Nah bei Gott?

von Katrin Ullmann

Hamburg, 13. April 2014. Vielleicht sollte man sich diesen Abend betrunken ansehen. Oder verkatert. Zumindest mit etwas Alkohol im Blut. Das könnte helfen. Dann würden all diese pathetischen Allgemeinplätze und Sinnfälligkeiten, die ganzheitlichen Aussagen und Absagen, die überschwänglichen Gefühle nicht so schwer im Raum hängen. Sondern, gemeinsam mit dem Alkohol, nach und nach verdunsten.

Der Autor hätte vermutlich nichts dagegen. Er heißt Iwan Wyrypajew und ist derzeit, so kann man beim henschel-Verlag nachlesen, einer der wichtigsten russischen Gegenwartsdramatiker. Er hat in Moskau Regie studiert, Hörspiele, Prosatexte und Theaterstücke geschrieben und Preise gewonnen. Sein jüngster Theatertext trägt den Titel "Betrunkene" – es ist ein Auftragswerk für das Düsseldorfer Schauspielhaus. Ebendort hat es Wyrypajews Weggefährte Viktor Ryschakow im Februar dieses Jahres uraufgeführt. Und alle waren begeistert. Sieht man sich die Inszenierung von Alexander Simon am Hamburger Thalia in der Gaußstraße an, fragt man sich, warum.

Einem Fellini-Film entsprungen

Doch diese Enttäuschung begründet sich weniger in der Regie oder in der Schauspielkunst, sondern vielmehr im Text. Alexander Simon macht gar nicht erst den Versuch, diesen Text über die Irrungen und Wirrungen, die Begegnungen unter Betrunkenen psychologisch zu unterfüttern. Oder die Figuren in ihrer eigentlichen Bürgerlichkeit zu zeigen. Simon startet grotesk, laut und theatral. Von Beginn an ist das ganze Ensemble auf der Bühne versammelt, stolpert, tanzt und windet sich. Da wird Trompete gespielt und Glasflaschenorgel und am Rand sitzt ein Musiker (Johannes Wennrich), der alle Aktionen mal rockig, mal illustrativ mit seiner E-Gitarre begleitet.

betrunkene1 560 krafftangerer hVerbogene Betrunkene: André Szymanski und Cathérine Seifert © Krafft AngererDer Anfang ist der Auftakt zu einem Rausch, den Simon zunächst ganz surreal in Szene setzt. Seine Figuren sind fast immer in Bewegung, sind schräg und hysterisch, grotesk, überdreht und launenhaft. Da werden Körper verrenkt (ganz weit vorne: Cathérine Seifert), Münder aufgerissen, Seifenblasen fabriziert und eimerweise Tränen vergossen. Da wird gebrüllt, geblutet, gestolpert und kein einziges Mal besoffen gelallt. Simons Figuren könnten einem Fellini-Film entsprungen sein: Sie sind der Realität herrlich fern, auch wenn manchmal der ein oder andere mit dem trockenen Satz "Ich muss kotzen" ein paar Schritte zur Seite geht.

"… eine Ratte ist Liebe …"

Diese Distanz ist gut für den Text, der eine Handvoll Geschichten erzählt, von Menschen, die sich im Alkohol begegnen, sich im Alkohol die Wahrheit sagen und im nüchternen Zustand auch miteinander verknüpft sind. Die lose gebauten Begegnungen (meist natürlich Mann-Frau) ergeben am Ende genug Schnittmengen, dass die im Alkohol gesagte Wahrheit die ein oder andere Paar- oder Lebenskrise auslösen könnte. Doch das, das Psychologische ist Alexander Simon herzlich egal. Er setzt auf die Drastik des Augenblicks, auf Slapstick und Dynamik.

In der ersten Hälfte des Abends bleibt er auch konsequent, und das hektisch-pointierte Schauspiel überblendet manch flache Textstelle. Schließlich ist der Zuschauer mehr mit Zugucken beschäftigt als mit Zuhören. Doch dann fangen die Sinnsätze an: "Alle Menschen, die auf dieser Erde leben, wir alle sind der Leib Gottes." Oder: "Gott ist Liebe, ein Elefant ist Liebe, eine Torte ist Liebe, eine Ratte ist Liebe." Oder: "Jeder von uns soll Gottes Geflüster in seinem Herzen hören". Für diese hält die Inszenierung inne, denn jetzt wird ja der Aussagekern erreicht: Betrunkene sprechen die Wahrheit, Betrunkene sind nah bei Gott.

Zu viel Schuld im Rausch

Es ist schade, dass der Abend bald an Tempo verliert und – dem Text zuliebe – zu viele Schlenker ins Erklärerisch-Poetische, ins Gefühlvoll-Pathetische macht. Diese Schlenker funktionieren gut, wenn Martha (Cathérine Seifert) in Gustav (Rafael Stachowiak) urplötzlich den Mann ihrer Träume erkennt und im liebesfanatischen Wahnsinn Sätze sagt wie "Deine Liebe verbindet sich mit meiner, und in der Welt gibt es mehr und mehr Liebe." Und Rafael Stachowiak zwischen geschmeichelte Eitelkeit und der in sich zusammenbrechenden Ehefrau Lore (grandios: Oda Thormeyer) hin- und hergerissen ist. Dann sieht man einen bühnenreifen Mehrgewinn, eine unterhaltsam-drastische Überhöhung.

Doch je später der Abend, desto häufiger werden Wyrypajews Texte über Lüge, Liebe, Schuld und Sinn mit schwerem Ton und unter dem immer heller werdenden Lichterkreuz aus Scheinwerfern (Ausstattung: Matthias Koch) gesprochen. Simons temporeicher und drastischer Slapstick-Zugriff der ersten Stunde ist da vielleicht nicht besonders autorenfreundlich, aber deutlich unterhaltsamer. Denn wer will zum Ende hin wirklich noch ein ernsthaftes Lebensschuldeingeständnis des schwer krebskranken und nymphomanischen Festivalleiters Mark (André Syzmanski) hören? Zu viel Ehrlichkeit im Suff. Zu viel Schuld im Rausch. Zu viel Traurigkeit durch Alkohol.

Vielleicht sollte man sich diesen Abend ein wenig betrunken ansehen. Denn kein Alkohol ist bekanntlich auch keine Lösung.

 

Betrunkene
von Iwan Wyrypajew
aus dem Russischen von Stefan Schmidtke
Regie: Alexander Simon, Ausstattung: Matthias Koch, Musiker: Johannes Wennrich, Dramaturgie: Sandra Küpper.
Mit: Matthias Leja, Thomas Niehaus, Sven Scheiker, Cathérine Seifert, Rafael Stachowiak, André Szymanski, Oda Thormeyer.
Dauer: 1 Stunde 40, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

Gekonnt fange Simon Unebenheiten der Textvorlage ein, so "asti" im Hamburger Abendblatt (15.4.2014), "die sich vor allem dann einstellen, wenn die Inszenierung von den aufgekratzten Bekenntnissen zu den großen Fragen von Schuld, Lüge und Sinn übergeht." Der inszenatorische Überschwang weiche hier einer Ernsthaftigkeit, die der Text mit seinen gefühlsseligen Bekenntnissen nur bedingt trage. Dennoch: "Dieser heiter-schmerzhafte Abend dürfte sich den Schwierigkeiten der Vorlage zum trotz im Spielplan behaupten."

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