Beleidigung des Glücks

von Jens Fischer

Osnabrück, 24. Januar 2015. Wir befinden uns in den 1970er Jahren. Also flankieren ganz fiesfarbig bekringelte Tapetenmuster den Ort, die Bodenwelle, das Bühnenbild. Kindlich Verspielte und übermütig ineinander Verknallte animiert das zum ganz realen Herunterrutschen – was natürlich auch symbolisch gemeint ist. Denn hinab geht's, eine Beleidigung des Glücks. Wir sollen einer Liebe beim Scheitern zusehen und den Grund dafür in den Traumata eines Flüchtlings erkennen. Nur müsste sie dafür erstmal himmelhoch jauchzen, die Liebe, um dann in einer Lebenssenke losheulen zu können.

Zärtliche Stunden für Anfänger?

Omid (Marcus Hering) ist vor der islamischen Revolution und dem Krieg zwischen Iran und Irak zum Studieren nach Deutschland geflohen. Er und seine Freundin Maria (Franziska Arndt) mühen sich redlich um Fallhöhe für ihre Rutschpartie. Versuchter Kuschelblick, streicheln mit sanftwütigen Fingern, gegenseitiges Haare verwuscheln, anschmiegen – als würden die Hauptkapitel aus dem Lehrbuch "Zärtliche Stunden für Anfänger" rein äußerlich nachgestellt. Doch was mag dieses biedernett überfreundliche Mädchen mit seinen kleinbürgerlichen Lebenslügenträumen bloß an jemandem finden, dem das alles völlig egal ist? Der die umschatteten Augenhöhlen einer verlorenen Seele trägt, die Haltung eines Jungschnösels mit Stoikermimik serviert und seine Texte kerlig heraushaut.

Dieser Bühnen-Omid ist so ganz anders, als die deutsch-iranische Autorin Azar Mortazavi ihn entworfen hat. Er "ertrinkt in seinem Kopf", heißt es im Stück, und nimmt das Telefon nicht ab aus Angst, es würde von Not, Hilferufen, Tod seiner Angehörigen berichtet. Großes Entsetzen, als im Radio eine Sondersendung läuft: "Viele, viele Tote, sie nennen eine Zahl, ich halte mir die Ohren zu, militärisch unterlegen, sagen sie, also werden Kinder geopfert, ich drücke meine Hände fest auf meine Ohren, ich summe etwas." Von Schuld getrieben läuft Omid vor sich selbst weg – und bringt seine Maria so zur Verzweiflung. Sie kann die Leerstelle, die seine abwesende Familie hinterlassen hat, nicht füllen.

Mit oder ohne Migrationshintergrund

Hochdramatisch könnte das sein, aber mangels Glühen der Liebe sehen wir in Osnabrück auch nicht das Verglühen, angekündigt als "feine Haarrisse im Gefüge unseres Miteinanders", sondern von Anfang an nur nie und nimmer Zusammengehörende. Das Ärgerliche daran: Diese leblosen Szenen einer Ehe verweigern Mortazavis Begründungszusammenhang, würden nämlich auch ohne Migrationshintergrund in Trennung münden. Was das Produktionsteam bemerkt haben muss. Es versucht, die Darsteller durch dezente Stilisierungen der Szenen zu stützen, die zudem immer wieder mit Pop- und Rockmusik aufgeladen, unterfüttert und zugebuttert werden. Sentimentalisierend, teilweise gar verkitschend.

sammy und die nacht 4 560 uwe lewandowski uKulturell multiple Identitäten: Omid (Marcus Hering) und Sammy (Oliver Meskendahl)
© Uwe Lewandowski

Das alles ist umso verblüffender, da sich Pullens erste Uraufführung eines Mortazavi-Stücks in Osnabrück 2012 so sensationell empathisch in den Text hineingrub und die Darsteller inspirierte, sich schonungslos beherzt in den Rollen zu verausgaben: Ich wünsch mir eins porträtierte Leila, Tochter einer Deutschen und eines Mannes aus "Arabien", die voller Sehnsuchtsschmerz nach diesem Land ist, in dem sie noch nie war. Dass solche Zerrissenheit über Generationen vererbt wird, beschreibt Mortazavi immer wieder. Ziemlich beeindruckt von der Energie, die sich damals aus den schroffen Kurzszenen entwickelte, gab Pullen sofort ein neues Stück in Auftrag.

Sprache der Sprachlosigkeit

In "Sammy und die Nacht" geht es jetzt wieder um binationale Partnerschaften, kulturell multiple Identitäten und die Suche nach Heimat. Wieder wechselt die Autorin episch distanzierend zwischen verknappten, psychologisch skizzierenden inneren Monologen und schnörkellosen Dialogen, mit denen auf Fehlfarben des Alltags hingewiesen wird. Alles spielt erneut in einem eher schäbigen Mietshaus, mit einer Karikatur-Deutschen als Nachbarin der Hauptfiguren. Omid ist nun derjenige aus dem Mittleren Osten, der sich in Deutschland nicht zuhause fühlt und in die Gesellschaft anderer Exilanten flüchtet, beispielsweise den als Doppelgänger kostümierten, von Kriegserlebnissen psychisch zerrütteten Sammy unterstützt.

Einen Ausweg bietet der zweite Teil: Omids und Marias Tochter Mina reflektiert die Situation ihrer Eltern und entdeckt wie Leila in "Ich wünsch mir eins", dass dieses empörend störende Empfinden, in Deutschland nicht ganz dazuzugehören, das Heimweh als Fernweh befeuert. Motivation für einen Aufbruch: Teil 3 ist Minas lapidare Abrechnung mit der Mutter und Neugierbekundung für den entsorgten Vater. Mit ihm will sie in den Iran reisen, Kopftuch und persischer Pass sind bereits besorgt. Das ist nun auch eindringlich inszeniert. Maria Goldmann spielt Minas Selbstbefreiung filigran mit starkem Willen: endlich nicht mehr fremd im vertrauten Leben sein, ins Unbekannte der eigenen Familiengeschichte zu wollen. Zum ersten Mal an diesem Abend klingt Mortazavis Sprache der Sprachlosigkeit nicht nach lautem Verstummen.

 

Sammy und die Nacht
von Azar Mortazavi
Uraufführung
Regie: Annette Pullen, Bühne / Kostüme: Gregor Sturm, Dramaturgie: Maria Schneider.
Mit: Marcus Hering, Franziska Arndt, Maria Goldmann, Caroline Schreiber, Oliver Meskendahl.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-osnabrueck.de

 


Kritikenrundschau

Auch in ihrem neuen Stück "zoomt Azar Mortazavi die Zuschauer ganz nah heran an das tragische Einzelschicksal und die beklemmende Feinmechanik des Scheiterns", schreibt Christine Adam in der Neuen Osnabrücker Zeitung (26.1.2015). Sie lade zur Identifikation mit den beiden Hauptfiguren "ein und setzt an die Stelle des Fremden und Befremdlichen die Empathie." Regisseurin Annette Pullen und ihr Team "folgen ihr darin sehr einfühlsam und genau." So entstehe ein "Kammerspiel der feinsten persönlichen Seelenregungen", wie es "nicht mehr zum täglichen Brot in deutschen Spielplänen, denen es zunehmend mehr ums Globale und Kollektive geht", gehöre.

Papieren geraten sei Mortazavis zweites Stück, es wirke angelesen, findet Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (28.1.2015). "Im Gegensatz zu zahlreichen Dramen des Theaters und des deutschen Autorenfilms aus dieser Zeit, die Ängste und Albträume von Migranten in genauen Gesellschafts-Porträts festhielten, bieten Mortazavis Mutmaßungen leider kaum Neues." Pullens Regie verschlimmbessere "diese Mischung aus zu großer Unkenntnis und zu großer Beteiligtheit noch durch unentschiedene Regie-Einsprengsel". Briegleb berichtet von "pseudorealistischer Spielweise", einer "Ansammlung narrativer Seifenblasen und alberner Rutschpartien, unterbrochen von völlig unsinnigen Musikeinspielungen".

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