Geschichte einer vergessenen Liebe

von Tim Slagman

München, 13. Dezember 2014. Sie streicht, er tippt, und das Cello gewinnt dabei jedes Mal über die Schreibmaschine. Was einfach ein kleines, zur Routine gewordenes Gekabbel unter alten Eheleuten darstellen könnte, wird auf der Theaterbühne des Münchner Winterfestivals Tollwood zu einem wortlosen Austausch voller Witz, voller gemeinsamer Lebenserfahrung und, auch das, voller Sinnlichkeit.

Geistiger Verfall eines geliebten Menschen

Es kann auch gar nicht anders sein, denn seine Macht, die Macht der Wörter, die Macht der Sprache und des Abstrakten, ist gebrochen. Niemand spricht auf dieser Bühne. Und während der Mann, den wir André nennen wollen, gerade sein aktuelles Buch fertig schreibt, auf das er mindestens so mächtig stolz sein wird wie auf die vorangegangenen, erhält seine Frau Dorine ihre Alzheimer-Diagnose. Die spanische Theatertruppe Kulunka Teatro hat ihr Stück nach den Schicksalen des französischen Sozialphilosophen André Gorz und seiner Frau modelliert, die sich 2007 gemeinsam das Leben nahmen. Dorine Gorz litt zwar nicht an Alzheimer, aber Kulunka Teatro geben der Geschichte damit dennoch einen weiteren katastrophischen Dreh: Ein Geistesmensch muss den geistigen Verfall eines geliebten Menschen miterleben.

andredorine 560 xx xZwei von insgesamt 15 unterschiedlichen Masken.  © Kulunka Teatro

Garbiñe Insausti, José Dault und Eduardo Cárcamo schlüpfen unter insgesamt 15 unterschiedliche Masken, die mit viel Liebe zum Detail individualisiert sind, etwa in der Farbe und Dichte der Haare und Augenbrauen, in der Knochenform, dem Faltenverlauf, in der Zeichnung geschwungener oder strichhafter Lippen – die aber dennoch stets Masken bleiben, Erinnerungen an das Allgemeine, allesamt ein klein wenig zu groß für die Körper, die aus ihnen herausragen. Dass sie den durchweg jungen Schauspielern überhaupt erst die Möglichkeit geben, die Figuren einigermaßen glaubwürdig – und hier passt ausnahmsweise der Begriff – zu verkörpern, bleibt ein angenehmer Nebeneffekt.

Socken an den Händen

Genau diese Verbindung des Besonderen mit dem Allgemeinen erreicht den bedrückenden emotionalen Effekt der Inszenierung: In einem – von der geschmacklosen Tapete abgesehen – betont schlichten Wohnzimmer wird Dorine sich die Socken an die Hände ziehen, sie wird ihren Sohn hier irgendwann nicht mehr erkennen, und sie wird kleine Tröpfchen über den Boden ziehen, wenn sie vom Klo in ihren Sessel schlurft – Symptome der Krankheit, die jeder so zu kennen glaubt.

Aber in diesem Wohnzimmer ertönen auch zum ersten Mal die neuen, schrägen Klänge von Dorines Cello, hier versucht André, die Geschichte einer Liebe in die Tasten zu hauen, die sich immer wieder ganz konkret im Bühnenvordergrund nachzuspielen beginnt: Mit seinen Schriften, die sie sich ekstatisch über die Brust reibt, ohne sie allzu genau zu lesen, hat er Dorine damals rumgekriegt. Was sie heute aber mit dem seltsamen Blatt Papier anfangen soll, auf dem doch ihre gemeinsame Vergangenheit steht, weiß sie nicht mehr und will es zerknüllen.

Humor gegen Mitleidsporno

All diese traurigen Miniaturen liefen immer noch Gefahr, in einen übergefühligen Mitleidsporno zu entgleiten, wäre da nicht eine sehr geschmackssicher angewandte Injektion von Humor, deren Dosis parallel zu Dorines Verfall abnimmt. So passt sich auch der Akkordeon-Chanson, der die Entwicklungen leitmotivisch begleitet, dynamisch an die
Stimmungen von Aufbruch, Wehmut und jungem wie reifem Glück an. Anfangs, als Dorine sich im Wartezimmer noch mit einem rüpelhaften Patienten anlegt, der ihren Sohn schon in die Flucht geschlagen hat, spielt sich das ähnlich der pointierten dramaturgischen Binnenstruktur eines Sketches ab.

Einen solchen Exzess an Gesten wie hier, den Luxus verpuffender Bedeutung, leistet sich die Inszenierung ansonsten kaum. Standards wie der verzweifelt-überraschte Blick ins Publikum oder das Zeigen mit ausgestrecktem Arm auf Personen oder Gegenstände verleihen dem Geschehen eher eine Überdeterminiertheit, die aber verblüffend intensiv bleibt. Hier repräsentiert alles, und gleichzeitig ist nichts je abstrakt.

 

André & Dorine
von Kulunka Teatro
Regie: Iñaki Rikarte, Bühne Laura Eliseva Gómez, Kostüme: Ikerne
Giménez, Masken: Garbiñe Insausti, Musik: Yayo Cáceres, Licht: Carlos
Samaniego.
Mit: Garbiñe Insausti, José Dault, Eduardo Cárcamo.
Dauer: 1 Stunden 20 Minuten, keine Pause

www.tollwood.de/winterfestival-2014/theater

 

Kritikenrundschau

"Ohne Worte, mit ausdrucksstarken Masken, viel Spielwitz und einer Fülle zauberhafter Details" erzähle das Kulunka Teatro "die Geschichte einer großen Liebe, eines langen gemeinsamen Lebens und die Tragödie der Entfremdung zweier Menschen durch Alzheimer", notiert Petra Hallmayer in der Süddeutschen Zeitung (15.12.2014). Man erlebe "einen leisen und zarten, übermütig komischen und todtraurigen Reigen aus Szenen-Miniaturen", wobei die Inszenierung die Krankheit nicht beschönige. Alles in allem sei hier "ein wunderbar schlichtes, kitschfrei tief berührendes Stück gelungen".

Jede Reaktion sei hier "wie aus dem Leben geschnitten: die patriarchalische Halsstarrigkeit, die mütterliche Fürsorge und, wunderbar, der verzweifelte Blick des Juniors ins Publikum", schreibt Malve Gradinger im Münchner Merkur (15.12.2014). "Das ist genau der Moment, wo die Maske mit ihren vergröberten Zügen mehr Ausdruck transportiert als ein Gesicht. Es muss natürlich, was hier der Fall, die Körpersprache so präzise sitzen wie im Sprechtheater Betonung und Phrasierung des Texts." Der Humor sei "leise, übersetzt in Millimeter-Gesten. Und Regisseur Iñaki Rikarte nimmt sich, wohltuend in unserer getriebenen Smartphone-Ära, auch viel Zeit. Zeigt mit Geduld und auf feinnervige Art, wie das Leben durch Alzheimer verdämmert." In "Zeiten von Turbokapitalismus und Verschwendungskonsum" sei "dieser Abend das schönste Anti-Weihnachtsgeschenk".

 

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