Sekündlich grüßt die Wachau

von Michael Stadler

München, 18. Oktober 2014. Ein Lied kann ein Gefängnis sein, kann den Menschen einschließen mit seiner Melodie und seinem Rhythmus, kann ihn verfolgen und bis ins Mark durchdringen, bis nichts weiter bleibt als mitzusingen. Oder mitzutanzen. Ach, klingt es nicht sirupsüß und wienerisch schön, das Lied "Da draußen in der Wachau"?  "Wo blühen die Bäume so rot und so weiß, und wo sind die Nächte so duftig und heiß…", singt Peter Brombacher im Dunkeln. Ein älteres Paar hat zum Auftakt elegant ein paar Walzerrunden auf die Bühne der Kammerspiele hineingezwirbelt, und diesem singenden Peter Brombacher nun, der mit Kopftuch die Großmutter, mit Messer den Metzgersgehilfen Havlitschek und rot behütet den Nachtclub-Conférencier geben wird, ihm kann man einfach nicht widerstehen.

Diktat der Gruppe

Brombacher wird dieses Lied in Stephan Kimmigs Inszenierung der "Geschichten aus dem Wiener Wald" noch zweimal anstimmen. Und täglich grüßt die Wachau, sogar sekündlich, weil die stete Wiederholung zum Konzept dieses Horváth-Theatertanztees gehört und der immerselbe Walzer durchrotiert: live gesungen und instrumental, als Synthie-Kitsch, als Saxofon-Solo, nur als Rhythmus oder luftiger Frauengesang (Musik: Polly Lapkovskaja). Andauernd dreht sich auch die leicht gewölbte Parkett-Drehscheibe (Bühnenbild: Katja Haß), gemächlich, wenn sie nicht gerade die aufeinandergetürmten Kleinbürger im Rückwärtsgang wie eine Jahrmarktssensation herumfegt.

wiener wald8 560 ju ostkreuz uIn der Umklammerung des Walzertakts: Sylvana Krappatsch und Max Simonischek, dahinter:
Peter Brombacher, Jochen Noch, Wolfgang Pregler, Anna Drexler © JU Ostkreuz

Die Wiener Gesellschaft der späten 1920er bewegt sich bei Horváth in engen Denkkreisen, derweil sie sich blendend amüsiert. Wobei bei Kimmig Entertainment bedeutet, dass die Figuren immer wieder tanzen, tanzen, tanzen, zu zweit, solo, in der Reihe, sich zwischendurch an den Händen greifen, um einen Kreis zu bilden, damit der Einzelne für ein Sprechsolo in die Mitte treten kann, um von der Gruppe unerbittlich wieder aufgeschluckt zu werden. Den Weg in Richtung Tanztheater hatte Kimmig schon in seiner Liliom-Inszenierung eingeschlagen, da jazzte Steven Scharf sich frei. An bildstarken Formationen, an ausgeklügelten Choreographien hat Kimmig wenig Interesse, vielmehr am Diktat der Gruppe, an ihrem starren Denkschema, das sich in diesem einen verlogen herzigen Walzer-Schlager und den Schritten, die er auslöst, manifestiert. Andere Lieder gibt es nicht.

Ausgelassene Zwangsspaßgesellschaft

Aber es gibt verschiedene Arten, sich gehen zu lassen, weil Gleichschritt zwar angesichts des nahenden Faschismus in Horváths Stück keine blöde, aber wohl banale Idee wäre. Sie bewegen sich in der Gruppe, jeder auf seine Weise, was auf der Drehscheibe seltsam ungeordnete Theaterbilder einer Walzerhorde entstehen lässt. Wolfgang Preglers Zauberkönig etwa nimmt das Lied von der Wachau verklemmt-steifer als Max Simonischeks Alfred, der nicht nur wegen seines Wuchses mehr Raum einnimmt, sondern auch weitschweifig liebt. Die Trafikantin Valerie lässt Alfred nach Belieben wie ein Pendel hin- und herschwingen: Die Frau ist so biegsam wie ihre Moral. Sylvana Krappatsch exerziert dabei den falschen Ton der Seelenverhärteten gnadenlos durch.

Im Ton von Max Simonischek liegt hingegen das leicht Schnöselige eines Yuppie-Typs, der das Platzen der New-Economy-Blase miterlebt hat und sich nun bei Mama und Großmama durchmausert. Aber vielleicht ist Yuppie auch schon zu viel gesagt, denn Kimmig folgt keinem Modernisierungsdrang und kehrt auch nicht die politische Komponente von Horváths Stück hervor. Der Neffe des Zauberkönigs, Student Erich aus Dessau, hat ein "Heil" auf den Lippen, aber Jeff Wilbusch vermeidet die militärische Charge, gliedert sich eher unauffällig für eine Weile in die ausgelassene Zwangsspaßgesellschaft ein.

Grausame Eingemeindung

Die Wiener Gang geht gamsig baden, bestaunt ein Feuerwerk, dass Kimmig richtig irr auf der Bühne krachen lässt. Zu diesem Zeitpunkt ist Marianne, die Tochter des Zauberkönigs, schon aus der Reihe getanzt, weil der ihr zugedachte Heiratskandidat Oskar es an Feingefühl mangeln lässt. Stefan Merki beißt als Fleischhauer der Verlobten die Lippen blutig und auch bei der Jiu-Jitsu-Einlage, die Merki knallkomisch in Richtung Bruce Lee und Sumō-Ringen ausufern lässt, muss Marianne kräftig einstecken. Dass sie sich in den Hallodri Alfred verguckt, inszeniert Kimmig nicht gerade als coup de foudre. Ein Kind ist jedenfalls bald da und Alfreds Liebe weg. Da kann Marianne mit ihrem frei gewackelten Höschen noch so kokett vor seiner Nase wedeln, der Lover wendet sich humorlos ab.

Im Lauf der Tanzrunden fällt Marianne immer tiefer, aber Kimmig lässt keinen Betroffenheitskitsch zu, sondern gewinnt selbst Mariannes Auftritt als Showgirl im Nachtlokal noch eine witzige Note ab: Anna Drexler mit Federhut-Ungetüm auf dem Kopf und Leuchtlämpchen vor dem Unterleib, kein verzweifeltes Opfer, sondern tapsig charmant und weiter um Haltung bemüht, umringt von einer Gesellschaft, die ihr jeden Ausreißer missgönnt und sie zum Schluss wieder grausam eingemeindet.

Ein Leben der sichtbar kleinen Schritte

Mit Anna Drexler hat Stephan Kimmig wie schon in "Liliom" das Herzstück seiner Inszenierung: Wunderbar, wie sie zwischen den Registern tänzeln kann, ihre Marianne verspielt, verletzlich und widerständig zugleich anlegt. Manche Emotion wird bei Kimmig schlichtweg vertanzt, aber er dimmt das Figurenkabinett doch für berührende Momente herunter, etwa, wenn die Musik ganz aussetzt und Marianne, entdeckt vom Zauberkönig, der sie verstoßen hat, in aller Stille ihr Showkostüm ablegt und an die Rampe geht: "Ihr sollt mich nicht mehr schlagen. Ich will nicht mehr geschlagen werden."

Die Walzerunseligen lassen jedoch nicht locker. Alfreds mörderisch vergrämte Großmutter (Peter Brombacher) und seine wenig hilfreiche Mutter (Jochen Noch) lassen Mariannes Sohn in ihrer Obhut sterben. Es bleibt ein Leben der sichtbar kleinen Schritte: Alfred kehrt zur Trafikantin zurück, Marianne entkommt Oskars Liebe nicht. Und wenn man auch nicht glauben mag, dass eine Mutter den Tod ihres Kindes mit nicht viel mehr als einem herabsinkenden Kopf quittiert, so hat man doch tolle Schauspieler erlebt, die Kimmig kontrolliert zu entfesseln weiß. Am Schluss tanzen sie, Marianne eingeschlossen, den Walzer weiter. Trauriger Sieg der Spießer. Schöner Erfolg für das Ensemble.

 

Geschichten aus dem Wiener Wald
von Ödön von Horváth
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Anja Rabes, Musik: Polina Lapkoskaja, Licht: Wolfgang Göbbel, Dramaturgie: Julia Lochte, Tänzerische Mitarbeit: Joachim Wörmsdorf.
Mit: Peter Brombacher, Anna Drexler, Sylvana Krappatsch, Stefan Merki, Jochen Noch, Wolfgang Pregler, Max Simonischek, Jeff Wilbusch, Joachim Wörmsdorf.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Mehr zu Ödön von Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald"? Die wurden zuletzt oft gespielt auf deutschsprachigen Bühnen: als Oper in Bregenz 2014, inszeniert von Barbara Bürk in Dresen, von Michael Thalheimer in Berlin, Enrico Lübbe in Berlin und Karin Henkel in Zürich.

 

Kritikenrundschau

"Es braucht einen längeren Anlauf, bis dieser Abend zu seinem Rhythmus findet," schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (20.10.2014). Es liegt aus ihrer Sicht wesentlich an den "großartigen, hier auch großartig bewegungsfreudigen, zum Teil schier akrobatischen Schauspielern", dass das "sportliche Regiekonzept nicht zum Korsett" wird. Denn "bis zur Verlobungsfeier von Marianne mit dem Metzger Oskar steht schwer zu befürchten, dass das nicht gut gehen kann mit diesem forcierten Getänzel und Geplänkel auf Katja Haß' Drehscheiben-Bühne (im Stil einer Tanzarena, aber nackt und trostlos). Das tritt und tanzt doch auf der Stelle, das dreht sich im Kreis!" Dann aber gebe es ein Feuerwerk, und die Szenen würden freier, fokussierter, endlich auch mal ruhiger. "Figuren geraten in den Blick, es entstehen Bilder."

Artifiziell aber stimming findet Michael Schleicher vom Münchner Merkur (20.10.2014) diesen Zugriff auf das Horváth-Stück. Stephan Kimmig habe dem Stück "ein strenges Korsett verpasst, das leicht Horváths Geschichte hätte ersticken können. Stattdessen entlarvt das nicht nur konditionell bestens aufgelegte Ensemble Bitterböses im Dreivierteltakt – ohne jeden Betroffenheitskitsch". Denn dem Regisseur gelingt es aus Sicht des Kritikers, "die formale Strenge seiner Inszenierung organisch wirken zu lassen."

 

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