Was hast du aufgegeben, Mutter?

von Matthias Weigel

Berlin, 10. April 2014. Nur die allein daheim wartenden Mütter seien nicht gerade begeistert, hieß es vor vier Jahren, dass die Väter nun mit den Töchtern um die Welt reisten. 2010 hatte das Performance-Kollektiv She She Pop mit Testament seinen bis dato größten Erfolg gefeiert: Ein an Shakespeares "King Lear" angelehnter Abend, an dem die Performer ihren alternden Vätern gegenüber traten. Einladungen zum Berliner Theatertreffen und zu Festivals in der ganzen Welt folgten. Nun also der späte Ausgleich: "Frühlingsopfer", nach Igor Strawinsky, zusammen mit den Müttern, wiederum am Berliner HAU herausgebracht. Auch wenn es kein wirkliches Gegenstück ist.

Mit Strawinskys "Le Sacre du Printemps" zur Kindererziehung

Denn zunächst ist Strawinskys Werk von 1913 natürlich weniger ein inhaltliches Drama als vielmehr ein musikalisch komplexes Ballett, das ein heidnisches Opferritual vertont. Während anhand von "King Lear" mehrschichtige Generationenfragen gestellt wurden, läuft das "Frühlingsopfer" auf eine einzige Frage hinaus: Welche Opfer haben die Mütter im Laufe ihres Lebens gebracht? Dazu kommt, dass die Mütter vor allem in Form von vorproduzierten Videobildern anwesend sind – die Väter müssten bei einer Mütter-Tournee also nicht gezwungenermaßen allein zuhause zurückbleiben.

fruehlingsopfer 0644 560 dorothea tuch uTagesdecken-Schleiertänzerinnen: Johanna Freiburg, Ilia Papatheodorou und Sebastian Bark von She She Pop mit ihren Müttern im Video © Dorothea Tuch

Was rückblickend "Testament" so herzzerreißend machte, war nicht nur die bildhafte Auseinandersetzung mit dem Altwerden der eigenen Eltern, sondern auch, wie sich Väter und Kinder durch die gemeinsame Theaterproduktion offensichtlich neu kennengelernt hatten. Und hier zeigt "Frühlingsopfer" als Folgeabend seinen hochinteressanten Unterschied: "Eine der Mütter kann man dauernd kritisieren, weil sie Kritik sowieso als Lob auffasst." – "Einer von uns zeigt seiner Mutter gegenüber neutrale Indifferenz." – "Eine der Mütter beschwert sich, dass ihr ihre Tochter dauernd aus dem Weg geht." Diese Sätze, die die vier Performer Berit Stumpf, Johanna Freiburg, Sebastian Bark und Ilia Papatheodorou an die riesige Vier-Kanal-Videoprojektion der Mütter richten (Video: Benjamin Krieg), klingen nicht nur weniger liebe- und respektvoll, sie sind vor allem viel direkter und distanzloser als der Umgang mit den Vätern. Wer so miteinander spricht, kennt sich – immer noch – sehr gut.

Für Bewegung und die klare Geste

Nach dieser Einleitung setzt mit Strawinskys Musik die Bewegung ein. Tagesdeckenchoreographien, könnte man sagen: Tagesdecken-Schleiertanz, Tagesdecken-Verkleidungen, Tagesdecken-Posen. She She Pop haben sich laut eigener Inszenierungserklärung "für die Bewegung, für die klare Geste" entschieden, und so sind die beiden Teile der vollständig eingespielten Komposition mit teils ironisch-amateurhaften, teils virtuos-multimedialen Choreographien versehen. Am berührendsten sicher der Moment, in dem die Kinder den auf Video gebannten, frei improvisierten Tanz ihrer Mütter auf der Bühne nachzuahmen versuchen.

Die opferthematischen Gesprächsteile hingegen erfassen das Erwartbare. Eine Mutter hat den Beruf geopfert, die andere ihre Kreativität; eine weitere hat die Mutterschaft nur dank des zweiten Kindes ausgehalten, womit sie dann endlich wieder vollbeschäftigt war. Man muss klar sagen, dass "Frühlingsopfer" lange kein so herausragender Abend wie "Testament" ist. Aber eine Wiederholung unter vertauschten Vorzeichen wäre wohl so oder so nicht möglich gewesen, deshalb auch gut, dass She She Pop es gar nicht erst versuchen.

fruehlingsopfer 8070 560 dorothea tuch uDie Aufopfernden: Johanna Freiburg, Ilia Papatheodorou und Berit Stumpf von She She Pop performen vor der Videowand © Dorothea Tuch

Was der Umgang der Performer mit ihren Müttern bestens zeigt, ist, wie das klassische Rollenmuster der Eltern auf die Beziehungen abfärbte: Während die Väter wie Rückkehrer nach längerer Arbeitsabsenz extrem liebevoll umhegt werden, erwecken die Mütter auch immer noch Auflehnung, ja teilweise Aggression in den Performern. Doch ansonsten bleiben die angedeuteten Konstellationen eher privat und erreichen auch nicht die verblüffende, sogartige Allgemeingültigkeit von "Testament".

"Frühlingsopfer" zieht als logische Fortsetzung des She-She-Pop-Familienalbums seine Kraft somit vor allem aus dem Zusammenhang, in dem die Produktion entstand: Diese Mütter als damals für die Erziehung Hauptverantwortliche haben ihr größtes Opfer vielleicht darin gebracht, dass ihre Kinderbeziehung immer viel pragmatischer ist und sein wird, als das großvaterhafte Miteinander der Kinder mit den Vätern. So können wir nur hoffen, dass eines Tages She She Pops Kinder mit ihren Eltern auf der Bühne stehen. Dann werden wir sehen, was sich inzwischen verändert hat.


Frühlingsopfer (UA)
von und mit She She Pop und ihren Müttern
Konzept: She She Pop, Video: Benjamin Krieg, Bühne: Sandra Fox, Kostüm: Lea Søvsø.
Von und mit: Cornelia und Sebastian Bark, Heike und Johanna Freiburg, Fanni Halmburger, Lisa Lucassen, Mieke Matzke, Irene und Ilia Papatheodorou, Heidi und Berit Stumpf, Nina Tecklenburg.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.hebbel-am-ufer.de

 

Kritikenrundschau

Für Sandra Luzina, Tanzkritikerin beim Berliner Tagesspiegel (12.4.2014), hat der Abend "etwas von Gruppentherapie": "wie sooft bei She She Pop". Dass die Weiblichkeitsbilder hier "vorrangig unter dem Aspekt der Opferrolle untersucht werden", erinnert sie fatal an die Anfänge des Feminismus. Immerhin zwei der Mütter folgten der Lesart und erklären, "dass sie ihren Beruf und ihre Kreativität zum Opfer gebracht haben". Und die drei Töchter stellten gleich klar, "dass sie zu der Generation von Frauen gehören , die nicht mehr bereit ist, Opfer zu bringen. Sehr weit führt dieser eingeschlagene Pfad nicht."

Für Elisabeth Nehring vom Deutschlandfunk (11.4.2014) ist "Frühlinsopfer" ein lakonisches Ritual, "das mit dem Element des Weihevollen gekonnt spielt und außerdem ein humorvoller, berührender und kluger Abend, der eine alte Theaterregel bestätigt: Dass die persönlichsten und verletzlichsten menschlichen Verhältnisse – wozu die Beziehung zur Mutter ganz sicher auch gehört – am besten in hochstilisierter Form verhandelt werden."

Von einem "großen Abend" spricht Christine Wahl auf Spiegel-online (11.4.2014). Nach Testament vor vier Jahren schaffe She She Pop tatsächlich ein kleines "Neuauflagenwunder" und finde "erneut eine ganz eigene, bestechende Form für ihre Familienaufstellung". Die Mütter seien nicht live, sondern lediglich als überlebensgroße Videoprojektionen anwesend, mit denen die erwachsenen Kinder im Laufe des Abends variantenreich in Kontakt treten würden. "Dieses Setting ist nicht nur ein sprechendes Bild für die selbst in ihrer Abwesenheit übermächtig präsenten Mütter, sondern bietet natürlich auch jede Menge symbolträchtiges Spielmaterial: Dank technischer Finessen können die Live-Performerinnen und ihre Video-Mütter einander überblenden, ineinander verschwinden, sich wieder auseinander dividieren und erneut distanzloser ineinander geraten, als ihnen möglicherweise lieb ist."

Mit dem "theaterfeindlichen Gefühl", der "Abspulung eines durchchoreografierten Fertigprodukts beizuwohnen" hatte Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (12.4.2014) zu kämpfen. Denn die "vermutlich aus reisepraktischen Erwägungen geborene, dann symbolisch aufgeladene Grundidee der Inszenierung" treibt einen Keil zwischen ihn und den Abend: Weil es bei der Vorgänger-Produktion "Testament" seiner Einschätzung zufolge "sicher nicht immer zumutbar war, die vielen 'Testament'-Tourneetermine mit den Vätern im Gepäck zu bestreiten, kommen die Mütter nämlich gar nicht selbst vor, sondern erscheinen lediglich als vorproduzierte Videozuspielungen auf einer viergeteilten Leinwand."

Die Auseinandersetzung mit den Müttern ist aus Sicht von Katrin Bettina Müller von der taz (12.4.2014) weniger privat geworden als das Väter-Stück "Testament" und wirkt auf sie auch "in der Reflexion der Beziehungen ausgereifter". Zunächst aber sei die Performance "ein gelungenes Spiel mit Bildern und Spiegelungen, mit Identifikationen und Zurückweisungen, mit Besetzungen, Projektionen und Distanzierungen".

"Der misslungene Versuch, mithilfe von Strawinsky dem Familienaufstellungstheater einen großen Resonanzraum zu verschaffen, verweist auf die Grenzen dieses familiären Generationenprojekts", so Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (14.4.2014). Dennoch überzeuge der Abend: "Die Theaterprobe wird gezielt zur Fortsetzung der lebenslänglichen Mutter-Kind-Auseinandersetzungen mit anderen Mitteln. Das lebt davon, dass die drei Töchter und der eine Sohn mit ihren Müttern so neugierig wie vorsichtig umgehen – und sie viel zu ernst nehmen, um Differenzen zu kaschieren."

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