Gesammelte Liebeswerke

von Christoph Fellmann

Zürich, 16. November 2014. Das ist Sex als Arbeit. Wir sehen in eine kleine Wohnung auf ein Sofa, auf dem ein Mann und eine Frau mit der Herbeiführung eines Höhepunkts beschäftigt sind. Sie rütteln und rammeln, doch ist das Machtgefälle zwischen den beiden bald nicht mehr zu übersehen. "Bisschen schneller", sagt er, und "warte warte warte mal". Sie führt aus. Er, das ist der Banker Fritz Steixner (Fritz Fenne); sie, das ist die vor langen Jahren aus Ungarn nach Zürich gekommene Hure Anna (Annamária Láng), beziehungsweise eben die Geliebte des Bankers, der ihr die Wohnung zahlt und mehr. Es fliessen zwischen den beiden Körperflüssigkeiten, Geld und wohl auch ein bisschen Liebe. Wie heisst es so schön: An der Liebe soll man arbeiten.

Mit dieser Nacktszene eröffnet Kornél Mundruczó im Schiffbau in Zürich sein neues Stück, für das er sich gemeinsam mit der Co-Autorin Kata Wéber gefragt hat, was der Schweizer Finanzplatz mit seiner Heimat gemeinsam habe. Es ist dies: Viele der Prostituierten auf den Zürcher Strassen stammen aus Ungarn. Also führt er uns ins "Hotel Lucky Hole", in ein Ensemble aus Cabaret, Container und Badezimmer, ein Ort der billigen Ekstasen und Frischetüchlein, mit denen auch an diesem Abend manch ein Geschlechtsteil frischgewischt wird. Das ist der unerschrockene Realismus, wie man ihn vom 39-jährigen, ungarischen Regisseur kennt. Doch verbindet er sich im folgenden auf eine irritierende Weise mit einem Melodram, wie es auch in einem Schundroman stehen könnte.

Edelstes Krasstheater
Denn es begibt sich, dass der lokale Zuhälter Szaffi – János Szemenyei in weissem James-Dean-Shirt und Bomberjacke – aus der Ukraine eine neue Mitarbeiterin anschafft: Die minderjährige Elena (Lisa-Katrina Mayer) wird erst zur Konkurrentin der älteren Anna, bald aber zu ihrer Geliebten und schliesslich zu ihrer Komplizin. Dann nämlich, als Banker Steixner, inzwischen arbeitslos, mithilfe eines Strangulationssets aus Seil und Plastiksack aus dem Leben geht. Die Hilfe der beiden Prostituierten ist ihm 25 000 Franken wert – ein schlechter Lohn für die langjährige Haft, zu der Anna, verraten von Elena, bald darauf verurteilt wird. Elena will ihre Freundin befreien, findet darum an die Seite eines reichen, einflussreichen Sugardaddys, der auch tatsächlich Zuckermann heisst (Ingo Ospelt). Der besticht ein paar Beamte und holt Anna so aus dem Gefängnis.

HotelLuckyHole2 560 TanjaDorendorf uFesselspiele im "Hotel Lucky Hole" © T+T Fotografie / Tanja Dorendorf

Der Abend beruht auf Recherchen im Milieu und auf dem überlieferten Fall eines suizidalen Bankers, und die Gewalt- und Sexdarstellungen sind explizit, mehr noch: edelstes Krasstheater. Trotzdem kommt "Hotel Lucky Hole" seinem Thema und seinen Protagonistinnen kaum nahe. Während den ersten zwei Dritteln des Abends wähnt man sich eher in einer Erlebniswelt, in der die Menschen mit immer neuen, immer absonderlichen Fetischen zugange sind, und sei es, dass das Kokain von einer toten Ente geschnupft wird. So hat das Stück nicht nur einen albernen Plot, sondern bei allem geschäftigen Brutalismus auch etwas harmlos Anekdotisches.

Kein richtiges Leben im falschen
Lange passiert wenig. Nur kommt immer noch ein Freier mit noch einer Demütigung über die Frauen. Das wirkt auf Anhieb etwas bemühend, weil man das als so genannten Missstand ja aus der Zeitung kennt. Doch was sich eben auch einstellt, ist ein Gefühl für die eigene Abgestumpftheit, für genau diese Ungeduld gegenüber Personen, die nur als Fakten auf der Bühne stehen und nicht als psychologische, rhythmisch durchemotionalisierte Identifikationsfiguren. Anna und Elena stehen in ihrer Schemenhaftigkeit auch vor dem Publikum wie Prostituierte am Strassenrand. Nur, sie geben uns nicht ihren Körper, und auch nicht ihre Geschichte. Sie geben uns ihren abgegriffenen Schundroman.

Und dieses Melodram offenbart nun, nach all der Gewalt und all den schmierigen Anekdoten, seinen verzweifeltsten Moment: Anna und Elena küssen sich zum ersten Mal. Doch nur Sekunden später erscheint ihre Liebe schon wieder billig und falsch – wegen eines einzigen, stossweise aus den Keyboards ejakulierten Liedes. Es ist in der Verrichtungsbranche kein richtiges Lieben im falschen, jedenfalls keines, von dem man in der Zeitung je erfahren würde. Im Gegenteil, die Powerfrisurenballade von Jennifer Rush kündigt mit hohlem Pathos schon den späteren Verrat an: "I am ready to learn / About the power of love."

Das ist der Moment der Wahrheit an diesem Abend, an dem wir eine Geschichte wollten. Und einen Plot kauften. In einem hastigen Hör- und Filmspiel wird er zu Ende erzählt. Ein "bisschen schneller" halt.

 

Hotel Lucky Hole
von Kornél Mundruczó und Kata Wéber
Regie: Kornél Mundruczó; Ausstattung: Márton Àgh; Video: Marcel Rév, David Jancso, Stephan Barth; Licht: Markus Keusch; Musik: Janos Szemenyei.
Mit: Annamária Láng, Lisa-Katrina Mayer, Fritz Fenne, Miriam Maertens, Henrike Johanna Jörissen, Nils Kahnwald, Ingo Opselt, André Willmund, János Szemenyei.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielhaus.ch



Kritikenrundschau

Mundruczó erzähle im "Duktus einer Fernsehserie" und liefere "paradoxerweise Unterhaltungstheater im genuinen – auch ganz biederen – Sinn", schreibt Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (18.11.2014). Sein Stück "schafft Spannung dank abwechslungsreichen Schicksalen, verwöhnt die Augen mit üppiger Wimmelbild-Ausstattung, stillt das Bedürfnis nach Skandal und beruhigt unser ob all dem genüsslich ausgelebten Voyeurismus etwas nervös gewordenes Gewissen, indem es die böse Schweiz gehörig an den Pranger stellt, mit den Männern, diesen samt und sonders fiesen Lustmolchen, abrechnet und über den armen ausländischen Sexarbeiterinnen einen Heiligenschein entzündet. Mehr politisch korrekte Mainstream-Klischeehaftigkeit geht kaum."

Von einem "komplexen Konstrukt, das die Autoren – Mundruczó und Kata Wéber – für Zürich entwickelt haben", berichtet Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (18.11.2014), mit dem sich Mundruczó "viel näher herangespielt an unsere bieder-behüteten Leben hier in der Glücksverlochete namens Schweiz" als in früheren Arbeiten. Diesmal "knallt uns keine Faust in die Magengrube. Sondern es zerfällt eher, fasert aus in die auseinanderstrebenden Storys, die unterschiedlichen Theatersprachen, den Film (…), das ins­zenierte Hörspiel, das Musical-In­termezzo." Fazit: "Kornél Mundruczós klirrende Genre-Jonglage, sein gekonntes Disziplinen-Jumping rund um die Liebe, die keine sein darf, sein Abgesang auf alles Authentische ist wie ein Besuch im gesellschaftskritischen Zirkus; und bei aller Hochachtung vor dem Projekt und seiner professionellen, allzu professionellen Durchführung – ein wenig öde."

"Glanz und Elend von Zürichs Kurtisanen" sei hier "ein weitgehend lustiges Lustspiel, mit Dialogen, die spitz auf einen Gag hingeschrieben sind", findet Simone Meier in der Süddeutschen Zeitung (19.11.2014). So schaue man "denn amüsiert distanziert zu, ist prima unterhalten, das zweifellos, und besonders Annamaria Lang ist ein purer Segen, eine Frau mit vielen Temperamenten, die zarte Geliebte, die coole Puffmutter, die Gebrochene". Eine Weile werde man "so hin- und hergeschubst zwischen Lust und Frust und deplatzierten Operetten-Einsprengseln. Und dann wähnt man sich in diesem Faserland einer Inszenierung wieder mitten in einem alten, moralisch verstaubten Brecht".

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