Theater als ästhetisches Dispositiv

von Gerald Siegmund

Leipzig, 16. Juli 2014.

1. Theater ist der Ort, an dem Hören und Sehen aufeinander bezogen, Stimme und Blick inszeniert werden sowie Körper und Sprache miteinander in Berührung kommen, um etwas zu produzieren: Gefühle und Affekte, Erkenntnisse und Erfahrungen.

2. Theater ist demnach ein Dispositiv der Wahrnehmung. Theater ist ein aisthetisches und ein ästhetisches Dispositiv, und die Theaterwissenschaft, so wie ich sie verstehe, muss das Ästhetische am Dispositiv ernst nehmen und zu ihrem Gegenstand machen. Dazu tritt sie, grenzüberschreitend, häufig in Auseinandersetzung mit anderen Disziplinen wie der Soziologie. Wie das Theater ist sie doch selbst auch Teil eines gesellschaftlichen Dispositivs, das sie gestaltet, reguliert und hervorbringt.

3. Für Foucault, der den Begriff in der zweiten Hälfte der 1970er Jahren entwickelt hat, ist ein Dispositiv zunächst ein heterogenes Ensemble aus diskursiven und nicht-diskursiven Phänomenen. Ein Dispositiv wie das der Kontrolle etabliert sich, um strategisch ein gesellschaftliches Problem zu lösen.

4. Theater als Dispositiv zu betrachten, würde demnach vor allem heißen, es als Resultat und Antwort eines gesellschaftlichen Problems zu begreifen. Dispositiv als Konzept erlaubt es, gesellschaftliche Produktion von Subjekten und künstlerische Produktion von Subjekten im Theater aufeinander bezogen zu denken, wobei dem ästhetischen Dispositiv eine andere, zusätzliche Funktion zu kommen muss, will es nicht identisch werden mit den gesellschaftlichen Konstellationen, die es aufgreift und wiederholt, um damit als Theater zu verschwinden. Theater als ästhetisches Dispositiv besteht ebenfalls aus produzierenden-regulierenden Techniken wie Schauspiel- und Tanztechniken, die ein Schauspieler oder Tänzer durch Proben und Üben erlernt, um kompetent im Dispositiv zu funktionieren. Doch wäre Theater nur ein Einüben von auf Normierung zielendem Verhalten, würden wir wohl kaum hingehen. Anstatt die ästhetische Funktion von Theater also vorschnell als veraltet und an einer idealistischen Ästhetik anhängend aufzugeben, geht es mir hier darum, das Ästhetische als spezifische Leistung im theatralen Dispositiv der Gegenwart zu bestimmen.

5. Wenn das Theater als ein gesellschaftliches Dispositiv zur Subjektivierung betrachtet werden kann, findet dies seit dem bürgerlichen Theaters des späten 18. Jahrhunderts nach wie vor auf der Grundlage von ausgetauschten Blicken und gegenseitiger Beobachtung statt. Was Rousseau exemplarisch für das Problem der sich konstituierenden bürgerlichen Gesellschaft formuliert, wird für Niklas Luhmann zur Grundlage von Gesellschaft. Worauf sich Gesellschaft und gesellschaftliche Kommunikation letztlich gründen sind Beobachtungsverhältnisse, das Beobachten des Beobachters als Beobachten zweiten Grades. Aus dieser Nähe zu im engeren Sinn nicht-ästhetischen Phänomenen, die dann in umgekehrter Blickrichtung theatralisiert und inszeniert werden können, hat die Theaterwissenschaft unter den Paradigmen der Performativität und der Theatralität in den vergangenen fünfzehn Jahren verstärkt Kapital geschlagen, indem sie ihr Tätigkeitsfeld radikal entgrenzt und damit soziologischen Studien etwa zur Inszenierungsgesellschaft in ihre Nähe gerückt hat.

6. Theaterwissenschaft darf meines Erachtens nicht dabei stehen bleiben, diesen performativen Konstitutionsprozess von Gesellschaft und ihren Subjekten zu beschreiben, also anderen Disziplinen wie der Soziologie die theatralen Wurzeln ihres Subjektbegriffs nachzutragen. Sie müsste vielmehr danach fragen, was der spezifische Beitrag szenischer und im weitesten Sinne theatraler Vorgänge in der Auseinandersetzung mit einem über- und unterdeterminierten gesellschaftlichen Dispositiv sein könnte.

7. Für Giorgio Agamben, der Foucaults Dispositivbegriff aufgreift, dient das Beispiel des Mobiltelefons, das die Beziehungen der Menschen untereinander noch abstrakter gemacht habe, als Ausweis der Destruktion von Subjektivität, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet hat. Durch ein neues Dispositiv und damit durch neue Technologien des Selbst im doppelten Sinne von Selbstpraktiken und technischen Geräten wie Handys wird das Subjekt desintegriert und zu einer gespenstischen Hülle. Vor diesem Hintergrund erscheint Theater als Antwort auf die "Pest der Phantasmen" (Slavoj Zizek) unserer neo-liberalen digitalisierten Mediengesellschaft. Regisseure wie Frank Castorf, René Pollesch, Michael Thalheimer oder Nicolas Stemann fügen in das Dispositiv der Selbsttechnologie, das sich durch den Zusammenfall von Imaginärem und Realem auszeichnet, spielend wieder Abstände eint, reißen Lücken und Leerstellen, die sowohl den Schauspielern als auch den Zuschauern Freiräume schaffen im Spiel und in der Beobachtung des Spiels. Die Grenzüberschreitung des Ästhetischen ist eine, wie der Philosoph Christoph Menke es schreibt, die uns das verlernen lässt, was wir als soziale Subjekte eingeübt haben.

8. Eine Theaterwissenschaft erscheint mit ihrem Gegenstand als Ort des Erscheinens von Körpern, Stimmen und Blicken. Im Nachdenken über die eigene ästhetische Erfahrung im Theater gilt es mithin, diese Abwesenheiten, die Leerstellen, Brüche, Risse und Zäsuren aufzuspüren und zur Sprache zu bringen. Dieses Nachdenken impliziert, dass ich aktuelle Kontexte einspeise wie ich es eben am Beispiel zeitgenössischer Subjektivierung getan habe, Kontexte, mit denen im Theater gespielt wird, um sie unentscheidbar und vielleicht sogar unkontrollierbar zu machen. Theaterwissenschaft betreiben hieße, Begriffe oder Konzepte zu finden, die das Spiel beschreiben, das "Als Etwas", als das es erscheint, genauer unter die Lupe zu nehmen, um den Einsatz des Spiels kenntlich machen.

 

siegmund geraldGerald Siegmund ist Professor für Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Theatertheorie, Ästhetik, Entwicklungen im zeitgenössischen Tanz und im postdramatischen Theater im Übergang zur Performance und zur bildenden Kunst. Veröffentlichungen u.a.: William Forsythe – Denken in Bewegung im Henschel Verlag, Berlin, sowie "Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes – William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart" im transcript Verlag, Bielefeld. Zuletzt herausgegeben zusammen mit Petra Bolte-Picker "Theater : Subjekt. Beiträge zur analytischen Theatralität bei Peter Lang sowie zusammen mit Stefan Hölscher "Dance Politics, and Co-Immunity" bei diapahnes.

 

Diese Thesen sind die Kurzfassung eines Vortrages, den Gerald Siegmund im Rahmen der Ringvorlesung Theaterwissenschaft: Aus Tradition Grenzen überschreiten am 16. Juli 2014 an der Universität Leipzig hält. Die Ringvorlesung findet aus Anlass des 20-jährigen Jubiläums des Instituts für Theaterwissenschaft Leipzig statt. Dem Institut droht die Schließung. Das Programm der Ringvorlesung finden Sie hier.

Weitere Thesen: Matthias Warstat hat sich mit der Protestform der direkten Aktion befasst, Christopher Balme mit eine globalen Theatergeschichte, Andreas Kotte mit der Zukunft der Theatergeschichtsschreibung, Nikolaus Müller-Schöll mit dem "posttraumatischen Theater" und der Darstellung der Undarstellbarkeit, Stefan Hulfeld mit Theaterhistoriographie, Gerda Baumbach mit Akteuren als Erzählerfiguren, Friedemann Kreuder mit Fragen der Differenzforschung, Ulf Otto mit dem Wandel vom Schauen zum Mitmachen, Güther Heeg mit dem Transkulturellen Theater und Patrick Primavesi mit Praxis und Theorie der Überschreitung.

Theater als ästhetisches Dispositiv

von Gerald Siegmund

Leipzig, 16. Juli 2014.

1. Theater ist der Ort, an dem Hören und Sehen aufeinander bezogen, Stimme und Blick inszeniert werden sowie Körper und Sprache miteinander in Berührung kommen, um etwas zu produzieren: Gefühle und Affekte, Erkenntnisse und Erfahrungen.

2. Theater ist demnach ein Dispositiv der Wahrnehmung. Theater ist ein aisthetisches und ein ästhetisches Dispositiv, und die Theaterwissenschaft, so wie ich sie verstehe, muss das Ästhetische am Dispositiv ernst nehmen und zu ihrem Gegenstand machen. Dazu tritt sie, grenzüberschreitend, häufig in Auseinandersetzung mit anderen Disziplinen wie der Soziologie. Wie das Theater ist sie doch selbst auch Teil eines gesellschaftlichen Dispositivs, das sie gestaltet, reguliert und hervorbringt.

3. Für Foucault, der den Begriff in der zweiten Hälfte der 1970er Jahren entwickelt hat, ist ein Dispositiv zunächst ein heterogenes Ensemble aus diskursiven und nicht-diskursiven Phänomenen. Ein Dispositiv wie das der Kontrolle etabliert sich, um strategisch ein gesellschaftliches Problem zu lösen.

4. Theater als Dispositiv zu betrachten, würde demnach vor allem heißen, es als Resultat und Antwort eines gesellschaftlichen Problems zu begreifen. Dispositiv als Konzept erlaubt es, gesellschaftliche Produktion von Subjekten und künstlerische Produktion von Subjekten im Theater aufeinander bezogen zu denken, wobei dem ästhetischen Dispositiv eine andere, zusätzliche Funktion zu kommen muss, will es nicht identisch werden mit den gesellschaftlichen Konstellationen, die es aufgreift und wiederholt, um damit als Theater zu verschwinden. Theater als ästhetisches Dispositiv besteht ebenfalls aus produzierenden-regulierenden Techniken wie Schauspiel- und Tanztechniken, die ein Schauspieler oder Tänzer durch Proben und Üben erlernt, um kompetent im Dispositiv zu funktionieren. Doch wäre Theater nur ein Einüben von auf Normierung zielendem Verhalten, würden wir wohl kaum hingehen. Anstatt die ästhetische Funktion von Theater also vorschnell als veraltet und an einer idealistischen Ästhetik anhängend aufzugeben, geht es mir hier darum, das Ästhetische als spezifische Leistung im theatralen Dispositiv der Gegenwart zu bestimmen.

5. Wenn das Theater als ein gesellschaftliches Dispositiv zur Subjektivierung betrachtet werden kann, findet dies seit dem bürgerlichen Theaters des späten 18. Jahrhunderts nach wie vor auf der Grundlage von ausgetauschten Blicken und gegenseitiger Beobachtung statt. Was Rousseau exemplarisch für das Problem der sich konstituierenden bürgerlichen Gesellschaft formuliert, wird für Niklas Luhmann zur Grundlage von Gesellschaft. Worauf sich Gesellschaft und gesellschaftliche Kommunikation letztlich gründen sind Beobachtungsverhältnisse, das Beobachten des Beobachters als Beobachten zweiten Grades. Aus dieser Nähe zu im engeren Sinn nicht-ästhetischen Phänomenen, die dann in umgekehrter Blickrichtung theatralisiert und inszeniert werden können, hat die Theaterwissenschaft unter den Paradigmen der Performativität und der Theatralität in den vergangenen fünfzehn Jahren verstärkt Kapital geschlagen, indem sie ihr Tätigkeitsfeld radikal entgrenzt und damit soziologischen Studien etwa zur Inszenierungsgesellschaft in ihre Nähe gerückt hat.

6. Theaterwissenschaft darf meines Erachtens nicht dabei stehen bleiben, diesen performativen Konstitutionsprozess von Gesellschaft und ihren Subjekten zu beschreiben, also anderen Disziplinen wie der Soziologie die theatralen Wurzeln ihres Subjektbegriffs nachzutragen. Sie müsste vielmehr danach fragen, was der spezifische Beitrag szenischer und im weitesten Sinne theatraler Vorgänge in der Auseinandersetzung mit einem über- und unterdeterminierten gesellschaftlichen Dispositiv sein könnte.

7. Für Giorgio Agamben, der Foucaults Dispositivbegriff aufgreift, dient das Beispiel des Mobiltelefons, das die Beziehungen der Menschen untereinander noch abstrakter gemacht habe, als Ausweis der Destruktion von Subjektivität, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet hat. Durch ein neues Dispositiv und damit durch neue Technologien des Selbst im doppelten Sinne von Selbstpraktiken und technischen Geräten wie Handys wird das Subjekt desintegriert und zu einer gespenstischen Hülle. Vor diesem Hintergrund erscheint Theater als Antwort auf die "Pest der Phantasmen" (Slavoj Zizek) unserer neo-liberalen digitalisierten Mediengesellschaft. Regisseure wie Frank Castorf, René Pollesch, Michael Thalheimer oder Nicolas Stemann fügen in das Dispositiv der Selbsttechnologie, das sich durch den Zusammenfall von Imaginärem und Realem auszeichnet, spielend wieder Abstände eint, reißen Lücken und Leerstellen, die sowohl den Schauspielern als auch den Zuschauern Freiräume schaffen im Spiel und in der Beobachtung des Spiels. Die Grenzüberschreitung des Ästhetischen ist eine, wie der Philosoph Christoph Menke es schreibt, die uns das verlernen lässt, was wir als soziale Subjekte eingeübt haben.

8. Eine Theaterwissenschaft erscheint mit ihrem Gegenstand als Ort des Erscheinens von Körpern, Stimmen und Blicken. Im Nachdenken über die eigene ästhetische Erfahrung im Theater gilt es mithin, diese Abwesenheiten, die Leerstellen, Brüche, Risse und Zäsuren aufzuspüren und zur Sprache zu bringen. Dieses Nachdenken impliziert, dass ich aktuelle Kontexte einspeise wie ich es eben am Beispiel zeitgenössischer Subjektivierung getan habe, Kontexte, mit denen im Theater gespielt wird, um sie unentscheidbar und vielleicht sogar unkontrollierbar zu machen. Theaterwissenschaft betreiben hieße, Begriffe oder Konzepte zu finden, die das Spiel beschreiben, das "Als Etwas", als das es erscheint, genauer unter die Lupe zu nehmen, um den Einsatz des Spiels kenntlich machen.

 

siegmund geraldGerald Siegmund ist Professor für Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Theatertheorie, Ästhetik, Entwicklungen im zeitgenössischen Tanz und im postdramatischen Theater im Übergang zur Performance und zur bildenden Kunst. Veröffentlichungen u.a.: William Forsythe – Denken in Bewegung im Henschel Verlag, Berlin, sowie "Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes – William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart" im transcript Verlag, Bielefeld. Zuletzt herausgegeben zusammen mit Petra Bolte-Picker "Theater : Subjekt. Beiträge zur analytischen Theatralität bei Peter Lang sowie zusammen mit Stefan Hölscher "Dance Politics, and Co-Immunity" bei diapahnes.

 

Diese Thesen sind die Kurzfassung eines Vortrages, den Gerald Siegmund im Rahmen der Ringvorlesung Theaterwissenschaft: Aus Tradition Grenzen überschreiten am 16. Juli 2014 an der Universität Leipzig hält. Die Ringvorlesung findet aus Anlass des 20-jährigen Jubiläums des Instituts für Theaterwissenschaft Leipzig statt. Dem Institut droht die Schließung. Das Programm der Ringvorlesung finden Sie hier.

Weitere Thesen: Matthias Warstat hat sich mit der Protestform der direkten Aktion befasst, Christopher Balme mit eine globalen Theatergeschichte, Andreas Kotte mit der Zukunft der Theatergeschichtsschreibung, Nikolaus Müller-Schöll mit dem "posttraumatischen Theater" und der Darstellung der Undarstellbarkeit, Stefan Hulfeld mit Theaterhistoriographie, Gerda Baumbach mit Akteuren als Erzählerfiguren, Friedemann Kreuder mit Fragen der Differenzforschung, Ulf Otto mit dem Wandel vom Schauen zum Mitmachen, Güther Heeg mit dem Transkulturellen Theater und Patrick Primavesi mit Praxis und Theorie der Überschreitung.

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