Deutsche Tugenden

von Eva Biringer

Berlin, 9. April 2014. Der Supermann von heute trägt Anzug, Krawatte und schwarze Lederschuhe. Sechs Vertreter dieser Spezies stehen auf der Bühne des Ballhaus Naunynstraße, von deren Decke unzählige Glühbirnen in unterschiedlicher Höhe baumeln, mal gedimmt, mal strahlend hell (Bühne: Robert Schweer). Einer der Männer stimmt eine Melodie auf dem Flügel an, woraufhin die anderen inbrünstig singen, allerdings kreuz und quer, ein jeder sozusagen, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Hätte der Pianist François Régis nicht beide Hände auf seinem Instrument, er würde sie über dem Kopf zusammenschlagen. Stattdessen nimmt er einen Schluck aus der Whiskeyflasche und zeigt sich zuversichtlich. Was nicht ist, kann ja noch werden!

Väter, Söhne, Ehemänner

In "Süpermänner" beleuchtet die Regisseurin und Schauspielerin Idil Üner den Status Quo des türkischen Mannes. Um den steht es schlecht, wenigstens nach Ansicht des Pressetextes. "Türkische Männer haben keine Probleme. Sie sind das Problem." Die Vorbilder ihrer fünf "Süpermänner" hat Üner in der Selbsthilfegruppe Aufbruch Neukölln e.V. gefunden. Drei von ihnen stehen an diesem Abend selbst auf der Bühne, zwei berichten stellvertretend von den Freuden und Sorgen türkischstämmiger Väter, Söhne, Ehemänner. So wie sie sich in Alter und Sozialisation unterscheiden, so auch in der Art, sich mitzuteilen, was einen Sprachmix ergibt aus Deutsch, Englisch, Französisch, Türkisch und Kurdisch.

suepermaenner2 560 UteLangkafel xFlügel statt Flattercape: singende Süpermänner © Ute Langkafel

Manche der geschilderten Episoden sind schon als Vorstellung kaum zu ertragen. Etwa die Geschichte von Cengiz Kormaz' achtjährigem Bruder, der versucht, sich mit einem Gürtel zu erhängen und seinem Vater, der ihn dafür erst halbtot prügelt und dann mit Nescafé tröstet. Andere Geschichten sind angenehm schwelgerisch, wie Celal Serts Bohemien-Existenz als Möbelhändler in Budapest, vom Klavier mit Brahms untermalt oder Ilker Abays Freude über seine Tochter, deren Weltbild nicht nach Nationen, sondern nach Farben geordnet ist.

Zerredungsirrsinn und Egopflege

Meist jedoch stellt sich beim Zuhören ein Gefühl des Stereotyps zweiter Ordnung ein, soll heißen: wird auf bemühte Art eine Klischeevermeidung versucht, die jedoch umso deutlicher auf das Klischee verweist. Entweder in Form des vorbildlich integrierten Deutschtürken, wie das beim Tugendkatalog rezitierenden Tarkan Bruce Lohde der Fall ist, für den "deutsche Tugenden wie Pünktlichkeit, Fleiß, Ausdauer große Bedeutung haben." Oder in Form von Allgemeinplätzen, die gerade hier in der Grünen-Hochburg Kreuzberg kollektiv abgenickt werden können: Der Afghanistankrieg ist sinnlos, Gewalt gegen Frauen schlecht ("ich fand das zum Kotzen, wenn Papa sie geschlagen hatte"), übertriebener Patriotismus (die Kurdenfrage!) kontraproduktiv.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Es gehört Mut dazu, sich so zu entblößen. Insbesondere gilt das für jene drei Darsteller, die ihre eigene Geschichte erzählen (welche das sind, da ist sich die Kritikerin allerdings nicht sicher) – zumal türkische Männer "homophob" (Ilker Abay) erzogen werden und also weit entfernt sind vom Zerredungsirrsinn und der Egopflege manch anderer Geschlechtsgenossen.

Plakatives Hantieren

Das Problem an "Süpermänner" ist, dass einige der Abschnitte allzu deutlich dem Gesprächsprotokoll einer Therapiesitzung folgen, weitestgehend ohne Bezug zum Theater. Und dass mit so plakativen Zeichen hantiert wird wie dissonanten Gesangseinlagen als Metapher für Heterogenität. Umso mehr überzeugen jene Momente, die den reinen Tatsachenbericht aufbrechen. Wenn ein toter Fisch von der Decke fällt und anschließend ausgenommen wird (die Schuppen fliegen gefährlich weit in Richtung erste Reihe), als Symbol für das elterliche Fischgeschäft. Wenn einer nach fünfundvierzig Ehejahren seiner Frau zum ersten Mal Blumen schenkt und plötzlich in einem Kreis aus Rosenblüten steht. Wenn einzeln aufleuchtende Glühbirnen die Namen Verstorbener tragen. Dann verlässt die Inszenierung das große Ganze ("der türkische Mann"), das ein Minenfeld ist, und besinnt sich auf die Präsenz seiner durchweg tollen Darsteller.

Nur mit dem Singen scheinen sie Schwierigkeiten zu haben. Als der Inhalt der Whiskeyflasche sich schon merklich verringert hat, setzt der Pianist ein letztes Mal zum gemeinsamen Musizieren an. Diesmal singen die fünf Männer die ersten beiden Zeilen von Goethes "Erlkönig." Und siehe da, plötzlich klappt es. Auf der Suche nach einer Interpretation landet man bei so seltsamen Gedankenkonstrukten wie "positiver Assimilation." Braucht es die deutsche Hochkultur für Süpermänner-Harmonie? Kurz darauf erklingen traditionelle türkische Klänge aus dem Off, der strenge Chor löst sich auf, alle Männer tanzen nach einer bunten Choreographie. Das ist vielleicht auch wieder eine Art Klischee. Vielleicht aber auch der ehrlichste Moment des Abends.

 

Süpermänner
Regie: Idil Üner, Bühne und Kostüm: Robert Schweer, Musikalische Leitung: François Régis, Dramaturgie: Karoline Hoefer
Mit: Iker Abay, Dursun Güzel, Cengiz Korkmaz, Tarkan Lohde und Celal Sert.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.ballhausnaunynstrasse.de

 

Kritikenrundschau

Der "Heldenakt" dieses Abends sei "das öffentliche Ausleuchten von eigenen Lebenserfahrungen und Sorgen", schreibt Christian Rakow in der Berliner Zeitung (11.4.2014). "Man tritt gegen das Klischee an, dass türkische Männer samt und sonders 'teetrinkende Patriarchen' sind, ihre Familie drangsalieren und nach außen den Macho mimen." Tatsächlich spielten Gewalterfahrungen in mehreren Erzählungen eine Rolle. Idil Üner ziehe sich "ganz hinter die Berichte zurück", stärkere "Gewichtungen und Pointierung hätten gut getan". Einzig Ilker Abay spiele "offen mit dem Diskurs und durchwitzelt zart die Stereotypen". "Richtig Leben" komme erst beim Applaus in die Bude, wenn zu türkischer Musik getanzt und geklatscht werde – mehr Lockerheit "hätte dem allzu edelmaßgeschneiderten Dokumentartheaterstückchen Pepp gegeben."

Der Titel "Süpermänner" führe "erfolgreich in die falsche Richtung", sagt Peter Hans Göpfert Kulturradio des rbb (10.4.2014). "Es ist ein ganz und gar unspektakulärer Abend", Regisseurin İdil Ünerlasse ihre Spieler "behutsam ruhig zu Wort kommen". Man erlebe "nicht den Klischee-Türken, sondern verschiedene, auch auf verschiedene Weise irritierte oder gebrochene und verletzliche Persönlichkeiten". Einziges Manko für den Kritiker sind die "angeklebten" Mikrofone, diese "Theater-Modemasche". Davon ab: "Ein sehr menschlicher Abend, mehr Leben als Theater."

"Viele Motive und Motivationsstränge in dem anrührenden knapp zweistündigen Dokumentartheaterabend verknüpfen sich wie von selbst. Andere bleiben singulär, zeichnen das sie vortragende Individuum als besonders aus", sagt Ute Büsing im Inforadio des rbb (10.4.2014). Die Spieler wollten "nicht als Teil einer amorphen Migranten-Masse aus der Parallelgesellschaft wahrgenommen werden". Sie erzählten ihre Geschichten "eindringlich ohne schrille Töne" und erschienen als "Menschen von nebenan, die wir an diesem intensiven Theaterabend kennenlernen dürfen."

"Die theatrale Umsetzung ist schlicht, es geht eher darum, Leben auf die Bühne zu holen. Das biografische Material, das hier kondensiert wurde, ist unterschiedlich aufschlussreich", schreibt Sandra Luzina im Tagesspiegel (12.4.2014). "Am stärksten ist der Abend, wenn die Männer von den Vätern erzählen. Fast alle haben Gewaltausbrüche der Babas erlebt und berichten ohne Beschönigung. Zeige Deine Gefühle nicht – das wurde ihnen eingeimpft. Hier zeigen sie sich als widersprüchliche, verletzliche, empfindsame Wesen. Süper, Mann!"

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