erleichterung. Die "Pegida"-Anhänger tun so, als wenn sie eine sehr laute schweigende Mehrheit wären. Dem ist aber nicht so: Die wirkliche Mehrheit steht dagegen und sucht den positiven Identifikationspunkt. Den können wir bieten.

Warum fällt es eigentlich bisher so schwer, diese Mehrheit in Dresden sichtbar zu machen?

Jaenicke: Es ist vielleicht spät gekommen, aber ich finde, dass sie mittlerweile ziemlich sichtbar ist.

Schulz: Glaube ich auch. Es wurde immer davon gesprochen, es müsse sich jetzt "das andere Dresden zeigen", das gegen "Pegida". Das ist terminologisch schon verkehrt: Wir sind "das eine Dresden", und die sind "das andere Dresden"! Dass sich das im Bewusstsein so hat drehen können, das hat damit zu tun, dass "Pegida" einen Instinkt für großen Populismus hat.

Herr Schulz, Ihr Vorgänger-intendant Holk Freytag hat in Dresden regelmäßig mit Volker Lösch gearbeitet. Die "Dresdner Weber" wurden über die Stadtgrenzen hinaus berühmt, u.a. für ihre aggressive Kritik an Medien und Politik. "Wen ich als erstes abknallen würde, wäre Sabine Christiansen", solche Aussagen eines Chores vernahm man in der Inszenierung. Sind solche Werke geeignet, die Energien, die sich in der Dresdner Stadtbevölkerung aufgestaut haben, auf der Bühne zu bearbeiten?

Schulz: Ja, das ist eine Möglichkeit. Mit Volker Lösch habe ich für den Herbst eine Verabredung. Sie entstand völlig unabhängig von "Pegida". Jetzt werden wir aber wohl dem Thema nicht entkommen. Es wird uns in unserer Arbeit auf vielfältige Weise lange verfolgen. Wir müssen allerdings aufpassen, dass wir unsere eigene Welt nicht verlieren, indem wir immer auf diese beschränkte Gegenwelt reagieren.

Ist es denkbar, auf Leute der "Pegida" zuzugehen und mit ihnen etwa auf der Bürgerbühne gemeinsam Stoffe im Theater zu bearbeiten?

Schulz: Das weiß ich nicht. In erster Linie ist die Bürgerbühne ein Ort, an dem Kunst produziert wird, gesellschaftlich relevante Kunst – und nicht ein pädagogischer Ort. Ob "Pegida"-Anhänger Lust haben, sich auf der Bürgerbühne zu äußern und zu entäußern, das wage ich im Moment zu bezweifeln.

2011 richteten das Festspielhaus Hellerau und das Staatsschauspiel gemeinsam das Festival "Politik im freien Theater" der Bundeszentrale für politische Bildung aus. Das Thema lautete damals "Fremd".

Jaenicke (lacht): In weiser Voraussicht, kann man jetzt sagen.

Wie war diese Themensetzung motiviert?

Schulz: "Fremd" hieß es, aber wir waren uns alle darüber klar, dass die Abwesenheit von Fremdheit in Dresden das Thema war. Und so ist es eigentlich auch nach wie vor.

Jaenicke: Wir haben keine Selbstverständlichkeit im Umgang mit Menschen anderer Kulturen, anderer Religionen, anderer Herkunft, anderer Sitten. Wir haben ganz wenige Ausländer hier in Dresden, ganz wenige Migranten. Die Diskussion, die wir mit dem Festival damals angestoßen haben, würde heute einen ganz anderen Resonanzboden finden. Aber an und für sich hat sich weder die demographische noch die politische Situation verändert. Es hat sich plötzlich die Öffentlichkeit für dieses Thema verändert.

Schulz: Man hat hier in Dresden das Thema immer an den Wert der Arbeitskraft gebunden. Auch die Politik sagt: Wir laden "die Computer-Inder" oder die Max-Planck-Leute, wir laden die besten Leute nach Dresden ein. Man vergaß, dass es auch um Empathie geht. Das Problem von Fremdheit ist als Arbeitsmarktproblem isoliert worden.

Frustriert es Sie als Theatermacher, dass Sie mit solch einem visionären Thema den realen Resonanzboden nicht umpflügen konnten? Es heißt ja immer, Theater solle das Herz der Stadt sein. Haben Sie das Gefühl, Dresdens Herz noch zu erreichen?

Schulz: Wir haben uns ja auch in der Diskussion um den 13. Februar (den Tag des Bombenangriffs auf Dresden 1945, Anm. der Red.) stark engagiert. Und ich hatte das Gefühl, es hat sich in der Stadt etwas bewegt, Dresden sei von der Landkarte verschwunden als Identifikationsort für alle Neonazis. Und mit dieser "Pegida"-Bewegung fängt man an anderer Stelle wieder von vorne an. Ich habe gerade einen Vortrag darüber gehalten und die Beschreibung am Mythos von Sisyphos aufgehängt. Man rollt den Stein, und er rollt immer wieder runter.

dresden staatsschauspiel gegen pegida 560 twitter uFakten gegen Befürchtungspropaganda: Infotafel am Staatsschauspiel Dresden zur Pegida-Demonstration am 8. Dezember 2014 © @kathamatheis auf Twitter

Stellen Sie sich die Frage, ob Sie sich stärker in die neuen Medien, die "Pegida" nutzt, einbringen müssten? "Pegida" wirkt ja wie ein real gewordener Internet-Shitstorm.

Schulz: Wir arbeiten mit Selbstbewusstsein an unserem gesellschaftlichen und künstlerischen Auftrag. Und ich glaube, dass wir das aus uns heraus setzen müssen. Ich halte es für einen großen Fehler, dominant reaktiv zu werden. Was wir leisten können, hat mit dem Kern von Theater zu tun: eine Identitätsangebot durch intellektuelle, emotionale und physische Präsenz herzustellen.

Etwas polemisch könnte man sagen: Theater ist elitär geworden. Sie haben mit "Fremd" 2011 ein visionäres Thema gesetzt, das aber lediglich einen Teil der Stadtbevölkerung anspricht.

Schulz: Seit dem Verschwinden der Commedia dell'arte auf den Jahrmarktsplätzen und der Massenspektakel der französischen und der russischen Revolution ist Theater immer ein Medium gewesen, das der Reflexion gedient hat, aber nie die Mehrheit der Gesellschaft erreicht oder dominiert hat.

Aber Sie haben die Differenz zur Landespolitik ja vorhin selbst markiert. Und das sind doch Leute, die man normalerweise im Theater erwarten würde. Scheint es nicht so, als seien die Positionen, die Sie gesetzt haben, so recht gar nicht in die Köpfe derer gelangt, die als die Diskursträger der Stadt zu gelten haben?

Jaenicke: Wilfried Schulz und ich haben in unseren Häusern etwa zur gleichen Zeit in dieser Stadt angefangen. Gerade diese beiden Häuser, wenn auch mit unterschiedlicher Positionierung, haben geradezu kongenial ganz wichtige Kulminationspunkte von Diskurs in der Stadt, mit der Stadt und über die Stadt herausgearbeitet. Und wir sind mit manchen Themen vorweggegangen. Wir sind die realen und intellektuellen Orte, an denen sich ganz viele Menschen orientieren und an die sie sich wenden. Das ist eine ziemlich gute Erfüllung des Anspruchs, den Sie artikulieren. Wir können durch unsere Arbeit aber nicht verhindern, dass das passiert, was im Moment passiert

Schulz: Wir können auch nicht die Agenda der Politik bestimmen. Das wäre naiv.

Schiller, dessen Motto "Schönheit ist ewig nur eine – doch mannigfaltig wechselt das Schöne" das Staatsschauspiel ziert, ging durchaus davon aus.

Schulz (lacht): Aber auch Schiller ist das nicht geglückt. Es ist ja auch unsere Aufgabe, dass wir uns nicht identisch mit der politischen Entwicklung verhalten, sondern ungleichzeitig, also mal antizipieren, mal Reibungsfläche suchen. Es gibt im Moment aber tatsächlich eine große Annäherung von vielen Köpfen der bürgerlichen Gesellschaft in der Stadt. Es ist etwas Gemeinsames entstanden. Vielleicht lässt sich eine Art von Utopie daraus entwickeln.

Jaenicke: Ich habe in den sechs Jahren noch nie erlebt, dass ich so oft von Bürgermeistern, nicht nur dem für mich zuständigen Kulturbürgermeister, angerufen werde, wie in den letzten Wochen.

Herr Schulz, Sie wechseln 2016 nach Düsseldorf. Die Entscheidung fiel 2014 nach nur fünf Jahren Intendanz in Dresden. Ist das eine Flucht vor den Verhältnissen?

Schulz: Nein, überhaupt nicht. "Pegida" war noch nicht in Sicht. Im Gegenteil, eigentlich gäbe es jetzt erst recht einen Grund zu bleiben.

 

Mehr zum Thema: In unserem Blog haben wir die #nopegida-Aktionen der Theater in mehreren deutschen Städten dokumentiert.

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