Aua, das tut weh, das Leiden

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 12. Juli 2014. "Literaturwürste" und "Schimmelbilder", "Köttelkarnickel"-Skulpturen aus Hasenmist, Gartenzwerge einbetoniert in verrottende Schokolade: Dieter Roths Fantasie in Sachen Irritation durch Kunst war unerschöpflich. Und natürlich widmete sich der fleißige Aktionskünstler – überdies Musiker, (Selbst-)Verleger, Architekt, Filmemacher, Designer – dem Schreiben. Auch fürs Theater: 2012 sorgte Herbert Fritschs Inszenierung von Roths Murmel Murmel von 1974 an der Berliner Volksbühne für Furore: ein Werk, das auf 176 Seiten ein einziges Wort manisch wiederholt: "Murmel!" Es geht bei Roth natürlich nie um die Sprache als Bedeutungsträger und Sinnstifter, sondern immer um die Sprache selbst – und das im durchaus körperlichen Sinne: Um ihren Klang, ihre grafische Darstellung, ihre Struktur. Der Un-Sinn seiner Texte bringt sie in die Nähe des Dada.

hirnbonbon2 560 conny mirbach uRezitieren und auf der Bühne herumschleichen – im Dieter-Roth-Projekt "Hirnbonbon"
© Conny Mirbach
Der 1998 verstorbene Allround-Künstler hielt sich regelmäßig in Stuttgart auf, mietete hier zeitweise ein Atelier, arbeitete lange mit einem hiesigen Galeristen zusammen. Grund genug fürs Stuttgarter Staatstheater, sich einmal der widerborstigen Texte Roths anzunehmen – etwa seiner "Gesammelten Interviews", seines "Mundunculum" oder "Tränenmeer". Titel der Produktion: "Hirnbonbon", Untertitel: "Ein Dieter-Roth-Projekt".

Leichte Skepsis ist angebracht: Im "Projekt"-Zustand braucht man sich nicht wirklich festzulegen, alles ist irgendwie noch in Arbeit. Entsprechend gestaltet sich dann auch der Abend, der in Kooperation mit der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg in Ludwigsburg entstanden ist, weswegen neben den Staatsschauspielern auch Schauspielstudierende auf der Bühne agieren. Ein stringentes Konzept der Textverarbeitung, eine klare Form, die das Material gebändigt hätte, lässt sich nicht erkennen, außer dass alle sechs beteiligten DarstellerInnen einen größeren Solo-Auftritt haben. Alles wirkt wie eine große Improvisationsübung.

"Sein Tip war: Dynamitexplosion!"

Statt exemplarisch Kontrastierendes zu zeigen, reiht sich ähnlich gebautes Langatmiges aneinander: monologisch ans Publikum gerichtet, mit wenig Aktion drumherum. Einer spricht, rezitiert, die anderen liegen, stehen, schleichen auf der Bühne herum – während sich die Sprache um sich selbst dreht. Anne Greta Weber etwa parliert von einem Friedemann, der in seiner Arbeitsstelle ein "Werk der Zerstörung entdeckt" hat: "Er nahm an, der Augenschein sage ihm, eine Dynamitexplosion habe sich ereignet. Er tippte auf eine Dynamitexplosion, als er den Augenschein sah. Er dachte sich, eine Dynamitexplosion habe sich ereignet, als er sah, wie es aussah, dort. Als er die Trümmer sah, erriet er, was hier stattgehabt habe, nämlich eine Dynamitsprengung. Sein Tip war: Dynamitexplosion!" und so weiter und so fort. Mindestens 25 Minuten lang echauffiert sich Anne Greta Weber über die wahrscheinliche Dynamitexplosion, bis sie sich heiser geschrien hat – im immer gleichbleibend redundanten Sog der Sinnlosigkeit. Das Prinzip der Sprachspiele ist schnell erkannt. Hätte nicht ein Ausschnitt aus dieser Dynamitexplosionssuada gereicht?

Andere Monologe werden so gut wie bewegungslos vorgetragen. Etwa jener, in dem Christian Schneeweiß eine Viertelstunde lang eine "Stadtmitte" zerredet, "die fast in einer Nacht entstanden sei, sagte man sich, sagte man einander" und so weiter, während ein Rheinspaziergänger (Johannes May) seinen Wortschwall immerhin als belästigendes Zutexten eines wehrlosen Kollegen gestaltet: "Der Ich trat den Rhein in die Rinde. Das kann man sagen, wenn man Rinde nennt, was harte Haut ist, und wenn man schwatzen will, davon, wies war, da man als der Ich das gepflasterte Ufer des Rheines mit Füßen trat" und so weiter.

Absichtsvoll träge

Derweil dampft der Heuhaufen in der Mitte der Bühne vor sich hin, werkeln die Protagonisten im Holz-Verschlag links: Eine Mischung aus Tonstudio, Werkstatt, Garderobe, Schlafraum – multifunktionell und wohl die kreative Allroundmeisterschaft Dieter Roths widerspiegelnd. Leo van Kann produziert hier am Synthesizer absichtsvoll träge Melodien und schlappe Klänge. Und von oben rechts an der Wand spuckt ein Drucker geräuschvoll Textschlangen aus.

hirnbonbon3 560 conny mirbach uZu den Sprachspielen dampft Heu vor sich hin © Conny Mirbach

Natürlich gibt es viele bemerkenswerte Sätze auf die Ohren: Etwa "Aua, das tut weh, das Leiden" oder "Keins ist leiser als Adolf Hitler". Aber wenn die Leere, die inhaltsfreie Texte hinterlassen, nicht mit Aktion gefüllt wird, dann stellt sich bald Langeweile ein.

Die Innereien des Heuhaufens

Einzige Weckrufe: Franziska Benz' absurde Interventionen: Wenn sie sich etwa (fast) alle Kleider vom Leib reißt, befreit über die Bühne hüpft, sich auf den Heuhaufen stürzt, sich in dessen Innereien hineinwühlt, bevor sie sich peinlich berührt in einer Hundehütte verkriecht, die später auf zwei Beinen ihren Standort wechseln wird. Aber solcherlei lustige Einfälle, mit denen Regisseurin Christiane Pohle den Abend hätte pointieren können, bleiben Einzelaktionen.

Und so verrieseln die zwei Stunden in einer "time passes slowly"-Performance, in der es darum geht, die Zeit totzuschlagen – leider ganz wörtlich genommen: Die Schauspieler schlagen mit Tüchern auf den Boden, spitzen Bleistifte, hüpfen mit dem Hintern in Waschschüsseln durch die Gegend. Gähn!

 

Hirnbonbon
Ein Dieter-Roth-Projekt
Uraufführung
Regie: Christiane Pohle, Ausstattung: Maria-Alice Bahra, Musik: Leo van Kann, Dramaturgie: Bernd Isele, kunstwissenschaftliche und dramaturgische Mitarbeit: Sarah Schmid.
Mit: Franziska Benz, Philip Dechamps, Leo van Kann, Manja Kuhl, Johannes May, Christian Schneeweiß, Anne Greta Weber.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

Eine Koproduktion mit der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg
In Kooperation mit dem Kunstmuseum Stuttgart

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

Als "geistreich und anregend und doch ungeheuer zäh und einlullend" hat Adrienne Braun von der Stuttgarter Zeitung (14.7.2014) diesen Abend erlebt. Die Schauspielerinnen und Schauspieler bewältigen aus ihrer Sicht "Roths gewaltige Textmassen nicht nur bravourös, sondern bringen sie wie beiläufig und mit größtmöglicher Transparenz über die Rampe". Die Inszenierung gebe Einblicke in Dieter Roths leichtgewichtige und zugleich philosophisch tiefsinnige Texte und vermittele, "wie versessen er mit Sprache spielte und ihr doch misstraute." Dennoch hätte die Kritikerin gern mehr vom Werk dieses Mannes erfahren.

Stärke zeigt das in sechs Wochen Probezeit entstandene Stück aus Sicht von Julia Lutzeyer von den Stuttgarter Nachrichten (14.7.2014) immer dann, "wenn es  tatsächlich die Texte des Künstlers ins Zentrum setzt." Grundsätzlich meldet sie jedoch Zweifel an, ob dieser Abend mehr als ein Kommentar zum OEuvre des Künstlers darstellt. Denn ohne Hintergrundwissen dürfte sich das Treiben auf der Bühne ihrer Einschätzung zufolge kaum erschließen. "Doch das ist vermutlich auch nicht gewollt: Schließlich hing Dieter Roth ausdrücklich am Unsinn, am Nicht- Sinn. Insofern verkörpert 'Hirnbonbon' auf theatralischem Weg durchaus seine Haltung."

Zum Beispiel "Der Monolog des deregulierten Fritz" sei ziemlich lang und syntaktisch anspruchsvoll, schreibt Jürgen Berger in der Schwäbischen Zeitung (14.7.2014). Die Ludwigsburger Schauspielschülerin Anne Greta Weber meistere ihn, "als kreise eine suizidgefährdete Borderlinerin in einer hermetischen Welt". Sie schwebe "derart hingegeben im Sprechfluss, dass man auch nach mehr als einer Viertelstunde gebannt hinhört". Der Abend insgesamt kommt schlechter weg als Weber – er widme sich Dieter Roth mehr dienend, als dass es einen eigenen Standpunkt hätte, so Berger. Die "Hingabe der Regisseurin Christiane Pohle an die innere Unlogik eines Werks, das sich kaum fassen lässt", mache sich vor allem gegen Ende des Kunstprojekts ungemütlich bemerkbar. "Eine Schauspielerin tritt nach vorne und macht darauf aufmerksam, eigentlich sei ja schon alles vorbei, irgendwie mache man aber weiter." Sekunden würden zu Stunden. Der Abend dokumentiere "ein Problem, das schon Schiller kannte": "Rechtzeitig 'Tschüss' sagen kann nicht jeder."

Auf Spiegel Online (14.7.2014) schreibt Jürgen Berger, die Regisseurin nähere sich "dem hybriden Werk des Wahlschwaben aus der gleichen Richtung" an wie Klamauk-Regisseur Herbert Fritsch, "biegt aber immer wieder in Richtung Stillstand ab". "Zu oft agieren die Stuttgarter Schauspielerinnen und Schauspieler aber nur wie sprechende Installationen, und am Ende meint eine von ihnen auch noch lächelnd, eigentlich sei ja alles längst vorbei, man mache aber trotzdem weiter. Sekunden werden zu Stunden, irgendwann hat sich das Ganze dann aber doch ausgemurmelt."

Die Inszenierung offenbart dem Zuschauer aus Sicht von Judith Engel in der taz (16.7.2014) "einen Zugang zum Kosmos Dieter Roth, der ihm nicht angemessener hätte sein können. "Auf der Bühne verwandelten sich Roths schwer lesbare Texte "auf erstaunliche Weise: Gesprochen entfalten sie eine Dynamik, die das Suchen im System Sprache viel deutlicher macht." Das Publikum lache, wo man auch weinen könne. "Denn Sprache ist das System, das die Welt des Menschen definiert. Darin zu scheitern, bedeutet nichts anderes, als an der Welt zu verzweifeln."

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