Verlust einer Sinnschicht

von Wolfgang Behrens

August 2014. Während eines der drei Monatsblätter weiter pausiert, zeigen die anderen beiden auf, wie die Teams im Theater auf dem Vormarsch sind – und dass Autoren und Bühnenbildner aufgefordert sind, darauf zu reagieren. Außerdem: ein Abstecher zur ukrainischen Dramatik.

ddb 2014 08 coverDie deutsche Bühne

Das August-Heft der Deutschen Bühne wartet traditionell mit einer Saisonbilanz auf, die sich auf eine recht umfängliche Umfrage unter den Autoren des Blattes stützt, die nach herausragenden Leistungen von Häusern, Regisseuren, Choreografen und Bühnenbildnern fragt – und auch nach der größten Enttäuschung. Chefredakteur Detlef Brandenburg hat aus dem Rücklauf der Umfrage Tendenzen der vergangenen Spielzeit herauszulesen versucht. Es ist ihm dabei aufgefallen, dass man selbst unter den Siegern in den jeweiligen Kategorien "nicht leicht jemanden finden [wird], der sich rechtens 'Star' nennen lässt." Etwa Jossi Wieler, der meistgenannte Opernregisseur, habe "überhaupt keine Lust, sich wie ein Star aufzuführen. Peymanns große Klappe, Steins Eitelkeit, Castorfs genialische Berserkerei, Neuenfels' radikaler Furor – all das ist ihm völlig fremd."

Brandenburg zufolge lässt sich nämlich gerade ein Trend hin zum Teamplayer beobachten, selbst ein Dirigent wie Kirill Petrenko (der etwa bei Castorfs Bayreuther "Ring" den Takt schlug) stelle sich "bedingungslos in den Dienst der gemeinsamen Sache". Dieser Trend definiere sich nicht über einen künstlerischen Stil, "sondern durch eine künstlerische Haltung. Und das hat vermutlich mit jener ästhetischen Diversifizierung zu tun, die wir ja schon seit ein paar Jahren beobachten (...). Wir haben diese Diversifizierung interpretiert als Reaktion der Theater auf eine durch Migration und sozialen Wandel immer heterogener werdende Gesellschaft". Und Brandenburg wagt gar die These, dass das Theater daher heute so lebendig sei wie lange nicht mehr: "Überall verfließen Grenzen, alte Trends mischen sich, neue entstehen. Und genau das ist der Hintergrund, vor dem die Stars so alt aussehen." Wir winken also noch einmal den Stars hinterher und begrüßen freudig die Teams!

Anderes Thema: Stefan Keim lässt noch einmal die Mülheimer Theatertage für neue Dramatik Revue passieren und zieht, bei allem Beifall für die Wahl des Preisträgers Wolfram Höll ("Es war eine richtige Entscheidung"), eine ernüchternde Bilanz: Hölls Auszeichnung und der Wettbewerb hätten nämlich auch gezeigt, "wie wenig sich gerade tut bei den deutschsprachigen Theaterautoren." Von Autoren werde "verlangt, eine Marke zu sein, berechenbare Positionen für die Spielpläne zu liefern, also möglichst das noch einmal zu schreiben, was sie schon mal gemacht haben." Keim steht dem Weg, auch performance-orientierte Aufführungen (wie solche von Rimini Protokoll) in den Stücke-Wettbewerb einzuladen, durchaus positiv gegenüber und überrascht mit einem noch weitergehenden Vorschlag: Er könnte sich vorstellen, dass auch Adaptionen zugelassen werden könnten, denn "mit einem genauen Blick, was da an Bearbeitungen auf die Bühne kommt, könnte der klassische Bühnentext sogar wieder gewinnen. Die besten neuen Dialoge und spannendsten Szenen der Saison stammen aus der 'Orestie' von Simon Stone (...), uraufgeführt am Theater Oberhauen, eigentlich ein heißer Kandidat für die Stücke. Es ist kein Satz von Aischylos mehr vorhanden, Simon Stone hat die 'Orestie' komplett neu geschrieben". Das wäre doch auch ein hübsche Pointe: Der beste neue Dramatiker der Saison heißt – Aischylos. Oder eben Thomas Mann.

thh 2014 8 coverTheater heute

Dass der klassische Bühnentext Rückzugsgefechten ausgesetzt ist, hat auch Christian Rakow in der August-Ausgabe von Theater heute erneut beobachtet, anlässlich der vorerst letzten Wiesbadener Biennale "Neue Stücke aus Europa": "Wie auf anderen Stückefestivals auch haben sich auf der Wiesbadener Biennale über die Zeit die Wandlungen des Literaturbegriffs im Theater abgebildet. Nachspielbare Dramen wurden zurückgedrängt. Offene, flächige Textformen, häufig als kollektiv erarbeitete Stückentwicklungen, sind heute das vorherrschende Paradigma. Ihr Modus ist registratorisch, inventarisierend. In mittlerer szenischer Distanz werden Erfahrungssätze gereiht. Die fehlende rhetorische Verdichtung der Texte kompensieren die Aufführungen oft durch performative Emphase. Viele Stücke funktionieren situativ, kontextbezogen, nicht autonom." Im Anschluss an Detlef Brandenburg (siehe oben) könnte man sagen: Auch die Star-Autoren sehen alt aus! Der Text als vorrangige Sinnschicht einer Theater-Performance geht schwierigen Zeiten entgegen – was noch einmal ein eigenes Licht auf die Debatte um die möglicherweise zu breit angelegte Autorenförderung wirft.

Doch nicht nur die Autoren sehen sich mit den neuen kollektiven Prozessen konfrontiert. In ihrem großen Bericht über Bühnenbild-Ausbildungsgänge konstatiert Cornelia Fiedler, dass man sich auch dort immer wieder neu positionieren müsse: "Wie kann eine Öffnung gegenüber freien Theaterformen aussehen, und wo findet dann das bühnenbildnerische Denken und Arbeiten seinen Platz? Wie können Studierende angesichts der Inflation von Zeichen und Codes ein eigenständiges starkes Bilder- und Raumdenken entwickeln?" In praktischer Konsequenz hat sich so etwa Katrin Brack "für eine inhaltliche Öffnung des Studiengangs entschieden, als sie 2010 den Münchner Lehrstuhl von Ezio Toffolutti übernahm. Neben klassischen Bühnenbildern werden hier andere Formen von Installation bis Performance ausprobiert. Ihre allererste Aufgabe für die Studierenden lautete, anstelle der gewohnten 1:50-Miniaturbühnen ein Modell der eigenen Küche zu bauen – im unüblich großen Maßstab von 1:10."

Kollektive Prozesse hin, kollektive Prozesse her: Natürlich liegt auch dem August-Heft von Theater heute wieder ein Stück bei, und zwar ein "ganz normales" von einem einzelnen Autor. Es handelt sich um "Hohe Auflösung" des ukrainischen Autors Dmytro Ternovyi – Chefredakteur Franz Wille stellt es als einen geradezu prophetischen Text vor: "Das Stück ist schon 2012 entstanden und erzählt nicht nur sehr aufschlussreich von gescheiterten Leben in der Ukraine seit der Orangenen Revolution. Es nimmt vor allem die Ereignisse am Kiewer Maidan mit erstaunlichen Einzelheiten bis zu den Sniper-Einsätzen gespenstisch vorweg." Nach Ansicht von Franz Wille ist aber die Karlsruher Uraufführung des Textes "meilenweit am Stück vorbeigeflogen", indem sie "ein Stück putzigen Revolutionstourismus" bot. Tja, das ist halt der Vorteil des kollektiven Prozesses: Text und Inszenierung stehen sich da nicht mehr als Antagonisten gegenüber ...

Theater der Zeit

Mit dem Abdruck von "Hohe Auflösung" macht Theater heute den Kollegen von Theater der Zeit fröhlich und frech die nach wie vor hoch gehaltene Ost-Kompetenz streitig. Was allerdings in diesem Monat auch einfach war: Denn Theater der Zeit frönt weiterhin dem zweimonatigen Sommerschlaf.

 

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