Magazinrundschau Juli 2014 – Twitternde Kritiker, eine antifeministische Performerin und die neue Frankfurter Internationale

Wir müssen unsere Strukturen mit dem Ausland infizieren

Wir müssen unsere Strukturen mit dem Ausland infizieren

von Wolfgang Behrens

Juli 2014. In diesem Monat blicken die Theatermagazine in die Schweiz, in den Frankfurter Mousonturm, auf die Extrem-Performerin Angélica Liddell und auf ein theaterkritisches Twitter-Experiment.

Die deutsche Bühne

deutschebuehne7.14 140Im Juli-Heft lässt Die deutsche Bühne noch einmal ein Twitter-Experiment Revue passieren, das beim Berliner Theatertreffen während einer Aufführung von Frank Castorfs Inszenierung Reise ans Ende der Nacht stattgefunden hat: 18 Blogger und Kritiker twitterten dort (unter Verwendung des Hashtags #TTreise) direkt aus der Vorstellung. Die deutsche Bühne präsentiert das Ergebnis nun als eine Art kollektiver Kritik, wobei "alle Twittertexte als Material benutzt und in zwei Kapitel geteilt" wurden. "Ziel war, möglichst aufschlussreichen Lesestoff zu bieten: sowohl zur Inszenierung als auch über die Erlebnisse beim Vorgang der Twitterkritik." Tja, da kommen natürlich wieder komplexe Autorschafts-Fragen ins Spiel: Eignet dieser Zusammenstellung nicht doch eine arg subjektive Färbung durch das Ordnungsbedürfnis des Sampelnden (des Redakteurs Detlev Baur), der sich so zum Autor aufschwingt, zumal die Namen der jeweiligen Twitterer gestrichen sind? "Dieser Text soll eine Reflexion über die Aktion sein und eine konzentrierte Auslese der Twitterkritik bieten." Konzentriert, genau! Es bedarf tatsächlich einiger Konzentration, um aus diesem Schnipsel-Konglomerat so etwas wie Sinn zu ziehen.

Doch auch Detlev Baur selbst zeigt sich in einem kurzen Resümee ernüchtert von der Aktion: "Beim gleichzeitigen Sehen und Schreiben leidet, wie ich erfuhr, nicht nur die Aufmerksamkeit, sondern auch die Fähigkeit des Kritikers zum reflektierten Urteil. Erschreckender aber war die Beobachtung (mich eingeschlossen), dass soziale Medien dazu verleiten, auf Kosten des Gegenstandes geistreich sein zu wollen." Zudem zeige sich, "dass Twittern keinesfalls live ist, da zwischen kommentierter Aktion, Schreiben eines kurzen Textes und Erscheinen dieses Textes im Netz etwa zwei Minuten vergehen können, man also selbst bei größter Dialogbereitschaft aneinander vorbeischreiben kann."

Der Schwerpunkt der Juli-Ausgabe gilt der Schweiz, die politisch zu Beginn des Jahres Furore machte, als eine Mehrheit (im Übrigen nicht die Mehrheit der Schweizer, sondern die Mehrheit der Volksabstimmungs-Teilnehmer) sich für eine Begrenzung der Einwanderung von Ausländern aussprach. Wie ein roter Faden zieht sich dieses Abstimmungsergebnis durch den Schwerpunkt: In einem einleitenden Text vertritt etwa Elisabeth Maier die These, dass sich ein Großteil der Schweizer Dramatik "vehement mit der Angst der Eidgenossen im Umgang mit Fremden" auseinandersetze (wobei zu bedenken wäre, dass sich vermutlich ein gar nicht so kleiner Teil der Dramatik überhaupt mit der Angst der Menschen, auch der nicht eidgenössischen, vor dem Fremden auseinandersetzt). Darüber hinaus hat Die deutsche Bühne einige schweizerische oder in der Schweiz arbeitende Theaterleute zu dem Volksentscheid befragt, und ihr schlug – naturgemäß – eine Welle der Empörung über das Ergebnis entgegen. Peter Theiler, schweizerischer Intendant des Staatstheaters Nürnberg (nicht in der Schweiz), gibt sich immerhin besonnen: "Die Schweizer Regierung hat ja jetzt drei Jahre lang Zeit und den Auftrag, eine Gesetzesvorlage zu erarbeiten. Man wird dann sehen, ob das Resultat und seine Auswirkungen so scharfkantig sein werden, wie es die Kommentare zu der Abstimmung befürchten lassen." Und Andreas Homoki, Intendant des Zürcher Opernhauses, möchte sich ohnehin als Deutscher "nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Ich möchte jedenfalls nicht darüber spekulieren, wie ein solches Referendum wohl in Deutschland ausgefallen wäre."

Theater der Zeit hat für Juli und August anstelle des regulären Heftes ein Arbeitsbuch herausgebracht, das ebenfalls der Schweiz gewidmet ist, genauer: dem Schweizer Theaterkünstler der letzten Jahrzehnte schlechthin, nämlich Christoph Marthaler. Dieses Arbeitsbuch bleibt hier ausgeklammert, weil nachtkritik.de ihm in Bälde eine eigene Rezension angedeihen lassen wird.

Theater heute

theaterheute7.14 140Im Juli schlägt Theater heute dem nachtkritik.de-Rundschauer ein Schnippchen, indem das August-Heft am 21. Juli und somit bereits vor unserer Juli-Rundschau erschienen ist. Wir nehmen's als Mahnung zur Pünktlichkeit! Hier also nun erst einmal der Blick ins Juli-Heft. Franz Wille genehmigt sich darin indirekt einen kleinen Seitenhieb auf nachtkritik.de: In seinem Bericht über das Festival Theater der Welt kommt er nämlich auch auf die von nachtkritik.de veröffentlichte Eröffnungsrede Jacob Appelbaums zu sprechen. Appelbaum habe erklärt, dass sich Der Spiegel und die Süddeutsche Zeitung geweigert hätten, den Text dieser Rede zu drucken, "obwohl sie das vorher angekündigt hätten", und habe den Eindruck erweckt, dies habe mit seinen vermeintlichen Enthüllungen über Henri Nannen zu tun, in dessen Namen Appelbaum wenige Tage vorher geehrt worden war. Dazu bemerkt Franz Wille trocken: "Vielleicht hatten 'Spiegel' und 'Süddeutsche' einfach abgesagt, weil sie nicht den Schnee von gestern drucken wollten? Man kann sich als großer Aufklärer auch ziemlich blamieren."

Doch zurück zum Theater! Gerald Siegmund unterhält sich mit Matthias Pees, der seit einem Jahr Intendant des Frankfurter Künstlerhauses Mousonturm ist. Pees erläutert in dem Gespräch seine programmatische Vorliebe für internationale Projekte: "Wenn man aus einer relativ gesettelten Welt wie Westeuropa mit seiner kolonialen Tradition kommt, dann schaut man mit einem gewissen Selbstverständnis auf alles andere und den Rest der Welt. Zumeist herunter. Diesen unseren Blick auf die Welt zu irritieren, mal andere auf uns und auf die Zustände hier und in der Welt gucken zu lassen, das lohnt sich für uns doch weit über die Kunst hinaus."

Neben diesen "ganz platt" politischen Grund tritt aber noch ein ästhetischer: "Ich habe aus dem Ausland wiederkommend erlebt, was für eine ängstliche Ästhetik und wie wenig Haltung wir am Theater und gerade auch im Stadttheater mit seinem Repertoirebetrieb haben. (…) Am Mousonturm versuche ich, Schauspieler, Performer und Gruppen aus anderen Ländern zu zeigen, in deren Arbeit manchmal eben eine andere Unmittelbarkeit und Dringlichkeit steckt." Pees wünscht sich zudem, dass sich auch die Stadttheater trauten, "nicht nur die Regisseure aus dem Ausland (…) zu holen, sondern auch ihre Gruppen einzuladen, zu umfangreichen Residenzen, mit denen sie ihre Arbeitsprozesse und ihr Theaterverständnis in unsere Strukturen hineintragen, uns mit sich infizieren …"

Eine der von Pees als exemplarisch erwähnten Künstlerinnen ist Angélica Liddell, die Christine Wahl im selben Heft porträtiert. Wahl erwähnt, dass man im Kollegenkreis nach ihrem Treffen mit Liddell habe wissen wollen: "'Und? Wie ist die so?' Besonders empathische Naturen lassen sich sogar zu der No-Go-Frage hinreißen: 'Ist die auch im Gespräch so extrem?'" Wahl führt daraufhin aus, dass sich "der gordische Knoten zwischen Bühnen- und Privatperson auch im Gespräch unter gar keinen Umständen löst. 'Im normalen Leben fühle ich mich maskiert, verkleidet und kostümiert (…). Aber auf der Bühne habe ich tatsächlich das Gefühl, ich zu sein.'" Schließlich konfrontiert Wahl Liddell mit der auf nachtkritik.de (bezüglich "Yo no soy bonita") gefallenen Vokabel "feministische Performance". Antwort: "'Der Feminismus interessiert mich null!' (…) De facto könne man sie geradezu als Antifeministin bezeichnen, korrigiert Liddell und beharrt auf dem 'persönlichen Schmerz' als dem exklusiven Ausgangspunkt ihrer Arbeit. 'Den gesellschaftlichen Kontext sehe ich nicht, den berücksichtige ich nicht, den greife ich nicht auf und den will ich auch nicht.'" Nun ja – was die Künstler wollen und was in der Kunst letztlich zu sehen ist, das waren halt schon immer zwei verschiedene Paar Schuhe!

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