Erinnerungen an Morgen

von Stefan Hulfeld

Leipzig, 2. Juli 2014.

1. Was in der Neuzeit jeweils "Leben" oder "Theater" genannt wird, trennt und verbindet zugleich eine durchlässige Membrane, die unter dem Einfluss konkreter Vorgänge und philosophischer Positionen im historischen Prozess verschoben wird. Deshalb ist auch die Rede von einem "engen" oder "weiten" Theaterbegriff fragwürdig. Theorie vermag zwar Theaterbegriffe als Norm deklarieren; SpezialistInnen des Alltags und Theaterschaffende beziehen aber Energie stets daraus, solche Normen zu hintergehen.

2. Die deutschsprachige Theaterwissenschaft hat sich von der positivistischen Theatergeschichte abgewendet und dabei die Beschäftigung mit Gegenwartstheater, Theaterästhetik oder -theorie von der historiographischen Kompetenz abgekoppelt. Dieser avantgardistische Gestus verkennt, dass selbst absichtsvoll geschichtsvergessene Gedanken- und Theaterexperimente der historischen Logik nicht entkommen.

3. Daraus resultiert, dass Theaterhistoriographie die Basis des Wissens über Theater sichert, weil die Axiome dieses Wissens der Historisierung bedürfen.

4. "Junger Mann [...] Ich mag kein wildes Kraut in meinem Haus, auch keine Möbel, die aus dem Leim sind.
Alter Mann Genau. Auch keine Möbel aus dem Leim, denn man muss sich erinnern, aber ...
Junger Mann Aber an lebendige Dinge, im Feuer ihres Blutes, und alle Konturen unversehrt.
Alter Mann Sehr richtig! Das heißt, man muss sich erinnern, aber im Voraus erinnern.
Junger Mann Im Voraus?
Alter Mann Ja, man muss sich an morgen erinnern."
(Federico Garcia Lorca: Sobald fünf Jahre vergehen, 1931, Übersetzung Thomas Brovot)

eule-athen wikimediaManchmal muss man Eulen nach Athen
tragen – Eule auf einer Drachme, nach
449 v. Chr. © wikimedia
5. In der Entwicklung "neuer" Formen sind historische Rückgriffe stets relevant und zwar unabhängig von der Frage, ob dies durch die intentionale Rückeroberung von Traditionen oder durch die explizite Ablehnung jeglicher Tradition geschieht. TheaterkünstlerInnen haben dabei den Vorteil, dass Missverständnisse und Halbwissen theaterpraktisch genau so produktiv sein können wie genaue und breite Kenntnisse. Historisch informierte VertreterInnen akademischer Theaterforschung sind hingegen gefordert, Bezüge zu traditionellen Theaterformen, welcher Art auch immer, genau problematisieren zu können.

6. Das in mehrbändigen Theatergeschichtswerken aufgehobene Theatergeschichtsbild bedarf der Revision und der kontinuierlichen Fortschreibung. Das ist seit Jahrzehnten ein allgemein geteiltes Credo, das mit methodologischer Reflexion allein jedoch nicht umzusetzen ist. Denn es bedarf auch der Grundlagenforschung inklusive Archiv- und Editionsarbeit, für die unter den Bedingungen universitärer Lean Production zunehmend die Zeit fehlt. Theaterhistoriographisches Arbeiten ist aber nun mal zeitaufwändig, wenn es neues Material und damit ungewohnte Zusammenhänge sowie Fragen erschließt.

7. Eulen nach Athen zu tragen, macht Sinn, wenn Kader in Athen die Eulen jagen. Bei den "Leipziger Beiträgen zur Theatergeschichtsforschung" oder der Monographie "Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs" handelt es sich um zeitaufwändig erarbeitete Werke, in denen sich eine differenzierte Geschichtssicht auf die Moderne eröffnet. Diese historiographische Basis einer (Leipziger) Theaterwissenschaft manifestiert sich mit erheblicher Verzögerung in akademischen "esteem factors" oder "citation indices", aber die Relevanz der Geisteswissenschaften liegt nun einmal in ihrer Differenziertheit sowie im Freiraum hinsichtlich der Verwertbarkeit ihrer Erkenntnisse, womit sie sich im Feld reduktionistischer Globalerklärungen und quantifizierender Verwertungslogik profilieren.

 

hulfeld uStefan Hulfeld ist Professor für Theaterwissenschaft am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Veröffentlichungen: Zähmung der Masken, Wahrung der Gesichter. Theater und Theatralität in Solothurn 1700–1798 (Chronos, 2000); Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis. Wie Wissen über Theater entsteht (Chronos, 2007); Modernist Theatre. In: Wiles/Dymkowski (Ed.): Cambridge Companion to Theatre History (CUP, 2013); Scenari più scelti d'istrioni. Italienisch-Deutsche Edition der einhundert Commedia all'improvviso-Szenarien aus der Sammlung Corsiniana (Vandenhoeck & Ruprecht, 2014).

 

Diese Thesen sind die Kurzfassung eines Vortrages, den Stefan Hulfeld im Rahmen der Ringvorlesung Theaterwissenschaft: Aus Tradition Grenzen überschreiten am 2. Juli 2014 an der Universität Leipzig hält. Die Ringvorlesung findet aus Anlass des 20-jährigen Jubiläums des Instituts für Theaterwissenschaft Leipzig statt. Dem Institut droht die Schließung. Das Programm der Ringvorlesung finden Sie hier.

Weitere Thesen: Matthias Warstat hat sich mit der Protestform der direkten Aktion befasst, Christopher Balme mit der globalen Theatergeschichte, Andreas Kotte mit der Zukunft der Theatergeschichtsschreibung und Nikolaus Müller-Schöll mit dem "posttraumatischen Theater" und der Darstellung der Undarstellbarkeit.

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