Sex, Drogen und Konsum

von Tobias Prüwer

Dresden, 12. September 2014. Was für eine Welt, die schöne neue. Zwischen Kollektivnorm und Konsumrausch lässt sie den Individuen nur die Möglichkeit, sich zu fügen. Roger Vontobel inszeniert die Theaterfassung von Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" als Uraufführung, mit der das Staatsschauspiel Dresden technisch spektakulär, aber nicht in Gänze überzeugend in die neue Spielzeit startet.

Die Handlung orientiert sich eng an Huxleys dystopischem Roman von 1932, auch wenn einige Szenen in einer anderen Reihenfolge angeordnet sind und leichte Umschreibungen zu finden sind. Und weil man im Theater ist, wird ein bisschen Shakespeare mit hineingemischt. Immerhin entstammt der Titel aus dessen "Der Sturm", wo Miranda ausruft: "O schöne neue Welt, die solche Leute hat!"

Hierarchie ist Freiheit

Nach einem Krieg, der die Erdbevölkerung fast vernichtet hätte, formiert sich die Weltgesellschaft des 26. Jahrhunderts zur stabilen Gemeinschaft. Eine Einheitsregierung lenkt die Geschicke. Gefühle und Individualität sind abgestellt und ein striktes Kastensystem vom Führungspersonal bis zu Arbeitssklaven wurde etabliert. Die Menschen sind von klein auf derart konditioniert, dass sie ihren jeweiligen Platz im Gefüge als Freiheit empfinden. Sex, Drogen und Konsum besorgen die dauerhafte Befriedigung. Den Rest übernimmt strikte soziale Kontrolle – der ständige Wechsel der Sexualpartner ist zum Beispiel Pflicht. Nonkonformisten drohen Statusverlust und Umsiedlung.

schoeneneuewelt1 560 davidbaltzer uAlle wollen nur Sex in der "Schönen neuen Welt" © David Baltzer

Wer den Buchinhalt nicht kennt, erfährt das im Laufe der Inszenierung häppchenweise und hat vielleicht dadurch den größeren Gewinn. Denn manches allmählich enthüllte Detail erscheint sonst eher redundant. Einige Kürzungen hätte der Text gut vertragen. So zieht sich schon die erst vielversprechende Einstiegszene. Bernard Marx und Lenina Crown durchstreifen die äußere Zone jenseits der Weltzivilisation und leuchten die Publikumsreihen mit Taschenlampen aus: "Wie können Menschen so leben?" So alt sein, so verschieden, Macken haben? Dann taucht der auf natürlichem Weg – hier "wild" – geborene John auf. Sie nehmen ihn mit zurück und Bernard wird wegen des Freak-Funds allseits bewundert.

John, dessen Wertesystem aus der Lektüre von Shakespeare-Dramen stammt, verliebt sich in Lenina, die aber nur Sex will. John ist angewidert, probt die Revolte, scheitert, flieht und begeht ein Blutbad. Was sich zusammengefasst als rasantes Geschehen liest, wird Szene für Szene ausführlich ausgespielt. Dabei gerät die Charakterszeichnung unter die Räder, bleiben die meisten Figuren schablonenhaft.

Fulminantes Bühnenbild

Dass bei der Darstellung dieser hochtechnologisierten Industriewelt der Einsatz technischer Mittel die reizvollsten Momente schafft, mag nicht überraschen. Das Bühnenbild, mit dem das Staatsschauspiel ohnehin oft punktet, besticht auch hier. Die meiste Zeit dominiert eine hohe weiße Raster-Wand die Bühne, an der sich Fenster öffnen lassen und die zum omnipräsenten Symbol des Kastensystems, mal zur Fabrik, mal zur Wohnmaschine wird. Sie dient auch als Projektionsfläche, etwa wenn die künstliche Reproduktion in Reagenzglas und Brutkasten drastisch demonstriert werden.

Eine auf dem Boden liegende Person in engem weißen Ganzkörperanzug, die als Spermium herumzappelt, dann die Embryonalstellung einnimmt, wird von oben gefilmt und das Bild kaleidoskopartig an die Wand geworfen. Mit diesem interagieren die Spieler, manipulieren den Fötus, drehen dem fragilen Wesen den Sauerstoff ab.

Philosophischer Showdown

Im Gegensatz zu solch intensiven Bildern bleiben die Spieler oft blass. Das passt zu dieser sterilen, unterkühlten Gesellschaft ziemlich gut, wirkt aber über einen längeren Zeitraum eher wie nicht ganz ausgereiftes Sprechtheater – gut aufgesagt, aber nicht gespielt. Durchweg gut und kraftvoll fällt hingegen André Kaczmarczyk als der hochemotionale, Poesie liebende Freak John auf. Allein, es gelingt es ihm nicht, die Blutleere seiner Gegenüber zu überspielen.

schoeneneuewelt3 560 davidbaltzer uBen Daniel Jöhnk als Helmholtz Watson, Rosa Enskat als Linda, André Kaczmarczyk als
John, Benjamin Pauquet als Bernard Marx © David Baltzer

Gen Ende trumpft der Abend schließlich doch noch mit überzeugendem Sprechtheater auf, wenn es zum philosophierenden Showdown zwischen John und dem Welt-Kontrolleur Mustapha Mond über die Frage kommt, was Menschsein bedeutet. Diesen gibt ein fantastischer Christian Erdmann, der Johns Plädoyer fürs Theater mit entzückenden Persiflagen auf Shakespeare-Figuren konterkariert: "Tragödien entspringen instabilen Gesellschaften." Im Duell laufen beide zu einer Hochform auf, die nach der Länge des Abends überrascht – und versöhnt. Dann schraubt sich fürs ergreifende Schlussbild die Bühne effektvoll in die Tiefe und lässt einen einsamen John blutüberströmt in schwarzer Leere zurück. Allein.

Schöne neue Welt
nach dem Roman von Aldous Huxley, Theaterfassung und Übersetzung von Robert Koall
Regie: Roger Vontobel, Bühne: Claudia Rohner, Video: Clemens Walter, Kostüm: Ellen Hofmann, Musik: Keith O'Brien, Licht: Michael Gööck, Dramaturgie: Robert Koall.
Mit: Benjamin Pauquet, Ben Daniel Jöhnk, Sonja Beißwenger, André Kaczmarczyk, Rosa Enskat, Christian Erdmann, Christian Clauß, Ines Marie Westernströer, Nadine Quittner, Tobias Krüger.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

"Roger Vontobels Inszenierung ist bestimmt von einer bühnenhohen Wand, von der herab der Live-Gitarrist Keith 0'Brian seine Klänge schickt", so Hartmut Krug auf DLF Kultur vom Tage (14.9.2014). Vor allem aber diene die Wand als Projektionsfläche. "Wie hier in faszinierenden Bilderfluten Spermien-Behandlung und künstliche Reproduktion gezeigt werden, bestimmt die Inszenierung mehr als die Schauspiel-Szenen." Erst am Schluss, als André Kaczmarczyks John mit dem Welt-Kontrolleur Mustapha Mond eine Grundsatzdiskussion über das Mensch-Sein führe, bekomme der Abend auch schauspielerisches Profil, so verleihe Christian Erdmann dem Kontrolleur, der zwischen Sehnsucht und Einsicht in die Notwendigkeit argumentiere, eine wunderbar schillernde Aura.

Zwar macht Claudia Rohners Bühnenbild auf Uta Trinks von der Dresdener Freien Presse (15. 9.2014) ziemlichen Eindruck. "Die Schilderungen jener zukünftigen Welt aber ziehen sich hin, und die Figuren geraten dabei leider fast an den Rand der Aufmerksamkeit. Erst als diese perfekt scheinende Welt mit Johns völlig anders geprägten Anschauungen kollidieren, kommt der Abend so richtig in Fahrt. So provoziert der Wilde mit einem ziemlich ausgedehnten, aber leidenschaftlichen Dialog eines Shakespeare-Stückes bei den Genormten ungeahnte Ausbrüche."

Vontobel inszeniere die futuristische Welt mit so wenigen Requisiten wie möglich, schreibt Johanna Lemke in der Sächsischen Zeitung (15.9.2014). Eine Art Bollwerk wachse als zentrales Element aus der Tiefe der Bühne, und vor allem diene eine Mauer als Leinwand für die phänomenalen Videos von Clemens Walter, der Film als einen Teil des Live-Kunstwerks begreife. "Sicher hätte Vontobel mehr Brücken zur Gegenwart bauen können", er bleibe so nah am Original wie möglich. Fazit: "Vielleicht sind es nicht immer die subtilsten Bilder, die er erfindet. Eindringlich sind sie auf jeden Fall."

"Koall hat den Roman so geschickt dramatisiert, dass man dem Stück einen Erfolg auf den Bühnen voraussagen kann", findet Barbara Behrendt in der taz (16.9.2014). Die Fassung vermeide alle Anspielungen auf die digitale Gesellschaft, die ihre Freiheit aus Bequemlichkeit abgibt, "da hat es der Schweizer Regisseur Roger Vontobel gar nicht nötig, Huxleys Welt 'ins Heute' zu transferieren". Bis zur Pause des knapp dreistündigen Abends setze Vontobel kaum Höhepunkte, fächert die Welt "im Jahr 632 nach Ford" breit auf - "etwas pointierter hätten diese Szenen schon ausfallen können".

Koall habe in die Bühnenfassung deutlich mehr Shakespeare eingebaut als in Huxleys Original zu finden ist. "Ob das zur Klarheit beiträgt oder eher eine theatergeschichtliche Huldigung darstellt, somit selbstreferentiell ist, bleibt offen", schreibt Torsten Klaus in den Dresdner Neuesten Nachrichten (15.9.2015). "Ein einfacher Protestbau sorgt für Oben-Unten-Drinnen-Draußen-Abgrenzungen", über allem throne ein halb herunterhängender Michelangelo, "im Kontext des Stücks funktioniert diese vermeintliche Fehlstelle".

 

 

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