Wollt ihr wohl artig sein!

von Esther Slevogt

Berlin, 23. Oktober 2014. Das Gemetzel fällt also aus. Mit bösen Ahnungen kommen die gewaltbereiten Burgunder in ihren prollig-protzigen Outfits (bei deren Design Ausstatterin Eva-Maria Bauer sich von Labels wie Versace oder Moschino inspirieren ließ) bei der neuen Familie von Schwester Kriemhild im Land der Heunen an. So heißen in Friedrich Hebbels Nibelungen-Trilogie die Hunnen, deren König Etzel die Burgunderprinzessin Kriemhild nach dem gewaltsamen Tod ihres ersten Mannes Siegfried geehelicht hat.

Diese Heunen sind im vorliegenden Fall alienhafte, in asketisches Schwarzweiß gehüllte Wesen mit strengen Frisuren. Sie machen meist seltsam choreografisch-verkunstete Bewegungen und singen a capella gelegentlich eine mindestens ebenso seltsam verkunstete Version von Irving Berlins Musical-Hit They say that falling in love is wonderful. Bei diesen fast schon abartig zivilisierten Heunen also treffen die fiesen Brutalo-Burgunderbrüder Gunther, Gerenot und Giselher mit ihrem Cheflogistiker für Mord und Todschlag, Hagen von Tronje, ein. Im Original ist ihre Ankunft in Etzels Schloss der Anfang vom berühmten blutigen Ende, an dem dann so ziemlich alle Figuren des Dramas schauerlichst dahingemetzelt sind. Nicht so in Sebastian Nüblings und Jens Hilljes Version. Denn die bösen Burgunder kommen nie am Hofe König Etzels an, sondern werden ins Maxim Gorki Theater umgeleitet. Und da ist man, jawohl!, gut und lieb.

Fußball-Nation, Exportweltmeister, Stalingrad-Untergang

"Was ist das für ein Saal?", fragt bei der Ankunft noch ganz Hebbel-getreu Hagen von Tronje alias Dimitrij Schaad in seiner schwarzen Lederjacke. Und Rüdeger, Vasall von König Etzel, den Falilou Seck hier mit der Stoa eines gebildeten britischen Butlers spielt, liefert eine Beschreibung des Saals der Berliner Singakademie aus dem frühen 19. Jahrhundert. Hier hielt, so Herr Rüdeger, im Jahr 1826 der Universalgelehrte Alexander von Humboldt seine Kosmos-Vorlesungen. In der Singakademie befindet sich heute das Maxim Gorki Theater.

dienibelungen 560 utelangkafel uNibelungen-Selfie © Ute Langkafel

Und dort ziehen nun die neuen Deutschen den alten Deutschen kräftig an den Ohren: Wollt ihr wohl artig sein! Und die bösen Deutschen, äh Burgunder, in deren jüngerer Geschichte der Nibelungenstoff so furchtbar missbraucht worden ist, sind ganz und gar aus dem Konzept gebracht. Wie, kein Mord und Totschlag mehr? Aber was soll nun aus uns werden? Wer sind wir denn dann noch? Und hier kommt Humboldt wohl wieder ins Spiel: Auf dieses Erbe sollt ihr euch besinnen, sagen Nübling und Hillje den alten Deutschen nämlich irgendwie auch. Vergesst die Nibelungen! Und so sitzt Dimitij Schaad am Ende ganz desorientiert auf der Bühne, faselt von den Fußballsiegen der Deutschen, haushoch gegen Brasilien bei der Fußball-WM, von Exportweltmeisterschaften und der Tatsache, dass die Deutschen selbst im Untergang stets noch die Größten gewesen seien. Aber ausgerechnet ein schöner blutiger deutscher Untergang Marke Stalingrad wird ihnen nun von der gestrengen Kriemhild alias Sesede Terziyan und ihrer neuen Familie verweigert.

Dabei hatte alles so schön angefangen: in einem Setting, dass eher Richtung Westside-Story als Nibelungen ging. Einem fetten schwarzen und frisch zu Schrott gefahrenen Mercedes waren die testosterongesteuerten Burgunder gut drei Stunden vor diesem sozialpädagogischen Ende entstiegen – mit den kampfgestählten Körpern aggressiv zu wummerndem Sound wippend und in Outfits, die so schrill waren, dass es die Schauspieler damit sogar in die Bild-Zeitung schafften. Besonders bei Till Wonkas Brunhilde, die als eine Art Wikingerversion von Conchita Wurst angelegt ist. Eine Vorstadtgang, der man dann beim Verschachern der Bräute Kriemhild und Brunhild zusehen konnte.

deruntergangdernibelungen3 560 ute langkafel uKennzeichen BRD: Die Bad-Boys aus Burgund © Ute Langkafel

Typisch deutsch: Dollar, Missbrauch, Swingerclub

Sesede Terziyans später so puritanisch geläuterte Kriemhild ist hier noch ganz Kiez-Bitch, die sich an der eigenen aggressiven Sexiness berauscht und solange giftet, bis der Zickenkrieg mit Brunhild in die Katastrophe führt. Siegfried ist der Mann mit der Kohle (Nibelungenhort, jawohl!), der sich die Akzeptanz der Gruppe trotzdem erst noch erkämpfen muss. Taner Şahintürk trägt Jogginghose mit geflügelten Dollarzeichen drauf und goldene Sneaker. Es fehlt eigentlich nur noch der Kampfhund, um einen echten Neuköllner Strizzi aus ihm zu machen. Er lässt sich und seine Kraft benutzen, um für den offenbar schwulen Schwager König Gunter die Dragqueen Brunhild klarzumachen. Nach ihrer Vergewaltigung im schwarzen Mercedes spült Hetero Siegfried sich angeekelt den Mund aus. Seine Ermordung findet dann in einer Art Swingerclub statt, und nicht bei der Jagd wie im Original. Atmosphärisch macht der Abend in diesem ersten Teil durchaus seine Punkte, auch wenn er ziemlich aufs Boulevard schielt. Nur wenn der unvermeidliche Originaltext gesprochen werden muss, um ein paar Handlungsdetails zu klären, wird's augenblicklich öde und leer.

Das also ist die groß angekündigte, mal nicht blonde und blauäugige Deutung des berüchtigten Nibelungenstoffes, in der nicht nur seine Missbrauchsgeschichte durch nationalistische und völkische Ideologien, sondern auch eine neue Antwort auf die Frage 'Was ist deutsch?' verhandelt werden sollte: Klischees, Klischees, Klischees. Es reicht auch nicht, die germanischen Helden gegen das rassistische Klischee zu besetzen. Denn damit zeigt man doch erst mal nichts anderes, als daß man selbst auf dieses Klischee hereingefallen ist.

 

Der Untergang der Nibelungen – The Beauty of Revenge
nach Friedrich Hebbel
Regie: Sebastian Nübling, Bühne und Kostüme: Eva-Maria Bauer, Musik: Lars Wittershagen, Licht: Jan Langebartels, Dramaturgie: Jens Hillje.
Mit: Tim Porath, Mehmet Ateşçi, Aram Tarefeshian, Dimitrij Schaad, Sesede Terziyan, Till Wonka, Taner Şahintürk, Nora Abdel-Maksoud, Falilou Seck, Cynthia Micas, Sarah Böcker, Benita Hacke, Fée Mühlemann, Annika Weitzendorf.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.gorki.de

 

Im Vorfeld der Premiere wurde ins Maxim Gorki Theater sogar Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier zum Werkstattgespräch "Wir Nibelungen" geladen.

 

Kritikenrundschau

Dirk Pilz, Berliner Zeitung (24.10.2014), hält es für "keine gute Inszenierungsgrundlage", wenn man ein Stück nur als "dankbares Maulschellenobjekt" hernehmen wolle. "In eine austauschbare Hülle wird Matsch gestopft." Die Inszenierung kenne "nur eine Geste, eine Pose und Botschaft. Sie will mit Gewalt einen Mythos entmiefen, ohne sich einen Begriff davon zu machen, warum und wozu." Ausgerechnet am Gorki werde alles auf Äußerlichkeiten reduziert, "alle werden zu Objekten von Billigzuschreibungen". Die Inszenierung wirke wie ein Blackout. "Möge ihr rasches Vergessen beschieden sein."

Im Tagesspiegel (24.10.2014) beginnt Rüdiger Schaper seinen Text mit dem Satz: "Die Nummer ist schon an die Wand gefahren, bevor sie überhaupt beginnt." Und damit meint er nicht nur das Auto auf der Bühne. "Diese Aufführung gehört zu jenen, von denen man nach einer (halben) Stunde sagt: Es geht nicht. Gar nicht." Plichtbewusst stellt Schaper am Ende noch ein paar Fragen: "Warum sprechen die Hunnen Französisch und sehen aus wie Kellner, mit ihrer schwarz-weißen Tracht? (...) Warum die 'Nibelungen' jetzt, im Herbst 2014?"

Katrin Bettina Müller schreibt in der taz (25.10.2014): "Über dieses Herunterbrechen der 'Nibelungen' auf ein boulevardeskes Gerangel um Potenz kommt die Inszenierung lange nicht hinaus. Sie hält dem Mythos erst mal nicht viel entgegen." Eine "glanzvolle Kabarettnummer" komme leider erst am Ende der Inszenierung, und zwar wenn Hagen über die verbliebenen deutschen Werte monologisiert. Ansonsten wirke Nüblings Figuren-Zugriff "eher wie ein Hau-weg-den-Scheiß".

Für Mounia Meiborg ist in der Süddeutschen Zeitung (25.10.2014) die gute Idee, sich der Nibelungen zu widmen, nicht aufgegangen: "Nübling versucht gar nicht erst, Figuren zu erschaffen. Er begnügt sich mit Karikaturen und hält sich den Stoff damit vom Leib. Auf die Frage, was das Teutonische genau ausmacht, findet er keine Antwort. Lieber präsentiert er schnelle Autos und stumpfe Technomusik als Errungenschaften made in Germany." Erst beim Hagen-Monolog bekommen man "eine Ahnung davon, wie dieser Abend hätte laufen können – wenn er sich nicht selbst tiefergelegt hätte."

"'Vorsprung durch Technik' werde im Gorki zitiert, so Stefan Grund in der Welt (25.10.2014) und teilt aus: "Vorsprung durch Sprechtechnik ist es im Gorki sicher nicht. Das Multikulti-Ensemble, (...) körperlich gesehen der Porsche unter den deutschen Stadttheatertruppen, schrottet sprachlich Hebbels 'Nibelungen'." Einerseits sei das "in Ordnung", sind die Burgunder hier doch eine "Nibelungen-Getto-Gang". Andererseits sei der "Untergang der Nibelungen" bei Nübling "nicht nur ein sprachlicher, sondern auch ein inszenatorischer, begründet in Effekthascherei, Publikumsranschmeiße, die übel langweilt". Obwohl "der Grundgedanke der Nibelungen-Sause, der verbeulte Mercedes als über Zeit und Raum triumphierendes Deutschlandsymbol, ist ein ins Mark treffendes Sinnbild" sei: "Die Lust am Untergang, an der nationalen Katastrophe wird hier als Teil des nationalen Gencodes beschrieben." Mehr sei dem Regisseur jedoch nicht eingefallen.

In Berlin wie in Hamburg (wo Antú Romero Nunes den Nibelungen-Mythos nach Wagner inszeniert) soll es "um die schlichte Story gehen, darum, den Stoff der wüsten und berüchtigt unübersichtlichen Nibelungenerzählung für intelligentes Gegenwartstheater nutzbar zu machen", schreibt Wolfgang Höbel in seiner Doppelrezension auf Spiegel Online (27.10.2014). In Berlin gehe "das Unternehmen krachend schief". Nüblings Schauspieler sprächen "brav und ungelenk viele von Hebbels Versen nach, als ob sie ein übereifriger Schultheaterleiter dazu verdonnert hätte".

"Bei Sebastian Nübling, der lieber auf rhythmische Gymnastik als auf historische Zusammenhänge setzt, sorgen die Nibelungen höchstens für einen etwas komplizierteren Verkehrsunfall, wird der Mythos zum Blechschaden", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.10.2014). Daher überwiegt dem Eindruck der Kritkerin zufolge "trotz des munteren Treibens mit manchen hübschen Details bald der Eindruck einer intellektuellen Leere, die in rund zweieinhalb Stunden nicht wegzuturnen, wegzukaspern, wegzubrüllen ist." Doch so billig seien die Nibelungen nicht zu haben.

"Ein Haufen Clublatscher" seien die Burgunder in Sebastian Nüblings "Nibelungen", "eitel und doof, konsumversessen und ein bisschen degeneriert", schreibt Thomas E. Schmidt in der Zeit (30.10.2014). Es bleibe offen, "wie sich unter diesen Herumhängern überhaupt so etwas wie eine Handlung, eine Verstrickung ereignen soll, ein tragisches Geschehen". Der Text werde "so weggesprochen", alles (Zeit-)Kritische der Inszenierung habe nichts mit dem Stoff zu tun. Nüblings "Nibelungen" seien mit einer gewissen Spannung erwartet worden, so Schmidt, "als ein machtvolles multikulturelles Dekonstruktionsunternehmen deutscher Leitkultur". Leider habe das Gorki "nicht geliefert".

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