Performance, Technologie und "tragische Individualisierung"

von Wolf-Dieter Ernst

Leipzig, 16. Juli 2014. Theaterbegriffe wie "Inszenierung", "Katastrophe" und "Tragik" sind "grenzüberschreitend" gebräuchlich und prägen unter andrem Ulrich Becks soziologische Theorie der Weltrisikogesellschaft. Becks Theorie in Kürze: Die selbst-reflexive Moderne inszeniert globale Risiken, worunter er abzuwehrende Katastrophen versteht. Dieser Inszenierungsprozess verlaufe paradox, sodass Risiken gerade dann entstehen, wenn sie zuvor mit technischen Mitteln minimiert werden sollen. Dieser Inszenierungsprozess führe auf seiner Rückseite zur "tragischen Individualisierung". Das heißt, einige wenige profitieren von der Minimierung inszenierter Risiken, während viele auf sich selbst zurückgeworfen sind und die teilweise dramatischen Folgen des Risikomanagements tragen müssen.

Becks Beobachtung kann man am nuklearen Unfall 2011 in Japan anschaulich machen. Nukleare Energie ist eine Technologie der selbstreflexiven Moderne. Der Versuch, die Risiken des Energiemangels zu minimieren, produziert in diesem Fall erst das hohe Risiko nuklearer Verwüstung. Auf der Rückseite führt dies zu "tragischer Individualisierung" und übersteigt – wie die Tragödie – jedes menschliche Maß. Als Ergebnis dieser Risikoinszenierung wird nach Beck der Unfall als Katastrophe wahrgenommen: Die Techniker, Politiker und Rettungskräfte in Fukushima waren nicht in der Lage, eine Katastrophe zu verhindern oder zu minimieren. Sie konnten die Bewohner nicht angemessen informieren und schützen, gerade weil sie sich zuvor auf die Inszenierung von Vertrauen ("Restrisiko") verlassen haben.

Der Begriff der "Weltrisikogesellschaft" setzt eine zu enge Verbindung von Technologie, Simulation und Risiko voraus, ohne den Inszenierungsprozess selbst auf mögliche Alternativen hin zu befragen. Die Kritik in Kürze: Beck analysiert nur Inszenierungseffekte von Technologie; Theaterwissenschaftler hingegen analysieren Inszenierungen als eine Technik und umgekehrt Technik als eine Inszenierung. Dieses reziproke Verhältnis ist an experimentellen Theaterformen ("künstlerische Performance") von Burden, Stelarc, Yes Man u. a. aufzuzeigen, um nicht einfach von "Opfern der Technologie" sprechen zu müssen:

  • Chris Burden in "Prelude 220, or 110". Der Künstler inszeniert sich in der Haltung der möglichen "tragischen Individualisierung" durch ein technisches Risiko, den Stromschlag. Der Betrachter muss dafür Sorge tragen, dass dem Künstler nichts geschieht, indem er sein Wissen um die Standardisierung und Unsichtbarkeit der (Haushalts-) Technik "Strom" aktiviert. Damit werden soziale und machtpolitische Standardisierungsprozesse als entscheidender Faktor des technologischen Denkens in Frage gestellt.

  • Stelarc mit "Rock Suspension". Hier schlägt der Gebrauch von Technologie in Missbrauch um, indem die Mittel-Zweck Relation das menschliche Maß performativ übersteigt. Stelarc dehnt die Haut im Stil einer Zerreißprobe, macht sich zum physischen Objektkörper ähnlich einem Kontergewicht. Der durch Schmerz affizierte Leib bildet dabei das Abwesende dieser Inszenierung. So entsteht eine Leerstelle in Betrachtung, die der Zuschauer füllt. Er oder sie selbst nehmen imaginär die Position der "tragischen Individualisierung" ein.

  • Yes Man mit "Dow does the right thing". In ihrer Inszenierungsstrategie eignet sich die Gruppe von Netzaktivisten technische Kommunikationsformate an, um eine Gegenöffentlichkeit zu produzieren. So wird die Rede von der "tragischen Individualisierung" als Inszenierung technischer Verbreitungsmedien und technisch-ökonomischer Optimierung ersichtlich. In radikaler Weise werden durch die Aktion die Opfer temporär aus der starren Position der "tragischen Individualisierung" herausgelöst. Ihre Selbstaussage, sie fühlten sich durch den Medienschwindel nicht vorgeführt, macht deutlich, dass sie durch die performative Intervention temporär die Handlungsmacht erlangen, die ihnen zuvor abgesprochen wurde.

Die drei Inszenierungsstrategien machen deutlich, dass es im Modus der Performance aktive Alternativen zur soziologischen Bewertung von Technologie und Risiko gibt. Künstler ahnen nicht nur, dass sich im Umgang mit Technologie Mittel-Zweck Denken mit alternativen Bewertungen von Angst, Lust, Vertrauen und Risiko mischen. Sie zeigen performativ Auswege aus der passiven und ohnmächtigen Situation des Menschen in der Bewertung von Technologie, in die sich eine von Beck als selbst-reflexiv beschriebene Moderne gebracht hat. Die "Wandlung des Zuschauers hin zum Zeugen" hat hier ihre politische Wirksamkeit. So kann experimentelles Theater als Ort der Reflexion von Gesellschaft und eines ihrer zentralen Bausteine, der "Technologie", fungieren.

 

ernst wolfdieterWolf-Dieter Ernst ist seit 2010 Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Bayreuth. Seine Arbeitsschwerpunkte: Schauspieltheorie- und geschichte, Performance Kunst, Installation, Video- und Netzkunst sowie Intermedialität und Dramaturgie des Gegenwartstheaters. Veröffentlichungen u.a.: Performance der Schnittstelle. Theater unter Medienbedingungen (Passagen Verlag Wien 2003); Der affektive Schauspieler. Die Energetik des Postdramatischen Theaters. (Theater der Zeit Berlin 2012); zus. m. Anno Mungen, Nora Niethammer, Berenika Szymanski-Düll: Sound und Performance. Positionen – Methoden – Analysen (Königshausen und Neumann Würzburg 2014).

 

Diese Thesen sind die Kurzfassung eines Vortrages, den Wolf-Dieter Ernst im Rahmen der Ringvorlesung Theaterwissenschaft: Aus Tradition Grenzen überschreiten am 16. Juli 2014 an der Universität Leipzig hält. Die Ringvorlesung findet aus Anlass des 20-jährigen Jubiläums des Instituts für Theaterwissenschaft Leipzig statt. Dem Institut droht die Schließung. Das Programm der Ringvorlesung finden Sie hier.

Weitere Thesen: Matthias Warstat hat sich mit der Protestform der direkten Aktion befasst, Christopher Balme mit eine globalen Theatergeschichte, Andreas Kotte mit der Zukunft der Theatergeschichtsschreibung, Nikolaus Müller-Schöll mit dem "posttraumatischen Theater" und der Darstellung der Undarstellbarkeit, Stefan Hulfeld mit Theaterhistoriographie, Gerda Baumbach mit Akteuren als Erzählerfiguren, Friedemann Kreuder mit Fragen der Differenzforschung, Ulf Otto mit dem Wandel vom Schauen zum Mitmachen, Güther Heeg mit dem Transkulturellen Theater und Patrick Primavesi mit Praxis und Theorie der Überschreitung.

Performance, Technologie und "tragische Individualisierung"

von Wolf-Dieter Ernst

Leipzig, 16. Juli 2014. Theaterbegriffe wie "Inszenierung", "Katastrophe" und "Tragik" sind "grenzüberschreitend" gebräuchlich und prägen unter andrem Ulrich Becks soziologische Theorie der Weltrisikogesellschaft. Becks Theorie in Kürze: Die selbst-reflexive Moderne inszeniert globale Risiken, worunter er abzuwehrende Katastrophen versteht. Dieser Inszenierungsprozess verlaufe paradox, sodass Risiken gerade dann entstehen, wenn sie zuvor mit technischen Mitteln minimiert werden sollen. Dieser Inszenierungsprozess führe auf seiner Rückseite zur "tragischen Individualisierung". Das heißt, einige wenige profitieren von der Minimierung inszenierter Risiken, während viele auf sich selbst zurückgeworfen sind und die teilweise dramatischen Folgen des Risikomanagements tragen müssen.

Becks Beobachtung kann man am nuklearen Unfall 2011 in Japan anschaulich machen. Nukleare Energie ist eine Technologie der selbstreflexiven Moderne. Der Versuch, die Risiken des Energiemangels zu minimieren, produziert in diesem Fall erst das hohe Risiko nuklearer Verwüstung. Auf der Rückseite führt dies zu "tragischer Individualisierung" und übersteigt – wie die Tragödie – jedes menschliche Maß. Als Ergebnis dieser Risikoinszenierung wird nach Beck der Unfall als Katastrophe wahrgenommen: Die Techniker, Politiker und Rettungskräfte in Fukushima waren nicht in der Lage, eine Katastrophe zu verhindern oder zu minimieren. Sie konnten die Bewohner nicht angemessen informieren und schützen, gerade weil sie sich zuvor auf die Inszenierung von Vertrauen ("Restrisiko") verlassen haben.

Der Begriff der "Weltrisikogesellschaft" setzt eine zu enge Verbindung von Technologie, Simulation und Risiko voraus, ohne den Inszenierungsprozess selbst auf mögliche Alternativen hin zu befragen. Die Kritik in Kürze: Beck analysiert nur Inszenierungseffekte von Technologie; Theaterwissenschaftler hingegen analysieren Inszenierungen als eine Technik und umgekehrt Technik als eine Inszenierung. Dieses reziproke Verhältnis ist an experimentellen Theaterformen ("künstlerische Performance") von Burden, Stelarc, Yes Man u. a. aufzuzeigen, um nicht einfach von "Opfern der Technologie" sprechen zu müssen:

Die drei Inszenierungsstrategien machen deutlich, dass es im Modus der Performance aktive Alternativen zur soziologischen Bewertung von Technologie und Risiko gibt. Künstler ahnen nicht nur, dass sich im Umgang mit Technologie Mittel-Zweck Denken mit alternativen Bewertungen von Angst, Lust, Vertrauen und Risiko mischen. Sie zeigen performativ Auswege aus der passiven und ohnmächtigen Situation des Menschen in der Bewertung von Technologie, in die sich eine von Beck als selbst-reflexiv beschriebene Moderne gebracht hat. Die "Wandlung des Zuschauers hin zum Zeugen" hat hier ihre politische Wirksamkeit. So kann experimentelles Theater als Ort der Reflexion von Gesellschaft und eines ihrer zentralen Bausteine, der "Technologie", fungieren.

 

ernst wolfdieterWolf-Dieter Ernst ist seit 2010 Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Bayreuth. Seine Arbeitsschwerpunkte: Schauspieltheorie- und geschichte, Performance Kunst, Installation, Video- und Netzkunst sowie Intermedialität und Dramaturgie des Gegenwartstheaters. Veröffentlichungen u.a.: Performance der Schnittstelle. Theater unter Medienbedingungen (Passagen Verlag Wien 2003); Der affektive Schauspieler. Die Energetik des Postdramatischen Theaters. (Theater der Zeit Berlin 2012); zus. m. Anno Mungen, Nora Niethammer, Berenika Szymanski-Düll: Sound und Performance. Positionen – Methoden – Analysen (Königshausen und Neumann Würzburg 2014).

 

Diese Thesen sind die Kurzfassung eines Vortrages, den Wolf-Dieter Ernst im Rahmen der Ringvorlesung Theaterwissenschaft: Aus Tradition Grenzen überschreiten am 16. Juli 2014 an der Universität Leipzig hält. Die Ringvorlesung findet aus Anlass des 20-jährigen Jubiläums des Instituts für Theaterwissenschaft Leipzig statt. Dem Institut droht die Schließung. Das Programm der Ringvorlesung finden Sie hier.

Weitere Thesen: Matthias Warstat hat sich mit der Protestform der direkten Aktion befasst, Christopher Balme mit eine globalen Theatergeschichte, Andreas Kotte mit der Zukunft der Theatergeschichtsschreibung, Nikolaus Müller-Schöll mit dem "posttraumatischen Theater" und der Darstellung der Undarstellbarkeit, Stefan Hulfeld mit Theaterhistoriographie, Gerda Baumbach mit Akteuren als Erzählerfiguren, Friedemann Kreuder mit Fragen der Differenzforschung, Ulf Otto mit dem Wandel vom Schauen zum Mitmachen, Güther Heeg mit dem Transkulturellen Theater und Patrick Primavesi mit Praxis und Theorie der Überschreitung.

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