Die erogenen Zonen der Menschlichkeit

von Shirin Sojitrawalla

Mainz, 24. Oktober 2014. Barren, Bock und Bälle, ein Siegerpodest, stapelweise blaue Matten, ein paar Spinde, eine Bank und allerlei Sportzeug mehr: Die Bühne von Nikolaus Frinke versammelt, was vom Turnen übrig bleibt. Das hat sich fürs Sportstück der Französin Lucie Depauw unbedingt angeboten, dient ihr doch das Dopingsystem der DDR als Ausgangspunkt für ihre Geschichte über Transsexualität und Geschlechteridentität. Aus der willigen Sportskanone Lilli wird peu à peu ein Mann, erst unfreiwillig, später mutwillig. Dabei schickt das kurze Stück Mutterliebe und Vaterlandsliebe zusammen in den Kampf.

Die DDR als reine Kulisse
Als Rahmenhandlung dient ein Prozess im wiedervereinigten Deutschland, der die real existierenden Unrechtstaten einstiger DDR-Sportfunktionäre akribisch aufarbeitet. Heiner, der einst Lilli war, sitzt im Zeugenstand und spricht über sein Leben. Auch seine Mutter kommt immer wieder zu Wort. In seinem Kern erzählt das Stück die Geschichte einer Metamorphose, die als dezenter Werwolf-Schocker beginnt und sich zum Befreiungsdrama hochpumpt. 25 Jahre nach dem Mauerfall gelingt der 1978 geborenen Lucie Depauw damit ein Stück, in dem die DDR zwar Schauplatz, aber nicht Thema ist.

Die Regisseurin Brit Bartkowiak inszeniert das in Mainz als muntere Szenenfolge mit Sinn fürs Effektvolle. Einmal entlässt der Bühnenhimmel krachend eine ganze Ladung Goldmedaillen, ein anderes Mal stürzen Unmengen von Tablettenschachteln aus dem Schrank, dann wieder federt die Mama wie ferngesteuert auf dem kleinen Trampolin hoch und nieder. Immer mal wieder erscheinen die Akteure zudem als riesenhafte Fratzen auf der Rückwand projiziert.

lilliheiner 560a bettina-muller xWann ist ein Mann ein Mann? © Bettina Müller

Herausforderndes Opfergesicht
Von hoch oben, aus einer Art Sportreporterkabine, spricht der Staatsanwalt zu uns, der auch die fesche Lola und systemgesteuerter Trainer ist, in jedem Falle ist es der gern gesehene Schauspieler Rüdiger Hauffe, der alle drei mit Leben füllt. Als Mischung aus Margaret Thatcher, Queen Elisabeth und Margot Honecker gibt indes Anna Steffens die auf adrett gebürstete Mama des janusköpfigen Kindes mit resoluter Schnippischkeit. Der Vater hat sich beizeiten in den Westen verabschiedet und sie ist deswegen erst einmal um jeden Turnvaterersatz froh. Die allmähliche Vermännlichung ihrer Tochter verfolgt sie besorgt, obwohl sie ihr das Frausein stets in den dunkelsten, mit Vorliebe menstruationsroten Farben ausmalt.

Lillis Transformation geschieht dann vor unseren Augen: abgeklemmter Busen, aufgeplusterte Schultern und zurückgekämmtes Haar. Antonia Labs kommt ihre knabenhafte Figur zu Gute, während im Gegenstück Denis Larisch als Heiner das Mädchen wie aus dem Gesicht geschnitten scheint. Sein herausforderndes Opfergesicht schält sich aus ihrer blassen Burschikosität. Angetan mit den gleichen Hosen, Hemden und Haaren decken sie Unterschiede auf und fragen: Wann ist ein Mann ein Mann?

Text mit Stimmungsschwankungen
Der Text, der mit sprachlichen Reizen geizt, erzählt gekonnt vielstimmig vom Drinnen und vom Draußen, vom Eingesperrtsein in ein System wie in einen Körper, von den Mauern um einen herum und in einem drin. Dem Pathos der DDR-Leibesertüchtigung und ausufernder Testosteronseligkeit setzt er die Tatsächlichkeiten einer Geschlechtsumwandlung entgegen samt ihrer schaurigen Details. Doch gerade in jenen Szenen, welche die erogenen Zonen der Menschlichkeit ausloten, zeigt sich, dass sich das Stück besser spielt und spricht als liest. Der zeitweilige Hyperrealismus funktioniert in all seiner Aufdringlichkeit auf der Bühne besser als am Schreibtisch, wirkt einfach frischer, fröhlicher, freier.

Die Stimmungsschwankungen des Textes nimmt der Abend dabei schön beim Wort und treibt sie mit zwei Gesangseinlagen auf die Spitze. Die Schlager wirken in ihrem transvestitenhaften Charme wie Fremdkörper und auch sehr lapidar. Gleichzeitig verhelfen sie dem sich zunehmend verkrampfenden Stück zu mehr Lockerheit. Wie die Inszenierung es überhaupt versteht, dem kantigen Thema einen sehr runden Abend abzuringen, ohne den Text zu verrenken.

Lilli / HEINER Intra Muros
von Lucie Depauw
Deutsch von Christa Müller und Laurent Muhleisen
Uraufführung
Inszenierung: Brit Bartkowiak, Bühne: Nikolaus Frinke, Kostüm: Carolin Schogs, Musik: Thies Mynther, Licht: Peter Meier, Dramaturgie: Catharina Hartmann.
Mit: Rüdiger Hauffe, Antonia Labs, Denis Larisch und Anna Steffens.
Dauer: 1 Stunde, 20 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-mainz.de

 

Kritikenrundschau

Es sei keine leichte Übung, die sich Lucie Depauw "bei ihrem Blick in die Athleten-Hexenküche des real existierenden Sozialismus vorgenommen habe", schreibt Michael Jacobs in der Allgemeinen Zeitung (27.10.2014). Der ambitionierte Stoff bedürfe "einiger Klimmzüge und Verrenkungen, die dem Stück artistischen Schwung und Stringenz rauben." Die Inszenierung ächze dann auch "unter dem Kraftakt, unterschiedliche Themen und dramaturgische Disziplinen unter einen Hut zu bringen." Bei all diesen Anstrengungen hänge "der Zuschauer irgendwann ermattet in den Seilen, kann sich allerdings immer mal wieder an einigen starken Bildern aufrichten."

In Lucie Depauws Text, der "wie ein Musikstück" komponiert sei, kreuzten sich "gleich drei Geschichten, und sie haben alle mit der deutschen Vergangenheit zu tun", schreibt Eva-Maria Magel in der Rhein-Main-Zeitung der Frankfurter Allgemeinen (27.10.2014). In Brit Bartkowiaks Uraufführung des Stückes brauche es eine Weile, bis "die richtige Betriebstemperatur erreicht" sei. Das passe "einerseits zum Text, der auch ein völlig distanzierter Chor hätte sein können. Aber Bartkowiak entscheidet sich dann doch für mehr Wärme, für Nähe und Musik, Geräusch, Atem, Schweiß und Fleisch." Und so werde "aus den drei Geschichten eine, die zwar bis zum Ende reichlich konstruiert wirkt. Die aber doch haftenbleibt."

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