Walzer gebiert Ungeheuer

von Verena Großkreutz

Bregenz, 23. Juli 2014. Um Ödön von Horváths Theaterstücke angemessen in Szene zu setzen, muss man sehr musikalisch sein. Es kommt auf den Ton an, sonst können Horváths Sprachpartituren nicht wirken mit ihren doppelbödigen Dialogen, aus denen beständig Gewalt und Aggression hervorzuschießen drohen. Ganz besonders musikalisch muss man für die "Geschichten aus dem Wiener Wald" sein. Schließlich heißt es schon in der ersten Regieanweisung: "In der Luft ist ein Klingen und Singen – als verklänge irgendwo immer wieder der Walzer 'Geschichten aus dem Wiener Wald' von Johann Strauß."

Horvath'sche Stille

Ist es im Falle eines ohnehin schon "klingenden" und "singenden" Stücks sinnvoll, es zu vertonen? Könnte das Zutun eines Komponisten nicht eher kontraproduktiv wirken und die krass-gemeinen Doppelbödigkeiten und die Horvath'sche "Stille" durch Doppelgemoppel zukleistern und dadurch entschärfen? Immerhin – der Stoff passt durchaus zum Opernsujet: Diese Geschichte um die gute Marianne, Tochter eines Wiener Spielwarenhändlers, die mit dem fiesen Metzger Oskar verheiratet werden soll, aber dann mit dem Nichtsnutz Alfred durchbrennt, von ihm ein uneheliches Kind gebärt, verlassen wird, dann in die Erotik-Branche abgleitet, gar hinter Gittern landet, um dann am bitterbösen Ende doch von Oskar geehelicht zu werden, nachdem ihr Kind umgebracht wurde.

Geschichten1 560 KarlForster uHorvath'sche Vorstadtfiguren in der Opernversion: "Geschichten aus dem Wiener Wald"
© Bregenzer Festspiele / Karl Forster

HK Gruber, 71-jähriger Star der österreichischen Neue-Musik-Szene, hat sich jetzt getraut, die "Geschichten" zu einer Oper mutieren zu lassen. Im Auftrag der Bregenzer Festspiele, die damit in diesem Jahr im Festspielhaus eröffneten. Um es vorwegzunehmen: Das Ergebnis macht zwar das Stück nicht noch besser, als es eh schon ist, aber es vertont angemessen und musikalisch durchaus spektakulär. Wer, wenn nicht der Wiener HK Gruber, kennt sich mit doppelbödigen Tonfällen aus? Gruber ist ein Komponist, der fernab avantgardistischer Doktrinen zu einer eigenen Musiksprache gefunden hat, die alles amalgamiert: ob Wiener Volkslied, schräges Neutönerisches, romantische Töne, Weill‘scher Song, Bruitistisches à la Strawinsky, Sprechgesang à la Berg, Minimalismus. All das scheint auf.

Partitur mit Tiefenschichten

Huber kann seinen Tonfall ändern wie ein Chamäleon. Dadurch kann er dem "Jargon der Uneigentlichkeit" auf den Zahn fühlen: dieser Sprache des Klischees, die das Horváthsche Bühnenpersonal spricht, sich dabei oft syntaktisch verrenkt und – als ungenaue Imitation des Bildungsbürgertums – sich Zitaten, Fremdwörtern, Pseudoweisheiten und Schlagwörtern bedient. Im quecksilbrigen Orchesterflow – HK Gruber steht selbst am Pult der Wiener Symphoniker – wird mal geplappert, mal ziellos mäandert, mal brutal zerhackt und krawummt – immer als Kontrapunkt zum gesungenen Wort oder Sprachsingsang, das sich von den Zungen, die es formulieren, längst entfremdet hat. Ob Gottesmühlen nun langsam, aber furchtbar klein mahlen, wie Metzger Oskar droht, Menschen ohne Ziel keine Menschen seien, wie Marianne mutmaßt, oder die Fleischhauerei ja noch immer etwas ganz Solides, sprich Lukratives, darstellt, wie es der Zauberkönig unterstreicht.

In den Tiefenschichten der vielstimmigen Partitur lauert stets auch der Walzer. Mal lugt er keck hervor, mal bricht er sich breitfüßig Bahn, mal scheint er stotternd, mal drohend ganz kurz auf oder wirft nur einen Schatten. Diese Gemütlichkeit gebiert Ungeheuer. Diese herausgestellte Gutmütigkeit bedeutet Gewalt.

Nah an den Figuren

Für eine Neue-Musik-Produktion ist der am Ende kräftig umjubelte Abend stimmlich geradezu luxuriös besetzt. Etwa die mannstolle Trafikantin Valerie: Sie wird von Mezzosopranistin Angelika Kirchschlager höhensicher und lyrisch unterfüttert gesungen. Jörg Schneider verleiht den Oskar Heldentenortimbre. Dass der bösartige, in seiner latenten Gewalttätigkeit sprachlich scharf gezeichnete Metzger von Gruber mit dem Tenorfach bedacht wurde, ist ein zentraler Gedanke seiner Vertonung: Oskars Verlogenheit und Herzenshärte entlarvt sich aus der Diskrepanz seiner Tätlichkeiten und seiner Sprache zum Schöngesang. Grandios ist die nunmehr 74-jährige Anja Silja als Alfreds Großmutter und Kindsmörderin: keine tattrige, schwachsinnige Alte, sondern das personifizierte Böse: grell und laut in der Höhe, vibrierend, anmaßend. Musikalisch wie darstellerisch trägt Sopranistin Irene Eerens als Marianne einen großen Teil des Abends. Überzeugend in der Rebellion wie im Scheitern, im Lieben wie im Verzweifeln, stark und zerbrechlich, auch was die extremen Höhen und Lautstärken ihrer Partie angeht.

Geschichten3 560 KarlForster uLiebesduett: Alfred (Daniel Schmutzhard) und Marianne (Ilse Eerens)
© Bregenzer Festspiele / Karl Forster

Das ist ohnehin die Stärke der Vertonung: nie gerät etwas lächerlich. Auch nicht im Falle Mariannes. Nirgends ist die Musik so nah an der Figur, so identisch und damit wahrhaftig, wie in dieser Soloszene: Wenn Marianne verzweifelt singt: "Gott, was hast du mit mir vor?" Etwas, was oft naiv-kindlich wirkt, erhält durch Grubers Musik bewegende Größe. Aufgehoben im ewigkeitstönenden Orchesterkosmos erhöht sich Mariannes einsames, aussichtloses Empfinden zu einer allgemeinmenschlichen Frage.

Hochhäuser am Donauufer

Libretto und Regie liegen in dieser Produktion in einer Hand. Michael Sturminger hat die Vorlage sehr behutsam gekürzt, den Wortlaut originalgetreu übernommen, allerdings die Szenen zum Teil umgestellt, was dramaturgisch nicht unbedingt einleuchtet. Als Regisseur hat er das Stück zudem in die heutige Zeit verlegt. Puppenklinik, Metzgerei, Kiosk etwa liegen nun einer Einkaufszeile eines Hochhausviertels. Das Ufer der Donau schmückt eine Hochhausskyline. Im Maxim bedienen Bunny-Girls.

Aber Horváths Stück ist fest in seiner Entstehungszeit verortet. Seine Figuren sollten sich so artikulieren wie jemand, der sonst nur Dialekt spricht und sich nun zwinge, hochdeutsch zu reden, schrieb Horváth einmal. Dieses "Volk" hat mit dem Dialekt auch seine Sprache verloren. "Geschichten aus dem Wiener Wald" wurde 1931, während der Weltwirtschaftskrise und kurz vor Beginn der NS-Barbarei, uraufgeführt. Horváth hat darin sehr genau die Mentalität des Vorfaschismus herausgearbeitet: Er zeigt Menschen, die durch die Not demoralisiert wurden, für die Gefühle und Menschlichkeit Luxusgüter sind. Ein Aspekt, der mit dieser Aktualisierung reichlich entschärft wird.

In Oskars Armen

Dafür gibt es viele starke Szenen. Etwa jene, in der Erich, der Nazi-Neffe, beim Nennen seiner Profession "Jus, 3. Semester, Arbeitsrecht" mit dem Gewehr ins Publikum ballert. Oder die Nacht im Maxim mit Band auf der Bühne und tierischen Tänzchen an der Stange. Vor allem aber die Schlussszene, für die Gruber ein musikalisch waschechtes "Liebesduett" komponierte, das den Text aber konterkariert, weil sich darin Mariannes "Ich kann nicht mehr" und Oskars "Du entgehst meiner Liebe nicht" ineinander verschränken. Am Ende trägt Oskar die ohnmächtige Marianne auf den Armen von der leeren, vernebelten Bühne. Gewalttätige, unheilverkündende Musik donnert auf. Godzilla lässt grüßen.

Geschichten aus dem Wiener Wald
Oper in drei Akten von HK Gruber Libretto von Michael Sturminger nach dem gleichnamigen Stück von Ödön von Horváth
Uraufführung
Musikalische Leitung: HK Gruber, Inszenierung: Michael Sturminger, Bühne & Kostüme: Renate Martin & Andreas Donhauser, Licht: Olaf Winter, Musikalische Einstudierung Vokalensemble NOVA: Colin Mason.
Mit: Ilse Eerens, Daniel Schmutzhard, Jörg Schneider, Angelika Kirchschlager, Albert Pesendorfer, Anke Vondung, Anja Silja, Michael Laurenz, Markus Butter, David Pittman-Jennings, Alexander Kaimbacher, Robert Maszl, Ensemble Nova, Kleindarsteller der Bregenzer Festspiele, Wiener Symphoniker, Bühnenmusik in Kooperation mit dem Jazzorchester Vorarlberg.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.bregenzerfestspiele.com

 

Mehr Geschichten aus dem Wiener Wald: Michael Thalheimer inszenierte Horváths Stück im März 2013 am Deutschen Theater Berlin.

Kritikenrundschau

Bei der Besetzung, "was soll da schiefgehen, wenn zudem die Partitur griffig, kurzweilig, durchsichtig geschrieben ist und vom Komponisten am Pult der Wiener Symphoniker auch noch genau so dirigiert wird?", fragt Volker Hagedorn in der Zeit (31.7.2014). Und antwortet: "Gar nichts geht schief. Leider. Es funktioniert so fabelhaft, dass nichts quer und schief und bitter eindringen kann in die schöne, bunte Sommerlaune am Bodensee." Gruber komponiere dem Dramatiker Horváth hinterher wie einer, "der gern dessen Zeitgenosse gewesen wäre, anstatt mit seinen Tönen Löcher in unsere Gegenwart zu schlagen, durch die der Text hereinbrechen könnte in aller fauligen Süße und Brutalität."

Im letzten Jahr seiner Intendanz kehre Leiter David Pountney mit dieser Uraufführung zu seinen Bregenzer Anfängen zurück, "denn er wollte nie die Hardcore-Avantgarde, er wollte Neues und Ungehörtes" und "milde hört er nun auf mit HK Gruber", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (25.7.2014). Da in Horváths Stück bereits viel Musik drinstehe, "gibt es in der Oper nun auch Volks- und Wiener Lied und Walzer, alles natürlich gruberisiert". Jedes Wort des Librettos sei von Horváth, Sturminger raffe lediglich, "lässt großflächig abgefilmte Landschaften projizieren und verteilt ein paar wenige Ausstattungsstücke im weitgehend leeren Raum." Nur im Nachtclub, in dem der Niedergang der Marianne als halb nackte Männerphantasie offenbar werde, trumpfe die Inszenierung mit Dekor auf. Für die Partie der Marianne habe Gruber Ariosi und eine Musik der tiefsten Verzweiflung geschrieben. "Da trifft einen das Stück ins Herz. Aber nur da. Alles andere ist hervorragendes Handwerk." Fazit: "Horváth für Einsteiger."

Gruber habe für die melancholisch-perfide, von Michael Sturminger geschickt zum Libretto eingerichtete Bilderfolge "meist die passend doppelbödigen Töne gefunden, welche Gemütlichkeit als Verlogenheit entlarven", so Manuel Brug in der Welt (25.7.2014). "Sturmingers Regie hält sich angenehm zurück, stellt ganz die Charaktere in ihrem ungeschminkten, trotzdem immer nach Illusion suchenden Realismus aus." Es sind Bombenrollen, auf die sich auch die Stadttheater-Ensembles bei dieser neuen, auch zeitgenössischen Oper mit dem populären Titel stürzen mögen. Grubers sei eine zerborsten melodieselige, raffiniert rhythmisierte, wimmernde, bibbernde, klappernde, klirrende Partitur gelungen. "Hier schwankt der Boden der Tatsachen, nichts ist echt, aber im Falschen steckt viel Wahrheit. Der man gern zuhört."

David Pountney wollte sein zehntes und letztes Jahr als Festspiel-Intendant in Bregenz mit diesem Coup krönen. "Bereits am Morgen nach der Uraufführung darf man gratulieren: Das ist gelungen", lobt Eleonore Büning in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (25.7.2014). Hoffnungsvoll aufstrebend freitonale, auch zuweilen colla parte ausgemalte Melodien hat Gruber für sein Mädel reserviert. "Jeder Einzelne in dieser großartigen Star-Besetzung kann seinem Affen ordentlich Zucker geben". Schließlich: Die Hauptrolle spiele das Orchester in dieser Wiener-Wald-Geschichte, die rhythmisch ineinandergeschobenen, auf verschiedenste Weise gequetschten, gedehnten, verfremdeten Walzer.

"Michael Sturminger inszeniert das Geschehen in stimmungsvollen Bildern, deren Graulastigkeit die bleiernen Umstände der Entstehungszeit ahnen lässt", schreibt Stefan Ender im Standard (25.7.2014). "Großbildprojektionen im Szenenhintergrund siedeln das Geschehen in der Gegenwart an, die Kostüme erzählen jedoch Geschichten aus einer diffusen Vergangenheit." Im Orchestergraben leite der Komponist sein eigenes Werk. Die Wiener Symphoniker meistern die anspruchsvolle Partitur respektabel bis beeindruckend. Fazit: "In den Applaus mischt sich Schmerz über die Unverzeihlichkeit, dass Pountneys Nachfolgerin Elisabeth Sobotka ab 2015 die Bregenzer Tradition von Opernraritäten und -uraufführungen im Festspielhaus nicht fortführen wird."

HK Gruber beweise seine geschickte Theaterpranke, "die jedoch noch mehr Krallen hätte zeigen dürfen", so Stefan Musil in der Presse (25.7.2014). Die Abgründigkeit, die Ironie, die Brutalität, die aus Horváths Text spricht, schimmere nur durch. "Manche der hart gedrechselten Sätze des Stücks verweichlichen gar, wenn sie Gruber, um auch ariose Passagen einflechten zu können, mehrmals wiederholen lässt." Die Sänger bewältigen jedoch allesamt bewundernswert ihre neuen Rollen.

"Grubers Librettist Michael Sturminger, der auch die werkdienliche, doch etwas brave Regie verantwortet, behilft sich mit radikalen Kürzungen, indem er ganze Szenen streicht oder verdichtet", schreibt Jürg Huber in der Neuen Zürcher Zeitung (25.7.2014). Dennoch erweise sich die Textfülle als Grundproblem, "führt sie doch zu einem bisweilen etwas langatmigen Parlando-Stil, dem es zwar nicht an rhythmischem und harmonischem Raffinement mangelt." Das Wienerische kommt auf der Bühne mit Ansichten der Donaulandschaft und der städtischen Skyline zum Ausdruck. "Bigott zeigt es sich in der Beichtszene und dem darauffolgenden Gang ins 'Maxim', wo sich die Regie stärkere optische Akzente erlaubt."  

 

 

 

 

 

 

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