Auf der Suche nach dem zoon politikon

von Jürgen Reuß

Freiburg, 17. November 2014. Zur feierlichen Begrüßung der Gäste im Großen Haus des Theaters Freiburg schlug Oberbürgermeister Dieter Salomon einen Ton an, als wolle er mit Macht die These illustrieren, dass Politik sich eh längst aufs Theatrale verlegt hat. In einen atemberaubenden Fettnäpfchenslalom zelebrierte er rhetorisch elegant seine Kenntnisfreiheit des lokalen Kulturlebens und setzte sich mit larmoyanter Selbstironie als Bühnenfigur des "lustigen Oberbürgermeisters" quasi selbst in Gänsefüßchen. Das notwendigerweise trockene und zahlenlastige Grußwort des verhinderten Landeskulturstaatssekretärs Jürgen Walter übernahm er auch gleich mit und pimpte es zur passablen Kabarettnummer auf. Die dahinterstehende pekuniär beglaubigte Wertschätzung der freien Schauspielkunst durch das Land ging im Klamauk unter.

"Sfumato" von Rachid Ouramdane
Nach diesem Anschauungsunterricht, wie man politische Inhalte in Entertainment auflöst, hatte es der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung Thomas Krüger in seiner Rede (siehe bpb-Website) leicht, zu begründen, warum seine Institution sich auf der Suche nach Verbündeten zur Förderung des zoon politikon lieber gleich ans Theater wendet: "Es bietet uns die Chance auf die Inszenierung der Inszenierungen, die uns in der postdemokratischen 'Wirklichkeit' an vielen Orten entgegentritt." Das war zwar nicht auf Salomon gemünzt, klang aber doch wie eine passende Replik und die Aufforderung, postdemokratisches Unterhaltungspolitikertum mit den Mitteln des Theaters wieder ans Politische rückzubinden.

Rachid Ouramdanes anschließende Choreographie "Sfumato" war an so etwas allerdings wenig interessiert und sprang vom "Postdemokratischen" gleich ins Postapokalyptische. Trockennebel wabert, Körper winden sich, Regen plätschert, und ab und an werden aus dem Off Geschichten von katastrophenbedingter Vertreibung zu existenzialistisch hämmernden Flügeltönen vorgetragen. Nun hätte man zwar stundenlang dem atemberaubenden Wirbelwind einer schier endlos kreiselnden Tänzerin und der unglaublichen Gelenkigkeit insektoid zuckender Tänzer zuschauen und sich von ihren wunderbaren Meereswellenformationen wegtragen lassen können. Es war auch schön, einem schamanischen Ritual beizuwohnen, bei dem grandiose Tänzerinnen anthropogen entfesselte Naturgewalten in poetische Bilder bannten. Aber die Evolutionsstufe des zoon politikon wurde dabei eindeutig übersprungen.

Sfumato 560 JacquesHoepfner xPostapokalypse now! "Sfumato" © Jacques Hoepfner

"Morning" vom Jungen Theater Basel
Vielleicht war das auch gut so. Der Istanbuler Autor Hakan Günday beantwortete auf dem von Kommunalem Kino und Literaturbüro zum Festival beigesteuerten Gezi-Abend die Frage des Moderators, ob Kunst überhaupt etwas zur Politik beitragen kann, mit einem glatten Nein. Sie solle das machen, was sie macht. Martina Priessners beeindruckender Dokumentationsfilm "Everyday I’m Çapuling" hatte vorher gezeigt, wie Menschen die Brutalität und Unverschämtheiten, die ihnen auf Veranlassung des heutigen türkischen Präsidenten Erdoğan entgegenschlagen, immer wieder in kreative Energie umwandeln und gerade in der Verweigerung des Politischen ihre höchste politische Wirkung erzielen – Beispiel: der "Stehende Mann" von Performancekünstler Erdem Gündüz.

Schaute man sich Sebastian Nüblings Festivalbeitrag "Morning" mit dem Gezi-Panorama im Hinterkopf an, wurde evident, wie entscheidend die Wahl des Ortes für die Dimension des Politischen ist. Natürlich findet Nübling eindrucksvolle Bilder für Simon Stephens' Stück über schichtübergreifend bis zur Verwahrlosung freigelassene Jugendliche. In einem großartig gespielten, rhythmisch aufpeitschenden Parforceritt bis zum Mord aus Langeweile wird dem Publikum pubertierendes Soziopathentum um die Ohren geschlagen, bis auch den letzten Zuschauer eine trickreiche Mischung aus Fassungslosigkeit und pädagogischem Impuls überfällt, der Jugend mehr einfühlende Empathie entgegenzubringen. Aber im geschützten Rahmen des Theaters Marienbad, mit dem erstmals auch ein Kinder- und Jugendtheater Mitveranstalter des Festivals ist, wirkt so eine ausgefeilte Ästhetik weniger politisch als ein Punkkonzert.

Gezi-Park-Gefühl
Gerade wenn man zu grübeln beginnt, was die eine oder andere Vorstellung besonders eignet, das diesjährige Thema Freiheit für die Politik im Freien Theater zu repräsentieren, kommt der Rahmen, den das Festival bietet, zur Hilfe. Unablässig gibt es irgendwo ein Tischgespräch, ein Theatertrip, eine Stadtraumintervention, ein Podium, ein Workshop, ein Caféhaus-Seminar oder eine Ortsbegehung. Soweit sich das nach drei Tagen sagen lässt, sind alle Veranstaltungen voll, manche quellen sogar über. Auswahljurorin Milena Mushak sieht sich in der eher ungewöhnlichen Wahl einer so kleinen Großstadt wie Freiburg bestätigt.

Das gesamte Beiprogramm ist kostenlos. "Das ist durchaus als bewusstes politisches Statement zu verstehen", sagt Mushak. Es geht um Teilhabe, und ist der unerbittliche Gatekeeper Geld wenigstens zeitweilig suspendiert, kann so ein Festival eine Ahnung davon vermitteln, was das "Gezi-Park-Gefühl" sein könnte, wenn es weder von Gasgrananten noch ökonomischen Zwängen eingehegt wird. Selbst wenn eine Inszenierung für den einen oder anderen Geschmack etwas zu viel postapokalyptischen Nebel verbreitet, schafft es die bisherige Festivalatmosphäre auf diese Weise, die hinter dem Nebel um ihre Achse wirbelnde Tänzerin doch als politische Geste wahrzunehmen: Als jemand, die es tut, weil sie es kann und niemand sie daran hindert, sondern durch Applaus noch ermutigt. Auch eine Definition von Freiheit.

Mehr zu Politik im Freien Theater: Unsere Festivalübersicht mit Nachtkritiken.

Sfumato
von Rachid Ouramdane.
Konzept / Choreografie: Rachid Ouramdane, Text: Sonia Chiambretto, Musik: Jean-Baptiste Julien, Stimme: Deborah Lennie-Bisson, Bühne: Sylvain Giraudeau, Licht: Stéphane Graillot, Ton: Franck Morel; Video: Jacques Hoepffner, Aldo Lee; Kostüme: La Bourette.
Mit: Brice Bernier, Mathieu Hédan, Jean-Baptiste Julien, Lora Juodkaite, Deborah Lennie-Bisson, Mille Lundt, Ruben Sanchez.

www.rachidouramdane.com

Morning
von Simon Stephens
Regie: Sebastian Nübling, Ausstattung: Ursula Leuenberger, Sound: Tobias Koch, Visuals: Philip Whitfield, Dramaturgie: Uwe Heinrich, Regieassistenz: Katharina Wiss; Licht: Urs Reusser.
Mit: Jara Bihler, Joshua Brunner, Tabea Buser, Nico Herzig, Olivia Ronzani, Lukas Stäuble.

www.jungestheaterbasel.ch

www.politikimfreientheater.de

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