Geschlossene höhere Gesellschaft

von Tim Schomacker

Hamburg, 21. September 2014. Betontreppen laufen auf ein kleines hohes Hinten zu. An den grauen Wänden hängen vergebliche Vorhänge. Unwahrscheinlich, dahinter Fenster zu finden. Geschweige denn Luft. Ein Tisch, ein Stuhl, ein Plüschbär. Kandelaber, die kaum das Nötigste erhellen. Vage Figurenzeichnungen. Wer in diesem Bunker lebt, ist längst tot. Wie die Zombies nach Gehirn gieren, so verzehren sich die Alten in Karin Henkels Lesart des letzten Ibsen-Stücks nach der Jugend. Erwarten von den Jungen mancherlei Erlösung. Und pflanzen ihnen doch jene Zweifel, jene Missgunst, jenes Unglück ein, von dem sie selbst auf den letzten Drücker so gern noch erlöst werden würden. Oder, wenn das nicht geht: Alle mit in den Abgrund, die man für irgendwas verantwortlich machen kann. Die Fallhöhe ist nicht mehr groß. Tot und gescheitert ist man ja schon.

Mehr noch als der Titel gebende John Gabriel Borkman, dem als Bankvorstand eine Finanzjonglage misslang, was ihm fünf Jahre Knast einbrachte, gefolgt von einem knappen Jahrzehnt selbstauferlegten Kerkers im Obergeschoss des hochherrschaftlichen (und nicht mehr wirklich eigenen) Eigenheims – mehr noch als Borkman also interessiert sich Henkel für den Zwist der Zwillingsschwestern Gunhild und Ella. Die eine hätte Johns Frau werden sollen, die andere wurde es. Gunhild hadert nach dem finanziellen Ruin mit dem arg lädierten Familien-Namen; und Ella merkt, dass auch ihre neue Machtposition (sie ist die einzige Besitzende im ganzen Spiel) nichts ausrichten kann gegen ihre tödliche Erkrankung.

Die Erlösung der Alten durch die Jungen

Die bis in missgünstige Kindheitserinnerungen zurückverfolgte Konkurrenz der Schwestern – ziemlich bald muss der Teddy dran glauben – findet im Borkman-Sohn Erhart einen aktuellen Austragungsort. Tante Ella hatte den Jungen nach dem Bankrott zu sich genommen. Wodurch Erhart gewissermaßen zwei Mütter hat – die nun beide seinen Verlust fürchten. Die groteske Brutalität, mit der Julia Wieningers Gunhild und Lina Beckmanns Ella an Erharts Körper herumziehen und -zerren, beeindruckt. Denn über die unmittelbare Motivlage hinaus verleihen beide dem Ringen eine eigenartige und unheimliche körperlich-erotische Dimension.

borkman-i 560 klaus-lefebvre uGroteskes Geziehe: Julia Wieninger und Lina Beckmann zerren an Jan-Peter Kampwirth © Klaus Lefebvre

Erhart wird entkleidet und in knallweißer, rasch über den Betonboden herbeigerumpelter Wanne gewaschen. An anderer Stelle zerren die alten Damen so an den Ärmeln seines hellen Pullis, dass für einen Moment eine Kreuzigungsszene dasteht. Auch eine Erinnerung Ellas an den kleinen Erhart speist sich aus christlichem Bildreservoir, wenn sie mit ihm eine Mariengruppe formt. Das Motiv der erwünschten Erlösung der Alten durch die Jungen kommt immer wieder durch. "Mutter, ich kann doch nicht immer nur für dich leben. Das ist kein Leben", ruft Erhart Gunhild gegen Ende zu. "Dann komm mit mir: Arbeiten!" dröhnt Borkman von seinem Lager einige Stufen weiter oben.

Applaus mit Gift und Galle

Denn so wie die beiden Frauen um die Mutterrolle kämpfen und darum, wessen Name denn durch seinen (vermeintlich ausstehenden) Erfolg reingewaschen respektive in Erinnerung gehalten werden kann, erhofft auch Borkman sich Erlösung: in Form der Beteiligung am dahinphantasierten ökonomisch-gesellschaftlichen Wiederaufstieg. Mammon und Mama besetzen – je nach Perspektive – hier hübsch dieselbe Planstelle. So sehr Erhart das eigene Leben auch für sich reklamiert, die zunehmend brüchig-verzweifelte Intonation zeigt, dass das Geziehe und Gezerre das Familienübel längst an seine Generation weitergereicht haben.

Ganz am Ende entpuppen sich die betonschweren Stufen dieses bunkerartigen Familiengefängnisses tatsächlich als Showtreppe. Hand in Hand hüpfen Gunhild und Ella, die in die Jahre gekommenen Zwillingsschwestern, nach vorne. Oben ist Borkman nun wirklich tot. Am Bühnenrand verbeugen sie sich. "Das ist mein Applaus! – Nein, meiner!" Als würden Gift und Galle, enttäuschte Erwartung und leidvolles Leben, als würde all das, was zwischen ihnen war und ist, weiterätzen – auch über das Ende der Aufführung hinaus. Auch dann, wenn sie längst dabei sind, aus ihren Rollen herauszutreten. Freilich kommt doch noch ein Black. Und ein ordentlicher Vorhang mit allen Beteiligten. Und zu Recht sehr freundlicher Applaus.

Wuchten und Unwuchten

Für die schnarrende Verzweiflung in Matthias Bundschuhs Stimme, wenn er als Borkmans letztverbliebener Vertrauter diesem sein Leid klagt. Für das so geschickt auch ohne Worte agierende Körpergefängnis, das Josef Ostendorf der Titelfigur verleiht. Mal auch mit auf der Bühne gestimmter Luftgitarre und Wolfsgeheul. Für einen souveränst über die ganze Bühne gestolperten, mit den Jahren verblichenen Burlesktanz, mit dem Lina Beckmann Borkman die Ella von früher wieder vor Augen führt. Und nicht zuletzt für die Art und Weise, wie Regisseurin Karin Henkel die Wuchten und Unwuchten dieses scheinbar simplen Familienzusammenhalts immer wieder neu austariert. Den Figuren in der stickigen Enge ihres Betonheims genug Luft lässt, eindrucksvoll vom je eigenen Ersticken zu erzählen.

 

John Gabriel Borkman
von Henrik Ibsen
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Regie: Karin Henkel, Bühne: Katrin Nottrodt, Kostüme: Nina von Mechow, Musik: Arvild J. Baud, Dramaturgie: Sybille Meier.
Mit: Lina Beckmann, Matthias Bundschuh, Jan-Peter Kampwirth, Josef Ostendorf, Kate Strong, Julia Wieninger, Gala Winter.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

"Was Regisseurin Karin Henkel mit Ibsens 'John Gabriel Borkman' macht, ist phänomenal", schreibt Armgard Seegers im Hamburger Abendblatt  und auf Welt-online (23.9.2014). "Henkel erschaffe einen unheilschwangeren Albtraum, "fast ein bisschen Kafka. Lebenslüge und verfehlte Liebe, der Kampf um Macht, die Kraft der Illusion, die Ménage-à-trois – all dies ist hier zwar auch noch zu sehen, aber nicht naturalistisch. Es bildet die Folie, vor der das Mystische, die Fesseln der Vergangenheit, die Traumwelt der Zukunft Gestalt annehmen. Der Wahn, dass sich die Wirklichkeit den Wünschen unterordnen soll, ist bis zur Groteske gesteigert." In Henkels Inszenierung, die jetzt am Schauspielhaus Premiere hatte, brillieren aus Seegers' Sicht auch zwei herausragende Darstellerinnen inmitten eines großartigen Ensembles.

"Alle Schauspieler benutzen häufig Masken, die sie alt und hässlich erscheinen lassen, und tun es willkürlich, wie Kinder", so Frauke Hartmann in der Frankfurter Rundschau (23.9.2014). Das macht es ihr eigenem Bekunden zufolge etwas schwer, "hineinzukommen in diese Monstretragödie, die keine sein will und doch eine ist."

"Henkel hat den Kampf der Frauen ins Zentrum gestellt", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (23.9.2014). Scharfe Verbalverletzungen wechseln sich ab mit grotesken Tänzen, drohenden Beilen, spastischen Verrenkungen. "Entgegen jeder üblichen Ibsen-Spielweise traut Karin Henkel sich, nicht Charaktere zu entwickeln, sondern in die Grauzone von Zuständen einzutauchen, die das psychische Zuhause für gewöhnlich sorgsam verbirgt." Sie stülpe das Drama um und zeige, was im Schatten der Selbstzensur an Fantastik gedeiht. Wohin uns unsere unverdauten Aggressionen führten, wenn wir der Höflichkeit und dem Respekt Ade sagen würden. "Zugleich lässt einen der Abend intensiv staunen, was für beeindruckende Monster wir doch sind."

 

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