Fight Club light

von Anne Peter

Berlin, 12. September 2014. Die Latte liegt hoch. Gerade freudentaumelt das Gorki über den Titel "Theater des Jahres", der sich als Label auf Programmzetteln tatsächlich hübsch ausnimmt. Und der für die Spielzeiteröffnung zuständige Regisseur Sebastian Nübling hat mit der Uraufführung von Sibylle Bergs Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen – übrigens "Stück des Jahres" – eine der tollsten Inszenierungen der wirklich tollen ersten Gorki-Saison unter dem Duo Langhoff / Hillje hingelegt.

Mannsbilder

Für die Tanztheaterproduktion "Fallen" hat man zudem besonderen Aufwand betrieben: 70 Tonnen märkischer Sand wurden in die Berliner Mitte gekarrt und füllen vorm Theater einen riesigen Sandkasten (Bühne: Muriel Gerstner), ganz ähnlich wie schon bei der gemeinsamen Basler Arbeit S A N D. Drum herum zwei Sitzbankreihen vor schwarzen Holzwänden, ein oben offener Container. Gespielt wird open air und "bei (fast) jedem Wetter". Fürsorglich reicht das Theater Einweg-Regencapes und Fleecedecken.

fallen 560 utelangkafel uPaul Wollin im Versuchsfeld  © Ute Langkafel Bei der Premiere bleibt dann alles trocken. Dabei hätte ein kalter Schauer, der ordentlich in die Glieder fährt, gut gepasst. Will der Abend, den Körpertheaterspezialist Nübling zusammen mit dem belgischen Choreographen Ives Thuwis erarbeitet hat, doch ganz ohne Worte von Gewalt und Männlichkeitskonzepten erzählen, "von Wut, Ohnmacht und den Sehnsüchten junger Männer". Er will fragen: "Welche Rolle spielt Gewalt für unser Zusammenleben? Wie entlädt sie sich?" Anstoß gaben die Debatten um vermeintlich gestiegene Jugendgewalt der letzten Jahre, Fälle wie Jonny K. in Berlin, U-Bahn-Schläger in München.

Gewaltbilder

Konkret aufgegriffen werden diese Ereignisse nicht. Nur in der allerersten Szene stößt eine Gruppe einen einzelnen zu Boden und drangsaliert ihn mit Tritten. Danach driftet man in die abstrakte "Kühle eines Versuchsfeldes", wie Nübling es nennt. Zehn junge Männer in schwarzen Sportklamotten und Turnschuhen, Armmuskeln entblößt, traben stoisch von einem Ende der Rechteck-Arena zum anderen, lange Minuten in dumpfsinnigem Gleichschritt. Irgendwann brechen sie den gleichmäßigen Rhythmus, sprinten los, aus dem Klumpen werden Konkurrenten, Wettläufer. Es folgen stürmende Diagonalen, bei denen sie sich erst gegenseitig von hinten anfallen, dann frontal aufeinanderprallen, hindonnern, sich niederschmettern, taumeln. Sand spritzt, einer stöhnt. Brutal sieht das aus – alles nur gut einstudiert?

fallen1 280 utelangkafel uMuskelspiele: Mehmet Ateşçi  © Ute Langkafel Diese Szenen gehören zu den stärksten, auch weil in ihnen etwas von dem Kontrollverlust aufscheint, den Nübling und Thuwis wohl spürbar machen wollen. Der Rest sind eher banal bebildernde Muskelspiele Marke Fitness-Studio oder grobschlächtige Gruppenchoreographien: hochspringen, abrollen, wegrobben, sich aufbäumen. Auch Umarmungen, die zu würgendem Klammergriff werden. Einer steckt den Kopf wie zum Waterboarding in den Sand, ein anderer boxt ausdauernd die Fäuste in Grund und Boden.

Sandbilder

Der Sand bietet Widerstand, macht die Bewegung schwer, zieht die Akteure nach unten und ist doch nicht nur Material mit Punchingball-Effekt, sondern auch geräumige Metapher: für unsicheren Grund, die nicht loszuwerdende soziale Herkunft, hinabziehende Triebkräfte. Wir sehen ihnen zu, diesen heutigen Gladiatoren, wie sie sich verausgaben, wir die Voyeure, die die Augen nicht abwenden können, wenn ein Gewaltvideo im Netz auftaucht oder die Boulevardblätter auf dem Cover mit Screenshots der Überwachungskamera locken.

Lautbildnerei

Soundtechnisch kommt das alles erstaunlich pur daher, keine Mucke, die Atmosphäre reinbuttert. Stattdessen nur ab und zu aufflackernde Geräuschfetzen, mal von Pöbeleien vielleicht, mal von kreisenden Hubschraubern. Ansonsten: Atmen, Keuchen, Stöhnen, vereinzelt ein erschöpftes "Fuck", wenn der Körper nicht mehr weiter will.

fallen2 560 utelangkafel uErschöpfung herstellen: Tamer Arslan und Hassan Akkouch © Ute Langkafel

Überraschendes, unerwartbare Bilder hat der Abend allerdings wenige zu bieten. Die Reihenfolge der Nummern, die ganz auf erzählerische Elemente verzichten, ist lose bis beliebig. Thuwis setzt auf Wiederholungen, mit denen er Verausgabungscrescendi kreiert – weniger bewegungstechnisch komplex als enorm kraftfordernd. Schade, dass den tänzerisch versierteren Akteuren nicht mehr Raum gegeben wird.

Energiebilder

Hassan Akkouch etwa, der schon bei Constanza Macras früh furios breakdancte, hätte das Zeug dazu, geht hier allerdings fast unter. Oder Ensemblemitglied Mehmet Ateşçi, der in einem zarten Solo mit fernreckenden Armen auch von Sehnsucht tanzt. Ausgewalzt wird stattdessen eine alberne Comic-relief-Nummer, in der gepost und gegockelt, auf Bäuche und Pobacken getrommelt und aufdringlich ins Publikum kokettiert wird.

Am ehesten funktioniert "Fallen" als eine Art Auspower- und Abreaktionsritual für die Beteiligten. Aber: Erschöpfung herstellen, Gewaltmotorik imitieren, heißt noch lange nicht, sie zu "untersuchen". Dieser Fight-Club, der sich vornimmt vorzuführen, wie Gewalt um der Gewalt willen entsteht, bleibt hinter den selbst formulierten Ansprüchen weit zurück und begnügt sich stattdessen mit bloßer Energieerzeugung. Man könnte auch sagen: mit heißer Luft.

 

Fallen
Inszenierung: Sebastian Nübling / Ives Thuwis, Bühne: Muriel Gerstner, Kostüme: Ursula Leuenberger, Musik: Tobias Koch, Dramaturgie: Katja Hagedorn.
Mit: Hassan Akkouch, Tamer Arslan, Mehmet Ateşçi, Jan Bluthardt, Jerry Hoffmann, Taner Şahintürk, Dimitrij Schaad, Aram Tafreshian, Hasan Taşgin, Paul Wollin.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

Stückentwicklungen, das zeigten die beiden Gorki Saison-Eröffnungsabende, "sind ein Risiko – aber eines, das selbst beim Misslingen spannender ist, als Schauspielern beim bloßen Textaufsagen zuzuschauen", schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (15.9.2014). In "Fallen" sehe man verschiedene Facetten der Aggression, "die Gewalt hat keinen Kontext. Sie ist einfach da". Aber das bleibe im Spaßmodus. Bedroht oder auch nur konfrontiert fühle man sich zu keiner Zeit, "stattdessen berauscht vom lilafarbenen Spätsommerhimmel, schönen Bildern und einem starken Ensemble".

Das Gorki zeigt uns die Instrumente, mit denen es uns noch an den Kragen gehen wird, so Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (15.9.2014). Leider zerknacke das textlose Tanzstück "Fallen" ziemlich wirkungslos an besagter Sollbruchstelle. Zehn Männer "verdreschen einander, verrichten Fallübungen, führen ihre Bäuche, Ärsche und Muskeln vor, legen ein intensives Workout hin, eine Lektion in Kampfakrobatik". Aber sie bekämen auch viel Sand in die Augen, und manchmal scheppert es derart, dass man bereit ist zu glauben, der eine oder andere habe sich jetzt vielleicht doch wirklich wehgetan. "Das würde diesen Abend freilich nicht gehaltvoller machen, im Gegenteil. Es handelt sich um ein zudringliches Spektakel, um eine unreflektierte, tautologische, formale Übung."

"Die Unmittelbarkeit, gelegentlich auch offensive Plakativität legt die Vermutung nahe, dass es hier mehr um unsere Projektionen vom männlichen (Gewalt-)Status quo geht als um selbigen an sich". so Christine Wahl im Tagesspiegel (15.9.2014). "In einer veritablen Verausgabungsperformance springt, ringt und kickt man sich gegenseitig zu Boden." Auch, wenn "Fallen" die Dichte des anfänglichen "Sportstück"-Bildes leider schnell verliere und ins allzu Naheliegende driftet: "Diese zwischen Bett und Sandkasten gestartete Gorki-Saison verspricht schon deshalb spannend zu bleiben, weil sich die künstlerischen Untersuchungsfelder immer weiter öffnen."

"Ein Spiel mit den Zuschauern. Man blickt sich gegenseitig an, schaut auf die Schläger, die eigenen Ängste", schreibt Tobi Müller im Tagesanzeiger (18.9.2014). Dabei wisse man: Die Häufigkeit von Jugend­gewalt nimmt ab, auch wenn die Intensität der Taten zunimmt, gerade im gefürchteten Berlin. Kleinere Städte wie Dortmund oder Freiburg sind statistisch gefährlicher. "Und vielleicht erklärt man ein Thema zum Jugendproblem, um es nicht gesamtgesellschaftlich befragen zu müssen", so Müller: Vor dem Gorki, in der Arena aus Sand, spiegelten diese jungen, oft migrantischen Körper den Stress auch des älteren Publikums. "Muss man sich schützen, und wenn ja, wovor: vor diesen Jugendlichen oder vor der Möglichkeit des eigenen sozialen Abstiegs?"

 

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