Fett und federleicht

von Geneva Moser

Bern, 14. Dezember 2014. Dünn werden um endlich gesehen zu werden, das sollen die kugligen Kinder in "Seymour oder Ich bin nur aus Versehen hier". Von ihren Eltern in ein Kurhaus in den Bergen verfrachtet, kämpfen sie um den Weg zurück ins Zentrum der Gesellschaft: Optimierungswahn und Zwangsformierung machen auch vor Kindern keinen Halt. Der Neuankömmling Leo glaubt zu Beginn noch, mit ihm sei alles völlig in Ordnung, die Eltern würden ihn bald holen und der englische Cousin Seymour, der nun das Zimmer zuhause bewohnt, sei auch nur vorübergehend da.

"Dazugehören" ist die mit heiligem Ernst verfolgte Mission der Kinder: Sie müssen kläglich scheitern, nicht nur am Abnehmen, auch am Lieben, am Lernen, an der Gemeinschaft. Anne Leppers gefeiertes Kammerspiel "Seymour" hat nach der Uraufführung 2012 in Hannover unter der Regie von Claudia Bauer nun den Weg in die Schweiz geschafft.

Kugelige Randexistenzen im Strampelanzug

Die mit kugeligen Fatsuits ausgepolsterten Kinder hampeln unbeholfen und verzweifelt durch einen markanten, grauen Trichter. Türen und Fenster gibt es keine, nur glatte Fläche in unterschiedlichen Schattierungen, hohe Wände und harte Kanten. Die massigen Randfiguren betreiben darin choreografiertes Slapstick-Wrestling, welches sich Knall auf Fall in bedrohliche Kämpfe wendet. Mit Flanell-Bademantel, Strampelanzug und Schweißband bekleidet rennen sie im Hamsterrad der auf Leistung gedrillten Ich-AG. Sie beklagen die Berührungsarmut ihrer Welt, während ihre Leiber ständig ineinander prallen. Dass das Gefäß des Trichters die massigen Kurgäste immer wieder qua Schwerkraft in die Mitte zieht, während sie lieber über den Rand hinaus klettern würden, verkehrt auf paradoxe Weise die Regeln gesellschaftlicher Mitte und Randexistenz.

seymour1 560 annette boutellier uKugel-Kinder im grauen Trichter  © Annette Boutellier

Regisseur Dominic Friedel gibt der Sprachkraft der Textvorlage jeden erdenklichen Raum. Anne Leppers Text profitiert von tausend Komplizitäten (von Sartre über den Zauberberg bis hin zu E.T. oder Struwwelpeter), verliert sich aber nicht geschwätzig in Verweisen – und das muss auch erst gekonnt sein: Kinderfiguren Slavoj Zizek zitieren lassen, ohne das Publikum komplett zu ennuyieren. Wenn diese Kinder wie Erwachsene sprechen, offenkundig eingetrichterte Floskeln lamentieren und Sprache aus ihrem Mund immer irgendwie künstlich klingt, dann passt das wunderbar zur angestrebten Epochenkritik. Sie sprechen orchestriert im Chörchen, reden sich gegen den Text um Kopf und Kragen und versteigen sich in sinnentleerte, absurde Monologe. Die ewige Berufung auf den stets abwesenden Dr. Bärfuss, der hinter dem Kurprogramm steht, fungiert als Mantra; die Figur des dünnen Sebastian, der aus unerfindlichen Gründen nie aus der Kur entlassen wurde, erfährt für ihre Schönheit eine bisweilen religiöse Anbetung durch die anderen PatientInnen. Beide Figuren sind Beispiele dafür, so bemerkt das Programmheft treffend, wie "Verweise auf psychoanalytische Theorien und literarische Werke als Folie über der ganzen Handlung liegen".

Federleicht implodieren

Erstaunlich ob der wortwörtlichen Schwere des Stoffes und der Textvorlage ist, dass Friedel dieses Stück immer wieder filigran und brüchig zu machen vermag. Dies gelingt zum einen durch poetische Momente, wie eine überraschend einsetzende Kindertrompete oder gescheiterte Versuche von verbalen Zärtlichkeiten zwischen der köstlich verschrobenen Heidi und dem Neuling Leo. Zum anderen sind es einfache Mittel mit großer Wirkung: Federn, an unsichtbaren Fäden hängend, sind der Kontrast zum Gewicht, Regen, der den Trichter berieselt und nicht mehr aufhören will, perfektioniert die graue Trostlosigkeit. So findet Friedel für Anne Leppers düster-pessimistischen Kommentar zur Leistungsgesellschaft eine konsequente, poetische Bildsprache, die ganz ohne Exzess oder Groteske auskommt. Abgesehen von der Körperfülle des Personals gibt sich die Inszenierung ökonomisch und glatt – und lässt dabei letztlich an Radikalität vermissen. Eine engagiertere Ästhetik wäre der Relevanz des Textes vielleicht gerechter geworden.

Leo wurde durch seinen Cousin Seymour natürlich dauerhaft ersetzt, die Erwachsenen haben sich der dicken Kinder entledigt und sie allein gelassen. Diese beklemmende Kinderwelt der abwesenden Autoritäten implodiert spätestens nach dem Tod eines Kindes. Max hält nicht nur nicht mehr aus, dass er längst den Anschluss an die Schulklasse zuhause verpasst hat und nichts lernen kann; auch das Liebesgeständnis seines Mitpatienten Oskar überfordert ihn dermaßen, dass er sich im Sanatorium erhängt. Es ist einer der stärksten Momente des Stücks, wenn dieses Erhängen mit dem Ausziehen des Fat-Suits dargestellt wird – das Verlassen des Körpers hinterlässt hier einen Haufen Elend aus Watte.

 

Seymour oder Ich bin nur aus Versehen hier
von Anne Lepper
Regie: Dominic Friedel, Bühne: Olga Ventosa Quintana, Kostüme: Senta Amacker, Musik: Michael Frei, Dramaturgie: Sabrina Hofer.
Mit: Benedikt Greiner, Milva Stark, Mona Kloos, Stéphane Maeder, Pascal Goffin, Andri Schenardi.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.konzerttheaterbern.ch

 

Kritikenrundschau

"Der brilliante Text von Anne Lepper und die Inszenierung von Dominic Friedel geben dem Stück in den Vidmarhallen eine Fülle, die derjenigen der Fat-Suit tragenden Schauspieler in nichts nachsteht", schreibt Lorenz Häberli in Der Bund (16.12.2014). Die dringliche Frage des Stückes sei nicht, wie man schlank wird, sondern – im Sinne des Existenzialismus – wie man den Tag übersteht, ohne sich umzubringen. Der übermässige Einsatz von Verweisen berge die Gefahr, dass die Dialoge in Formelhaftigkeit erstarren. Bei "Seymour" sei das aber nicht der Fall, "und wenn, dann ist es Absicht: Die alteingesessenen Kinder klären den Neuankömmling im Chor über die Regeln des Hauses auf, ­leiern herunter, was ihnen eingetrichtert worden ist, ohne es wirklich zu verstehen, und betonen die Worte herrlich schräg."

"Leppers Gesellschaftskritik kommt punkto Dialoge mal mehr, mal weniger subtil daher", findet Helen Lagger in der Berner Zeitung (16.12.2014). "Eine gelungene Umkehrung von Struwwelpeters Suppenkaspar bringt die Problematik auf den Punkt: Während man früher Angst hatte, das Kind esse nicht, fürchtet man heute, es werde später zu den dicken Verlierern gehören." Dominic Friedel setze bei seiner Inszenierung auf Minimalismus, "braucht weder Blut noch viel Geschrei, um das Grauen heraufzubeschwören."

"Leider beeinträchtigt Regisseur Dominic Friedel die Dichte des Textes durch szenische Längen und scheut nicht vor billigem Ulk der dick wattierten Kinder zurück", macht Beatrice Eichmann-Leutenegger es in der Neuen Zürcher Zeitung (19.12.2014) kurz.

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