Die Blauäugigen

von Falk Schreiber

Hamburg, 10. Oktober 2014. Von Anfang an stand Johan Simons' Inszenierung von Jean Genets "Die Neger" unter einem schlechten Stern. Die Koproduktion von Wiener Festwochen, Hamburger Schauspielhaus und Münchner Kammerspielen provozierte schon vor der Premiere in Wien Proteste von Antirassismus-Aktivisten, die sich vor allem vom Titel und vom auf den Festivalplakaten angedeuteten Einsatz von Blackfacing angegriffen fühlten. Die Kritiken nach der Festwochen-Premiere fielen dann weitgehend desaströs aus (Reinhard Kriechbaums Nachtkritik war noch eine der freundlicheren Stimmen). Und schließlich verletzte sich Schauspieler Benny Claessens kurz vor der für Juni geplanten Hamburger Premiere, so dass die Aufführungen in der Hansestadt und in München in die nächste Spielzeit verschoben werden mussten.

Seit einer Woche steht die Inszenierung nun endlich im Hamburger Spielplan (heute ist die Münchner Premiere), und nach der zweiten Aufführung am Freitag (die weder so abgrundtief schlecht war, wie man nach den Wiener Kritiken annehmen musste, noch eine ästhetische Offenbarung) hatte die Schauspielhaus-Dramaturgie eine Publikumsdiskussion zum Rassismus-Vorwurf gegen die Arbeit anberaumt.

Theater-Innensicht-Tradition

Auf dem Podium: Theatermacher und Bühnenwatch-Aktivist Atif Hussein, Politikwissenschaftler Nesta Mitali, Annette Reschke vom Verlag der Autoren, Schauspielhaus-Dramaturgin Rita Thiele, Filmemacher Oliver Hardt, die Schauspieler Bettina Stucky und Stefan Hunstein sowie Regisseur Johan Simons. Der betonte, dass er schon lange Genet-Fan sei und sich seit seiner Kindheit mit dessen antikolonialistischen Themen beschäftigt habe: "Ich wollte früher Priester werden und nach Afrika gehen!"

Dramaturgin Thiele ergänzte, dass es schon länger Gespräche mit Simons über dieses Stück gegeben habe, und es – ihrer Meinung nach – perfekt in die vergangene Schauspielhaus-Spielzeit gepasst habe, die sich durchgängig mit der Geschichte des Kolonialismus beschäftigte. Und aus diesen inhaltlichen Überlegungen heraus sei entschieden worden, die Inszenierung gemeinsam mit Simons' Stammhaus, den Münchner Kammerspielen, zu produzieren – und zwar mit Schauspielern aus beiden Ensembles.

dieneger4 280 jroeder ostkreuz uSzene aus Simons' Inszenierung
© Julian Röder / Ostkreuz

Das provozierte Widerspruch von Filmemacher Oliver Hardt: "Ich komme eigentlich vom Theater. Aber was mich am Theater immer gestört war, dass alle Diskussion ständig reine Theater-Innensicht reproduzierten – und das spüre ich auch hier." Genet habe vor über 50 Jahren ein Stück geschrieben, das laut Thiele alternativlos für die heutige Beschäftigung mit Kolonialismus stehe; weil entschieden worden sei, die Ensembles aus Hamburg und München gleichwertig einzusetzen, habe es keine Möglichkeit gegeben, schwarze Schauspieler zu besetzen, obwohl genau das explizit in Genets Vorlage gefordert worden sei … Alles habe sich, kurz gesagt, einer theaterimmanenten Kraft des Faktischen unterzuordnen. "Das halte ich für mehr als blauäugig."

N-Wort beim Namen

Blauäugig war zweifellos, den Stücktitel (den auch der Autor dieses Textes nur ungern in den Mund nimmt) in Hamburg zu plakatieren, ohne daran zu denken, dass diejenigen, die es tatsächlich betrifft, die People of Color nämlich, hier etwas anderes sehen könnten als die Ankündigung eines Theaterstücks. Nesta Mitali musste erst einmal klarzustellen, dass das gedankenlose Aussprechen des Titels ihn persönlich verletzt: "Ich kann dieses Wort nicht hören!" sagte er mit schmerzverzerrtem Gesicht. Mehr oder wenig gutwillig gestand ihm Verlagsfrau Reschke diese Betroffenheit zu, nicht ohne zu betonen, dass der Begriff zur Entstehungszeit des Stücks anders besetzt gewesen sei als heute. Was von Dramaturgin Thiele relativiert wurde: "Ich glaube nicht, dass das zu Genets Zeiten ein unproblematischer Begriff war. Das ganze Stück besteht aus rassistischen Klischees, und der Titel nennt das beim Namen."

Was die letzte Gelegenheit gewesen wäre, über etwas anderes zu diskutieren als über Begrifflichkeiten, über Theater zum Beispiel, über Blackfacing oder auch über die Sinnhaftigkeit von Simons' hier sehr hermetischer Bühnensprache. Aber Atif Hussein griff von neuem Reschkes Argument der historisch anderen Bedeutung des Titels auf: "So etwas passiert in diesen Diskussionen immer wieder: Es wird behauptet, der Begriff sei nicht abwertend gemeint gewesen, er stamme aus einer Zeit, als so eine Ausdrucksweise normal war. Aber es war damals einfach normal, schwarze Menschen abzuwerten!" So ging das weiter, bis schließlich Schauspieler Hunstein der Kragen platzte: "Ich bin über die Vehemenz der Diskussion erstaunt. Und ich bin darüber erstaunt, dass wir nur über den Titel diskutieren. Um das einmal klarzustellen: Wir sind keine Rassisten. Wir ziehen alle an einem Strang!"

Reflex des Rassismus-Vorwurf

Zwar hatte niemand Hunstein vorgeworfen, Rassist zu sein, allerhöchstens, ein wenig unbedarft mit Terminologien umzugehen – aber das Entgleiten der Diskussion zeigt sehr deutlich, welche Prozesse in Gang kommen, wenn sich die Argumente verselbständigen. "Genau das ist das Problem", platzte es aus Mitali heraus: "Sobald wir Schwarzen uns diskriminiert fühlen, denken Sie, wir werfen Ihnen Rassismus vor!"

die neger 560 julianroeder ostkreuz uAuf dem Bild: Kristof Van Boven, Stefan
Hunstein, Felix Burleson
© Julian Röder / Ostkreuz

Was zwar stimmt, aber auch den Punkt markiert, an dem nicht mehr vernünftig miteinander geredet werden kann. Den Punkt, an dem jedes Argument nur noch als Angriff aufgefasst wird. Zu retten war jedenfalls nichts mehr, als die Diskussion (viel zu spät) für das Publikum geöffnet wurde – die meisten Argumente waren längst gefallen und hatten ausreichend Porzellan zerdeppert. Und ob es das Gespräch noch hätte retten können, zu erfahren, dass die "Großtante Frieda" einer älteren Zuhörerin ohne böse Hintergedanken von "Negern" geredet habe, darf bezweifelt werden. Oliver Hardt jedenfalls kanzelte diesen Beitrag so richtig wie unfreundlich ab: "Es geht nicht um ein Verbot von Worten, es geht um Respekt. Und den haben Sie nicht gezeigt!" Das war zu einem Zeitpunkt, als der Großteil des Podiums schon jegliches Interesse an der Diskussion verloren hatte.

Jenseits der Realität

Nein, besonders weit ist man nicht gekommen in dieser unbefriedigenden Gesprächsrunde. Ein Abschluss-Statement vielleicht, von Bettina Stucky? "Ich finde es ganz schwierig, dass ausgerechnet ich als Herrenrassenweiße jetzt etwas Harmonisches zum Abschluss sagen soll!" Zumindest Rita Thiele könnte ins Nachdenken gekommen sein. Als Mitali beschrieb, dass er, wenn er ein Theaterplakat namens "Die Neger" sieht, denkt, dass in diesem Theater etwas passiert, mit dem er nichts zu tun hat und das auch mit ihm nichts zu tun haben will – dann sollte einer Dramaturgin langsam dämmern, dass hier etwas gehörig falsch läuft.

 

Mehr zu Simons' Inszenierung in unserer Kritik und der anhängenden Kritikenrundschau. Vor der Premiere bei den Wiener Festwochen hatte die Plakatierung eine Debatte über Blackfacing entfacht

 Über Rassismus im Kulturbetrieb wurde jüngst auch im Berliner Ballhaus Naunystraße diskutiert.

 

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