Auf der nackten Haut der Verzweiflung

von Reinhard Kriechbaum

Bad Gleichenberg, 17. Oktober 2014. Zwei Seelen, wohnen, ach, in seiner Brust. Die zweite, die in seiner ungarischen Heimat ortsansässige, wird gerade arg malträtiert. Der derzeit vor allem als Opernregisseur international nachgefragte Árpád Schilling arbeitet ja immer noch, wie seit zwei Jahrzehnten, mit seinem Ur-Ensemble Krétakör (Kreidekreis). So eine freie Gruppe mit subversivem Gespür für politischen Ungeist hätte im Ungarn Orbáns alle Hände voll zu tun, wenn man sie nur ließe. Aber gerade dieses Ungarn meint es – logischerweise – nicht gut mit Schilling und Krétakör: Man hat ihnen und anderen aufsässigen Theatermachern schlichtweg den Geldhahn zugedreht.

Da steht er also jetzt mit einer kleinen Marx-Büste im Arm und hebt zu einer Philippika an über die Schlechtigkeit der ungarischen Welt. Ein Wortschwall, bei dem sogar die Live-Übersetzerin heiß zu laufen droht. Vielleicht hat es ja auch sie, in der Kabine unbemerkt, so gemacht wie Árpád Schilling auf der Bühne und sich flugs aller Kleider entledigt. Da steht er also nackt da und hält einen Stift hoch: Wer im Publikum seinerseits eine Botschaft an die ungarische Regierung hat, möge sie auf seine Haut schreiben.

Betroffenheit und Sarkasmus

Es fände sich vielleicht sogar einer im Publikum, nach ein paar Schrecksekunden. Aber so weit lässt man es nicht kommen. Ein Mitglied der Theatergruppe schreibt "Ende" auf den Rücken des Unbekleideten, woraus sich ein erregter Disput, eine Schreierei, ein Handgemenge entwickelt. Da will die Sache hin: Seine Landsleute seien viel zu schnell bereit, sich mit der derzeitigen politischen Lage zu arrangieren. Das ist die Kurzbotschaft des Abends.theparty 560 wolfgangsilveri uFamilie Schilling intim auf dem großen Sofa. © Wolfgang Silveri

Árpád Schillings Stimmung derzeit: eine Mischung aus Ingrimm und Mut der Verzweiflung, Betroffenheit über politische Lethargie im Land und schneidendem Sarkasmus. Dominant ist ein etwas ins Kraut schießender Mitteilungsdrang von alledem. Kurz: das genaue Gegenteil von Distanz zu sich selbst und zur Situation.

"A Párt – Die Partei – The Party". So heißt die Produktion, die weiterzuentwickeln Árpád Schilling zum letzten Wochenende beim Steirischen Herbst eingeladen war. Das Stück wurde noch vor den ungarischen Parlamentswahlen erarbeitet. Es ging bei "A Párt" ursprünglich darum, wie die Bürgerschaft einer Kleinstadt sozusagen absäuft im populistischen Kielwasser der Orbán-Partei. Nun, so Schilling, habe aber die Realität sein Stück eindeutig überholt. Und so hat er es als Ganzes verworfen, hat quasi einen neuen Titel drüber geklebt: "The Party is over – but we keep on going!"

In den Fängen des Populisten

Eine Rock-/Pop-Band ist auf der Bühne, ein großes Sofa. Familie Schilling intim und im Diskurs mit ihren Theater-Freunden. Alle maximiert subjektiv und ich-bezogen. In kleinen, mehr oder weniger überzogenen Szenen wird vorgespielt und vorgesungen, wie sie alle nach und nach in die Fänge des Populisten in Gestalt eines Filmproduzenten geraten. Zuerst, nach feministischem Input durch eine Freundin, gerät die Frau des Regisseurs auf die schiefe Bahn: Sie wirft sich in die Arme eines Filmproduzenten, auch wenn Schilling als Zorro verkleidet die Muskeln spielen lässt. "Arpi", sagt sie fast hämisch, "such dir eine Amnesty-Aktivistin."

Der Produzent steht in dem deftigen Überredungs-Spiel für den Populisten neuen Stils: "Wir müssen edle, freie Tiere essen", proklamiert er als kulinarischen Leitspruch, worauf die Mitglieder der Band sich gleich mal Felle umhängen – und munter weiter spielen. Subtext geflissentlich übersehen, sorry. Attila, ein Filmemacher spricht vor: Er möchte eine Doku drehen über einen Homosexuellen, der in einem Dorf in den Selbstmord getrieben wurde. Kläglich scheitert er am Produzenten, der sinngemäß doziert: Man muss die Menschen lieben, sich nicht an ihnen reiben, dann werden sie einem nachlaufen …

Ein Orden für Imre Kertész

Guter Grund für die Haupt- und selbsternannte Lichtfigur Árpád Schilling, in tiefste Depression, in vorzeitige Demenz zu fallen? Sein Kopf steckt in einem Nylonsack, die Tochter wechselt die Geriatriewindel. Letzte Phase im Ehe- und Generationenkrieg im Hause Schilling, verbunden mit guten Tipps: "In ein paar Wochen schüttelst du wieder einen Tschechow aus dem Ärmel" – und schon wäre alles in Ordnung.

Und so mündet die knapp anderthalbstündige Performance in eine parodistische Szene, in der Árpád Schilling in die Rolle des Imre Kertész schlüpft. Dem alten Herren, Literatur-Nobelpreisträger und Holocaust-Überlebender, nimmt Schilling übel, dass er den Sankt-Stephans-Orden, die höchste Auszeichnung des ungarischen Staates angenommen hat. Gipfelpunkt blinder Anpässlerei, befindet Schilling. Und so lässt er sich denn auch jetzt in seinem neuen Stück am Ende mit Pomp einen Engel mit Flügeln überreichen. "Du musst ihnen Versöhnung beibringen."

Theater-Wutbürger in eigener Sache

Mit fast verlegenem Beifall hat man das nach der Aufführung quittiert. Warum man gerade mit dieser Produktion, die politisch brisant sein will (aber vom mehrheitlich juvenilen Publikum wohl im Einzelnen nicht dechiffriert worden ist), in den äußersten Zipfel der südoststeirischen Pampa, nach Bad Gleichenberg gegangen ist, versteht keiner. Ein paar Kilometer wären es nur noch nach Ungarn. Wenn schon nicht in die hauptstädtische Höhle des Löwen, wenigstens über die Grenze hätte man gehen können damit. Das wäre dann wenigstens ein Signal gewesen.

So ist die Aufführung verpufft, in der tiefsten Provinz und vor falschem Publikum. Und zu "A Párt" selbst muss man wohl sagen: Es fehlt dieser Theaterarbeit von Árpád Schilling ganz erheblich an Distanz. Die Perspektive kommt nie auch nur einen Millimeter über den Anlassfall hinaus. Schilling geriert sich als Theater-Wutbürger in eigener Sache. Auch wenn mit starken Wörtern und nackter Haut nicht gegeizt wird, kratzt's einen wenig. Das ist wohl der denkbar schlechteste Befund über eine Sache, die aufrüttelnd gemeint wäre.

 

A Párt – Die Partei – The Party. The Party is over – but we keep on going!
von Árpád Schilling, Éva Zabezsinszkij & Ensemble Kretakör
Regie: Árpád Schilling, Kostüme und Requisiten Sosa Juristovszky, Musik: Imre Lichtenberger Bozoki, Krisztián Vranik & Lawrence Williams, Simultanübersetzung: Anna Lengyel.
Mit: Levente Boros, Imre Lichtenberger Bozoki, Ernő Hock, Emőke Kiss-Végh, Annamária Láng, Ádám Mészáros, Tamás Ördög, Lilla Sárosdi, Árpád Schilling, Sándor Terhes, Krisztián Vranik & Lawrence Williams.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.steirischerherbst.at

 

Kritikenrundschau

"Der Abend (…) beschreibt drastisch und voll unverstellter Aggression, wozu der politische Druck die intellektuelle Opposition bereits getrieben hat: Die einen verkaufen sich buchstäblich mit Haut und Haar als Huren des Systems (und machen Karriere), den anderen fehlt die Kraft, sich der Beschwichtigungsrhetorik der Geldmacht zu widersetzen", schreibt die Ute Baumhackl in der Kleinen Zeitung (online 18.10.2014). Es werde deutlich: Unter dem Mäntelchen von Versöhnung und Akzeptanz werde die Integrität und Glaubwürdigkeit der Kunst in Ungarn zerstört. "Da soll noch einer sagen, dass Politik heute nichts mehr bewirkt."

"Es ist nicht der Abend der feinen Klinge", sondern ein "konsequenter, ehrlicher Abend voller Traurigkeit und Zorn", schreibt Colette M. Schmidt im Standard (20.10.2014). Denn: "Für feine Klingen ist für Künstler, die jederzeit mit einer unbegründeten Razzia rechnen müssen, nicht die Zeit. Trotzdem ist zwischen drastischen Bildern Platz für subtile Dialoge." Und das "Bild Schillings, der am Ende als körperliches Wrack mit einem Plastiksack über dem Kopf auf dem Sofa liegt, spricht wie kein anderes von der großen Verzweiflung Kunstschaffender in Ungarn."

 

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