Keiner dreht sich nie

von Kai Krösche

Wien, 24. Oktober 2014. Die Bühne hört kaum auf sich zu drehen an diesem Abend im Burgtheater, mal langsamer, mal schneller; nur kurz steht sie still, um sich dann doch wieder in Bewegung zu setzen, stets unterlegt von den grollenden Geräuschen eines, so scheint es, gigantischen Getriebes. Der Lauf der Dinge ist in Jan Bosses Inszenierung von Georg Büchners "Dantons Tod" keine unsichtbare Maschinerie: Das (Burg-)Theater und seine Bühne mit den Traversen, Scheinwerfern und den unzähligen auf der Bühne verteilten Kostümen, Requisiten und Theatermöbeln wird zum Sinnbild einer undurchdringlichen Kraft, die die Menschen mit sich reißt, egal was sie tun, sagen oder wollen. Später werden Danton und seine Mitgefangenen wie Marionetten an Stricken hängen, die sie wie leere und willenlose Hüllen immer wieder Richtung Schnürboden ziehen, mit langsamer, aber unaufhaltsamer Gewalt aufrichten und dann wieder zu Boden sacken lassen.

Marionettentheater mit zwei Vorspielern
Die menschgemachte Revolution ist bei Jan Bosse eine unfassbare und undurchdringliche Maschine – inmitten dieses Getriebes walten die Marionetten wider Willen, äußern ahnungslos ihre Sätze, schwärmen und klagen von Tugend, Laster und Schuld. Nur einer scheint dem Lauf der Dinge entkommen zu wollen: Danton (Joachim Meyerhoff), der Müdegewordene, torkelt und wälzt sich unablässig klagend gegen den Uhrzeigersinn, als wollte er die Zeit anhalten und das Gewesene ungeschehen machen. Hetzend, spöttelnd, zweifelnd und suchend sehnt er von Beginn an die totale Ruhe im Nichts herbei – dieser Danton ist kein hedonistisch der süßen Leere Frönender, sondern ein an seiner Schuld an den Septembermorden Verzweifelnder, der vergebens das Nichts in den Räuschen des Diesseits sucht.

danton 560a reinhardwerner uAuf der Suche nach dem Nichts in den Räuschen des Diesseits: Danton (Joachim Meyerhoff)
und Marion (Jasna Fritzi Bauer) © Reinhard Werner

Zu Beginn schmiert er sich mit zementartiger Masse ein, verwandelt sich selbst zur lebendigen Statue, die wie ein unruhiger Geist inmitten der Lebenden wandelt. Als er seine Verteidigungsrede hält, mit der er sich – und seine Weggefährten – vor der Guillotine retten soll, bäumt sich die gequälte Seele noch einmal kurz auf, setzt an zur großen Rede, nur um kurz darauf wieder ins gespenstische Wehen und Klagen zu verfallen. Ihm gegenüber steht die andere große Figur in Georg Büchners Stück: Michael Maertens als tugendsteifer Robespierre, ruhig, statisch, weich einem protestantischen Geistlichen gleich. Auch hinter Maertens' kühler Fassade brodelt es, wenn er sanft von der Notwendigkeit totaler Tugend fistelt, doch umgibt ihn die unheimliche Aura des bedingungslos Überzeugten.

Danton als Schatten von Woyzeck
Der große Schlagabtausch bleibt dennoch aus: Bei Jan Bosse sind sie alle Teil eines größeren Apparats, gehen unter im Knarzen der drehenden Bühne – und die anderen Figuren bleiben seltsam blass neben den großen Protagonisten des Stücks. Lediglich Fabian Krüger, dessen im Glauben an das "Richtige" in sich ruhender St. Just für beklemmende Augenblicke sorgt, und Jasna Fritzi Bauer, deren Marion mit ihrem Monolog über den Selbstmord eines unglücklichen Geliebten die Ahnung eines möglichen "Außerhalbs" vermittelt, schaffen es, sich für ein paar kurze Momente gegen den omnipräsenten Meyerhoff-Danton und den gottgleich mahnenden Maertens-Robespierre durchzusetzen.

So gerät Bosses Inszenierung trotz ständiger Bewegung von und auf der Bühne irritierend statisch: Spätestens, wenn sich Ignaz Kirchner ein Kopftuch umbindet und das Großmuttermärchen aus "Woyzeck" rezitiert, erscheint das Bühnengeschehen als eine allzu klare Spiegelung jener im Märchen herbeigeschworenen leeren, begrenzten und einsamen Welt, wirkt der hastende Danton wie ein Schatten des ruhelosen Soldaten Woyzeck, wird hier ein Büchner-Universum geschaffen, das sich aktuellen Bezügen bewusst verschließt und ein rein fatalistisches Weltbild zeichnet. Das ist auf seine eigene Weise dicht – nur vereinfacht man damit eben auch jene Komplexität und Vieldeutigkeit, die Büchners Stück erst wirklich spannend macht. So verweigert sich die Inszenierung in ihrer hermetischen Abgeschlossenheit letztlich trotz aller atmosphärischen Dichte erfolgreich genau jener Suche nach den unlösbaren Fragen, an der Büchners Figuren – ob nun im Danton oder Woyzeck – zugrundegehen.

Dantons Tod
von Georg Büchner
Regie: Jan Bosse, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Kathrin Plath, Musik: Arno Kraehahn, Video: Meika Dresenkamp, Licht: Peter Bandl, Dramaturgie: Gabriella Bußacker.
Mit: Joachim Meyerhoff, Peter Knaack, Daniel Jesch, Ignaz Kirchner, Michael Maertens, Fabian Krüger, Adina Vetter, Aenne Schwarz, Jasna Fritzi Bauer, Stefan Wieland, Hermann Scheidleder.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

Joachim Meyerhoffs Danton oszilliere "zwischen Syphilis, Selbstbezüglichkeit und Nihilismus", so Gerald Heidegger auf ORF.at (25.10.2014). "Zuspitzen und Zusehen lautet das Motto des Abends. Es ist das Gegensatzpaar Robespierre-Danton, Maertens-Meyerhoff, das den Abend trägt." Wobei Maertens Robespierre etwas "abgründiger" schillere. Das Volk bleibe in Jan Bosses Inszenierung "eine ferne Größe" – das Publikum müsse "zwischendurch die Rolle der Volksmasse übernehmen". Zur Drehbühne schreibt Heidegger: "Das Räderwerk der Revolution dreht sich gnadenlos voran, so die Dauerlosung dieses Abends, der von Dekor und Symbolen ein bisschen zu sehr strotzt." Dennoch: eine "gelungene Ensembleleistung", auch wenn die Inszenierung "gewisse Elemente zu sehr in die Länge dehnte".

Eine "originelle Inszenierung" von Büchners "teilweise strapaziöses Thesenstück voller Anspielungen" hat hingegen Barbara Petsch von der Presse (25.10.2014) gesehen. Bosse habe "saftige Volksszenen" gestrichen und "die Revolutionshelden vom Pathospodest" geholt. Sein Konzept gehe auf, "Meyerhoff ist großartig", aber "auch Michael Maertens als Robespierre wirkt spannend". Wenn Fabian Krügers St. Just "sich und den Kindersoldaten (...) die schöne neue Welt der Revolution" erkläre, habe "die Inszenierung ihre stärkste Aktualität, wobei sie dankenswerterweise auf vermummte Islamisten u. a. Plattitüden verzichtet". Bosse erforsche "das klassische Gelände weniger frech-souverän als sonst, aber er entwickelte für den Stoff Ideen, zeigt Liebe zum Detail und geht klug mit seinem sehr guten Ensemble um. Falls 'Danton' noch Schullektüre ist, wirkt diese Aufführung erhellend, modern."

Margarete Affenzeller vom Standard (27.10.2014) ist am Ende von Bosses Aufführung "zu 75 Prozent begeistert". Meyerhoff als Danton trage nur mehr "die Reste eines Lebemanns, eines inferioren Idealisten und bombastischen Kampfredners (…) auf seiner schmalen, oft gebückten Gestalt. Lehm schmiert er sich auf den Körper, als hätte er die Berührung mit dem eigenen Grab schon erfahren. Bosses dynamisches, stellenweise etwas ratloses, aber konzentriertes und kompromisslos im historischen Kontext verhaftetes Karussellbühnenarrangement gleicht auch ganz einem Totentanz. Es ist ein Spiel mit dem Jenseits und recht präzise auf den inneren Konflikt der Titelfigur zugeschnitten."

Einen "hechelnden, vor lauter Betriebsamkeit sich selbst aufreibenden, die Zuschauer in die Ermüdung treibenden Abend" hat Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (27.10.2014) erlebt. Viel gebe es "zu sehen und zu assoziieren in Jan Bosses schaueffektvoller 'Danton'-Inszenierung – zu viel. Es ist, als würde der Abend ersticken vor lauter Einfällen und Einsätzen. Das ganze Vorab-Brainstorming zu Büchners Stück über den Fatalismus der Geschichte am Fallbeilbeispiel der Französischen Revolution wurde, so scheint es, in Bildern und Ideen auf die Bühne gekippt, ziemlich ungeordnet, unkonzentriert und leider auch zu wenig präzisiert." Das Drama treffe "hier keinen Nerv, kommt nicht zur Ruhe, nicht zum Punkt, vielmehr kurvt, eilt, flitzt es vorbei: ein Haufen von Sätzen und Details."

Joachim Meyerhoff als Danton trage die Aufführung, er trage "sie über weite Phasen grandios", meint Christian Gampert auf Deutschlandfunk (26.10.2014), "aber retten kann er sie nicht – dazu hat Regisseur Jan Bosse viel zu viele schräge Ideen, die er alle unterbringen muss und die alle nicht taugen." Meyerhoff sei hier "ein effeminierter Lebensmüder, ein Décadent, der sich Beulen und merkwürdige Andy-Warhol-Haare an den Kopf klebt; ein Zombie der Revolution, der an nichts mehr glaubt." Die Inszenierung aber verdämmere – "nach großartigem Beginn – in allerlei Regieeinfällen, die so revolutionär leider nicht sind."

Eine "inspirierte Neuinszenierung" hat Kerstin Holm von der Frankfurter Allgemeinen (27.10.2014) gesehen. "Büchners Danton, der Alpha- und Genussmensch, der plötzlich alles satthat, steht bei Bosse in jeder Hinsicht neben sich. Den massigen Volkshelden lässt er von dem athletischen Lulatsch Joachim Meyerhoff verkörpern, der sich für die erotischen Eskapaden seines Helden einen Tuntenhabitus zulegt. (…) Alterslos und wie mumifiziert hingegen wirkt der vorzügliche Michael Maertens als derzeitiger Herr des Karussells, Dantons zum Feind gewordener Ex-Mitstreiter Robespierre." Das "Graffito eines türkischen Mondsterns" schließlich veranschauliche laut Kerstin Holm "Büchners unverändert aktuelle Zeitgenossenschaft."

Meyerhoffs Danton reibe sich Ton ins Gesicht, "als wolle er schon jetzt die Statue modellieren, die einmal in der Ruhmeshalle der Republik stehen soll", beschreibt Uwe Mattheiss in der tageszeitung (29.10.2014). "Wie er auch streicht, kerbt und knetet, es kommt regelmäßig ein Monstrum dabei heraus oder ein misslungener Marionettenkopf". Es gehöre zu den Vorzügen der Inszenierung, "in der Figurenkonstellation nicht auf die falschen Polarisierungen der Rezeptionsgeschichte hereinzufallen. Es geht nicht um die Frage nach der Legitimität politischer Gewalt, sondern schlicht darum, dass auch das Töten für die gute Sache müde und einsam macht." So komme Robespierre im sanften, unmanirierten Maertens Spiel "als zartes zerbrechliches Pflänzlein der Vernunft daher". Meyerhoff forme Dantons "geschichtliche Reflexion um zur großartigen Arie einer Ars Moriendi". Zurück bleibe "eine traurige, fast intime Geschichte über Tod, Verrat und Resignation in einer Gruppe junger Männer und Frauen."

mehr nachtkritiken