Gemeinsam allein

von Hartmut Krug

Cottbus, 3. März 2013. Sie sitzen, sie gehen, sie stehen. Und sie reden. Von ihrer Haltung zur Welt, von der Welt als philosophischer Vorstellung. Aber auch vom Geld, das sie nicht haben oder verschleudern. Und sie wissen, dass etwas sich ändern wird. Ja, sogar davon, jedenfalls die Jüngeren, dass sie selbst sich werden ändern müssen. Aber das tun sie nicht, sie tun eigentlich gar nichts, sondern sind fast alle nur folgenlos geschäftig.

Drama für die Bankenkrise

Anton Tschechows letztes Stück "Der Kirschgarten" hat unzählige deutschsprachige, auch große Inszenierungen erlebt. Seine Komödie der Erinnerungen und Hoffnungen, seine heiter-schmerzliche Elegie auf eine untergehende Gesellschaft, sein Bild einer Gruppe von Menschen, die auf einem von Versteigerung bedrohtem Gut einen Zeitenwechsel in ihren menschlichen Beziehungen durchahnen, erscheint in unserer von Bankenkrisen, Verschuldungen und sozialen Ängsten bestimmten Zeit noch öfter als sonst auf den Spielplänen. Denn im "Kirschgarten" geht es um Geld und Gefühle.

Die aus Paris von einer gescheiterten Liebe zurückgekehrte Gutsbesitzerin Ranjewskaja, die dort ihr Vermögen aufgezehrt hat, wirft das Geld, das sie längst nicht mehr besitzt, zum Fenster heraus. Ihr auf dem Gut lebender Bruder ist von der Sucht nach Bonbons und Billard beherrscht und träumt von absurden ökonomischen Hilfsmanövern. Der benachbarte Gutsbesitzer Pischtschick ist ständig auf Anpump-Tour. Und die Liebe, na ja, die klappt sowieso nicht recht. Weder beim Stubenmädchen, noch bei der Adoptivtochter der Ranjewskaja oder bei ihr selbst.

Auf dem historischen Präsentierteller

Peter Brook hat gesagt, bei Tschechow "lebt jede Person ihr eigenes Leben, keine Person gleicht der anderen, vor allem im 'Kirschgarten', der aus historischer und politischer Sicht einen Mikrokosmos der Strömungen jener Zeit darstellt." Genau das ist nicht das Problem des Stückes, sondern das der Cottbusser Inszenierung. Denn der in den 1970ern Jahren lange am Berliner Ensemble tätige Regisseur Peter Kupke, von dem man sicher keine über ein psychologisch-realistisches Erzähltheater hinausgehende Inszenierung erwarten konnte, präsentiert nur ein großes Figurenpanorama, ohne dessen Figuren wirklich miteinander in Beziehung zu bringen.

kirschgarten 560 marlieskross uMit Rettungsschirm: Der Immobilienspekulant Lopachin (Thomas Harms) und die Schuldenmacher Ranjewskaja (Sigrun Fischer) und Gajew (Oliver Breite) © Marlies Kross

In einem riesigen, heruntergekommenen Salon mit vielen Türen und hoch gewölbter Decke über abgeschabten Wänden im verwaschenem Braun, die manchmal in giftigem, dunklen Grün leuchten, präsentieren uns Regisseur Kupke und sein Ausstatter Thomas Lorenz-Herting die Figuren in wunderschönen Kostümen auf dem historischen Präsentierteller der Entstehungszeit des Stückes um 1904. Der Raum öffnet sich weit nach vorn. Zwischen halbhohen Dekorationssäulen mit Kerzen führen ein paar Stufen hinab auf die Vorbühne. Wer hier Kontakt zu anderen aufnehmen will, muss nicht nur inneren, sondern auch viel äußeren Raum überwinden und orientiert sich schon mal eher frontal, zum Publikum. Beziehungsbilder entstehen so kaum, allenfalls Gruppenpanoramen.

Jeder Schauspieler kämpft vor allem für die Individualität seiner Figur. Dadurch läuft die Inszenierung oft merkwürdig leer, selbst wenn die Darsteller durchgehend überzeugend und sorgfältig ihre Rollen bauen. Aber die Inszenierung lebt nicht, sie demonstriert Figuren. Gespielt wird eine Übersetzung von Eugen Ruge, die, anders als die mittlerweile zumeist verwendete von Thomas Brasch, keine kräftigen Akzente setzt.

Tanz durch den weiten Raum

Wunderbar immerhin der Beginn, wenn die Gesellschaft mit den am Bahnhof Abgeholten, der Gutsbesitzerin nebst Bedienten und ihrer Tochter, aus dem Orchestergraben auf die Bühne stürmt. Sigrun Fischer zeigt als Gutsbesitzerin Ranjewskaja eine überschäumende Freude, die ihr nicht nur in die Mimik, sondern auch in den Körper fährt. Sie tobt mit ihrem Bruder Gajew, dessen Geschwätzigkeit Oliver Breite eine elegante Melancholie gibt, durch den riesigen Raum, sie tanzt, umarmt Menschen, geht aus sich heraus.

Doch schon ihre Beziehung zum Kaufmann Lopachin bleibt, von beiden Seiten her, merkwürdig unklar. Thomas Harms wirkt in der Rolle des von einem leibeigenen Bauern aufgestiegenen Mannes von Beginn an wie ein eleganter Geschäftsmann, nie wie ein Bauerssohn. In keinem Augenblick, selbst als er das Glück durchkostet, das Gut für sich ersteigert zu haben, zeigt er, der der Ranjewskaja immer wieder vergeblich ein profitables Rettungsmodell für ihr Gut vorgeschlagen hat, etwas von der kraftvollen Derbheit, mit der diese Rolle oft ausgestattet wird. Die Figur stimmt in sich, funktioniert aber nicht in der Inszenierung.

Unsichtbarer Sehnsuchtsort

Vom Kirschgarten ist in dieser Inszenierung ohnehin nichts zu sehen, allenfalls etwas zu ahnen, wenn er in den Gesprächen als Sehnsuchtsort einer scheinbar heilen Vergangenheit erinnert wird. Die Außenszene wird vor einem gemalten Landschafts-Panorama-Bild gespielt.

Peter Kupke hat die Ranjewskaja in den Mittelpunkt seiner handwerklich soliden Inszenierung gestellt, ohne uns genau zu vermitteln, was er mit ihr und seiner Inszenierung erzählen will. Nur Kai Börner als der tollpatschige Buchhalter zeigt etwas von der existentiellen Komik, die eigentlich alle Figuren haben müssten.

Hier tut nichts weh, hier wird nur munter erzählt. Nachdem sich am Schluss der Diener Firs (Amadeus Gollner als attraktiv tappriger Alter), vergessen im verlassenen Gutshaus und beraubt um wesentliche Teile seines Monologs, zum Ruhen, d.h. Sterben, niedergelegt hat, bekommt er den Löwenanteil beim Schlussapplaus. Nun ja.


Der Kirschgarten
von Anton Tschechow
Deutsch von Eugen Ruge
Regie: Peter Kupke, Ausstattung: Thomas Lorenz-Herting, Musikalische Einrichtung: Hans Petith, Choreographie: Anna Lisa Canton, Dramaturgie: Bettina Jantzen.
Mit: Sigrun Fischer, Laura Maria Hänsel, Johanna Emil Fülle, Oliver Breite, Thomas Harms, Oliver Seidel, Michael Becker, Heidrun Bartholomäus, Kai Börner, Ariadne Pabst, Amadeus Gollner, Hohannes Kienast.
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause.

www.staatstheater-cottbus.de

Mehr zu Kirschgarten-Inszenierungen der jüngeren Zeit. Wo soll man anfangen? Im Januar 2008 zum Beispiel, als Falk Richter Tschechow an der Schaubühne Berlin in den Geldkreislauf einspeiste. Sebastian Hartmann trieb in seiner Inszenierung im November 2009 in Leipzig dann die Langeweile ins Absurde. Im Januar 2010 folgte Michael Thalheimer in Stuttgart, Tilmann Köhler im Mai in Dresden, im Januar 2011 Karin Henkel in Köln (zum Theatertreffen eingeladen), Thorsten Lensing und Jan Hein im Dezember 2011 an den sophiensaelen, im Februar 2012 Stephan Kimmig am DT Berlin, Luk Perceval dann im März 2012 am Thalia Theater Hamburg. Um nur einige zu nennen.

 

Kritikenrundschau

Frank Dietschreit schreibt auf der Seite des kulturradios vom rbb (Rundfunk Berlin-Brandenburg) (4.3.2013): Bei Kupke spiele Tschechows Komik zunächst eine sehr große, je weiter wir uns dem Schluss näherten, eine immer geringere Rolle. Am Anfang zicke und zetere Ranjewskaja wie "eine überkandidelte Diva", Gajew wirke wie "eine Parodie auf Theaterdirektor Striese". Die Tonlage sei überdreht und hysterisch, die Bewegungen entarteten in tolldreiste Slapsticknummern. Wenn die Knall-Chargen irgendwann merkten, dass "das Drama ihres eigenen Untergangs auf dem Programm" stehe, würden Töne und Spielweise "ernster, tiefgründiger, nachdenklicher". Lopachin sei bei Thomas Harms ein gefühlloser Profithai mit quäkender Stimme. Der herzergreifenden Gefühlsriesin Ranjewskaja könne er nicht das Wasser reichen. Alles in allem eine wenig aufregende, nie provozierende Inszenierung, die "sich fast schon sklavisch an den Text klammert und die jedes Wort und jede Pause mit inszeniert".

Statt Tschechow'scher "Behutsamkeit", "Poesie des Untergangs", "Melancholie, "Entrücktheit", stampfe diese Inszenierung dahin, "als wäre sie aus Gusseisen", so Uwe Stiehler von der Märkischen Oderzeitung (4.3.2013): "beinahe unerträglich bieder und ohne zündende Idee". Den Schauspielern könne man indes "am wenigsten einen Vorwurf machen". Zu wenig erfahre man über die inneren Konflikte der Figuren. "Wirklich schön sind die Kostüme. Doch die gehen leider meistens vor der Bühnenbemalung unter."

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