Und edelmütig wimmert die Kreatur

von Claude Bühler

Basel, 19. September 2014. Nach den drei Stunden schien der Jubelsturm nicht aufhören zu wollen. Die Schreie, Pfiffe, das Fußgetrampel gingen erstens an die Seele des Abends: Cathrin Störmer hatte dem Monster eine Stimme verliehen, die selbst durch den Stimmverzerrer noch mütterlich und umfangend klingt. Wenn sie liebend fleht, hasserfüllt aufschreit, ängstlich wimmert, böse krächzt, kindlich weint, so erfüllt sie genau die Absicht von Regisseur Philipp Stölzl und Dramaturg Jan Dvorak: Wir sollen den ganzen Abend lang Mitleid haben mit der Kreatur, die uns abstößt.

Das Ding mit Totenschädel, durchsichtiger Gazehaut über dem Brustkorb, blanken Knochenarmen, das der Medizinstudent Victor Frankenstein zu Leben erweckt haben soll, stellt diese Gefühlsspannung auf Anhieb her. Das fast drei Meter hohe Gebilde (Entwurf: Marius Kob), jederzeit geführt von drei Puppenspielern, ist vielleicht die beste Erfindung des Abends und verbannt Boris Karloffs Quadratschädel aus dem Film von 1931 erfolgreich aus der Erinnerung.

Die Jagd auf das Monster

Den Jubel erntete zweitens Philipp Stölzl, der aus seiner ersten Schauspielinszenierung opulentes Breitleinwandkino-Theater machte. Der Regisseur von Mainstream-Filmen wie "Der Medicus" oder "Goethe!", von Videos für die Rockband "Rammstein" oder die Werbung, spart nicht mit allerlei Effekten: Dramatische Massenszenen, die von tonlosen Slow Motion-Einschüben unterbrochen werden, üppige Trockeneisschwaden, die über ein Gräberfeld ziehen oder die Schneefelder der Arktis einnebeln. Fast immer geben drei wimmernde Celli mit ihrem Soundtrack dem Publikum die Emotion vor. Aus dem Off kreischen die Möwen, heult der Wind.frankenstein3 560 judithschlosser ujpgEin Monster, wie es schöner kaum sein kann © Judith Schlosser

Geschickt hat Dramaturg Jan Dvorak den mit langen Bögen verschachtelten Roman Mary Shelleys von 1818 in einen Fluss aus kurzen, bildwirksamen Spielszenen und Off-Monologen gebracht, die Geschichte dazu um einige Wendungen verkürzt. Nahe dran am und rund um das Bühnengeschehen sitzt das Publikum: Der ausgebildete Bühnenbildner Stölzl ließ eine mächtige Spielfläche, von meterhohem Maschenzaun umgeben, mitten ins Auditorium bauen. Dort werden die Zuschauer fast hautnah Zeuge, wie der Bauernmob schreiend mit Äxten und Hämmern das Ungetüm töten will, wie Frankenstein (David Berger) das Monster-Weibchen, das er seiner Kreatur versprochen hatte, noch halbfertig wieder zerreißt, wie das Monster seine Verlobte Elisabeth (Zoe Hutmacher) und seinen jüngsten Bruder Wilhelm erwürgt, wie es nach mörderischer, gegenseitiger Jagd in die Arktis endlich seinen Schöpfer tot auffindet und weinend zusammenbricht.

Nackt im Wald

"Am schönsten finde ich, wenn im Theater eine Geschichte erzählt wird, in der man auch als 13-Jähriger sitzen kann – und mitkommt", so ließ Stölzl sich in der Basellandschaftlichen Zeitung zitieren, und daran hat er sich gehalten. Alles ist leicht verständlich. Brüche gibt es keine. Fragen auch nicht. Wir folgen nicht den Argumenten eines Dramas, sondern den gefühlsmäßigen Sensationen, die die Schauergeschichte immer wieder von neuem bereithält. Wichtig war Stölzl nicht wie im Roman Frankensteins Drama des sich isolierenden Kulturmenschen oder sein Machbarkeitswahn im Sog der Aufklärung, sondern das, was er auslöst: Eine schuldlos reine, aber hässliche Kreatur hat er auf die Welt geworfen, die sich (ohne Herleitung) anfangs nackt im Wald wiederfindet und sich am Ende, allein dank der bösen Welt selbst schuldig geworden, umbringt. Eindeutig wie in der TV-Serie werden die Emotionen ausgespielt. Ambivalent wirkt nicht mal der selbstquälerische Frankenstein. Der ist in Stölzls Regie halt einfach irgendwie krank.frankenstein 560 judithschlosser uVictor Frankenstein (David Berger) hat ein ernstes Problem. © Judith Schlosser

Stölzls Unterhaltungstheater ist in jeder Minute gekonnt erzählt. Stil und Rhythmus werden auch da durchgehalten, wo er kleine Ironisierungen einbaut, etwa wenn er die Mannschaft eines Nordpol-Forschers in russischem Akzent aufbegehren lässt. Oder wenn er die Sprecherin Cathrin Störmer plötzlich in die Szene treten lässt und ihre Nähe zum Monster fast schon einen anwaltlichen Zug gewinnt – das muss man erstmal können, ohne dass es wie mutwillig kreativ wirkt.

Die dichten Begriffe des Monsters

Mutwillig bleibt jedoch im Eindruck der Schwulst, mit dem das Monster gefühlsselig im inneren Monolog den eigenen Wandel von einem Ausbund an Liebe zu einem Kindermörder schildert. Von Beginn weg stehen ihm Begriffe von einer Dichte wie Schicksal, Geduld, Güte zur Verfügung, die ein in Gesellschaft geformtes Geistesleben voraussetzen. Mutwillig ist das deshalb, weil der Fall eines edelmütigen Gebildeten weit schmerzhafter wirken soll als der eines groben Monsters, das immer nur um das Überleben kämpfen musste. Also so, wie es eigentlich seine Geschichte erzählt.

 

Frankenstein
nach dem Roman von Mary Shelley
Textfassung: Jan Dvorak und Philipp Stölzl
Regie: Philipp Stölzl, Bühne: Heike Vollmer, Philipp Stölzl, Kostüme: Kathi Maurer, Komposition: Jan Dvorak, Entwurf Puppe: Marius Kob, Coaching Puppenspiel: Robert Baranowski, Marius Kob, Licht: Cornelius Hunziker, Dramaturgie: Jan Dvorak.
Mit: David Berger, Urs Bihler, Sebastian di Franco, Dirk Glodde, Zoe Hutmacher, Joanna Kapsch, Leonie Pitttet, Marie Popall, Florian Müller-Morungen. Puppenspieler: Christian Pfütze, Lisa Wilfert, Nina Maria Wyss, Marius Kob. Matrosen, Handwerker, Bauern: Valentin Klos, Tom Kramer, Kay Kysela, Marie Popall, Maximilian Reichert, Simon Roffler.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

"Das Monster muss man gesehen haben", meint Stephan Reuter in der Basler Zeitung (22.9.2014). Doch mit dem Perspektivwechsel gegenüber Mary Shelley – man wohne "dem tragisch fehlschlagenden Selbstfindungstrip einer künstlichen Seele bei" – handle sich Philipp Stölzl "ein gravierendes Problem ein. Er muss ständig neue Figuren auf die Bühne schieben. Die Regie füttert Monster, Publikum und Story mit Momenteindrücken, mit grob skizzierten Tableaus. Und das geht nicht lange gut." Letztlich habe Stölzl bei seinem Schauspieldebüt "der Requisite mehr vertraut als dem Ensemble."

"Das Monster und seine Stimme sind großartig", schreibt Martin Halter in der Badischen Zeitung (22.9.2014), aber was Philipp Stölzl "überhaupt sonst noch auf die Bühne stellt, ist: eine romantische Schauertragödie mit Anleihen bei der großen Gefühlsoper, beim Hollywood-Melodram und dem Erzähltheater des Biedermeier." Er illustriere Shelleys Roman "in aller Unschuld und Distanzlosigkeit als bemitleidenswerten Kinderschreck und pathetisches Gruselmonster." Man könne das "Zehnjährigen bedenkenlos empfehlen. Allerdings nicht unbedingt Erwachsenen, die vom Theater mehr als opulentes Live-Breitwandkino erwarten."

"Frankenstein" sei in Basel "ein Melodram mit Gruselmärcheneffekt. Es lebt wesentlich von einer toten Puppe. Frankensteins Monster mit Totenschädel-Gebiss, mit Knochen und Sehnen, Fell-Fetzen und Vogelklauen ist große Klasse." Doch Siegbert Kopp fragt im Südkurier (22.9.2014) auch, ob "dieser aufwändige Theaterabend über billigen Geisterbahn-Grusel" hinausführe. Stölzl habe zwar "alles hineingepackt, was auf die Tränendrüse drückt. Der künstliche Mensch in seiner Unschuld. Nur etwas fehlt: das Eigene, der originäre Zugriff des Theaters."

Stölzl finde "immer wieder neue eindrucksvolle Bilder, die an alte kostbare Abenteuerbuch-Illustrationen oder Bilder aus alten Kolportageheften erinnern", meint Bernhard Doppler auf Deutschlandradio (20.9.2014). Die Handlung erstarre "dabei zwar nicht völlig zu 'Tableaux vivantes', den im 19. Jahrhundert im Theater so beliebten Bildern, aber die Bewegungen werden oft durch Zeitlupe verlangsamt." Besonderen Tiefgang dürfe man so nicht erwarten, doch Doppler konzediert: "Wenn man sich – vielleicht nach anfänglichen Widerständen – auf den Sog der vielen Bilder einlässt, kann man es durchaus genießen, sich im Theater mit naiven Augen einmal lediglich nur ein Abenteuer- und Reisebuch illustrieren zu lassen."

"Stölzl erzählt die grosse Reise durch die halbe Welt und bis in die Arktis in rund zwei Dutzend bild- und emotionsstarken Szenen, die schnell ineinandergeschnitten sind", schreibt Alfred Schlienger in der Neuen Zürcher Zeitung (23.9.2014). Er lege dabei, "ohne selbstreferenziell zu wirken, alle Theatermittel offen und schafft doch den tollen Zauber: dass man der Bühne alles glaubt".

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