Eine Stadt voller Kunststücke

von Leopold Lippert

Graz, 8. August 2014. Dass Straßenkunst und Figurentheater in der Prestigeskala der performativen Künste nicht gerade an oberster Stelle rangieren, ist bekannt. Zu viel Körperarbeit, zu wenig Bedeutungsproduktion, scheint es; zu viele Fertigkeiten, zu wenig ästhetisches Feingefühl. Dabei stellen gerade diese Formen grundlegende Fragen an das Theatrale: Was unterscheidet einen lebendigen Körper vom bloßen Objekt, und wie kann er sich verändern und verändert werden? Was ist "echt", und was nur Effekt? Was macht einen theatralen Raum eigentlich aus, und was ist das "Öffentliche" daran?

"La Strada", das Grazer Internationale Festival für Straßenkunst und Figurentheater, das von 1.bis 9. August nun schon zum 18. Mal das Sommerloch der steirischen Hauptstadt füllt, will das Theater auf die Straße tragen. Doch weil in Provinzhauptstädten nun mal der Feudal-Föderalismus herrscht, findet die Eröffnungsperformance selbstverständlich standesgemäß im barocken Samt des Opernhauses statt. Daniele Finzi Pasca, der Anfang des Jahres die Abschlussfeier der Olympischen Winterspiele in Sotschi inszeniert hat, lässt sich für seine zweistündige Choreographie "La Verità" von einem Bild Salvador Dalís inspirieren. Dalí hatte 1944 einen Bühnenvorhang für eine "Tristan und Isolde"-Vorführung an der New Yorker Met gemalt, der lange Zeit als verschollen galt. Vor kurzem wiederentdeckt, hat Finzi Pasca das surreale Bild der tragischen Liebenden nun vor die Bühne der Grazer Oper gehängt.

LaVerita 560 AndreaLopez uInspiriert von Dalí: La Verità © Andrea Lopez

Wiederverzauberungsversuch: "La Verità"
"La Verità" ist ähnlich verfremdet, bedient sich aber in seiner Symbolik eher der monumentalen Bildsprache des Kolonialismus als jener der mittelalterlichen Tragödie: Da wedeln die Tänzer der Compagnia Finzi Pasca mit Palmen aus weißen Federn, stampfen als Nashörner verkleidet durch den Raum, oder gehen mit Speeren und archaischem Kriegsgeheul aufeinander los. Über all dem weht die bittersüße Melancholie einer Welt, die von der durch und durch entzauberten Moderne längst verschluckt worden ist (bisweilen, wenn Taschentücher qua Windmaschine zu trauriger Klaviermusik durch den Raum gewirbelt werden, weht die Melancholie tatsächlich).

"Seitdem die Fotografie erfunden ist, sind unsere Erinnerungen viel sicherer", erklärt der Spielleiter, vorerst erleichtert. Doch durch seine Reproduzierbarkeit hat das Vergangene viel an Magie eingebüßt. Finzi Pascas Performer versuchen die Wiederverzauberung, indem sie scheinbar leblose Objekte beseelen, und den Dingen eine geisterhafte Lebendigkeit einhauchen: tanzende Kunststoffreifen, die unvermittelt ihre Bewegungsrichtung ändern; Jonglierbälle, die ziellos durch die Luft zischen, und dann doch immer wieder in der Hand des Performers landen; Marionetten, die von unsichtbaren Händen geführt werden; oder unterschiedlich voll gefüllte Wassergläser, die plötzlich zu singen beginnen. Dazu üben sich die Artisten in übersteigerter, fast übermenschlicher Körperlichkeit: Sie verrenken sich, schlagen Saltos, räkeln sich an Doppelhelix-Trapezen rauf und runter, und trotzen im Rollschuhballett der Fliehkraft. Die Gesetze der Physik spielen in dieser geheimnisvollen Traumwelt keine Rolle.

KLAXON 560 NielsBenoist uSchwerkraft ausgesetzt: Klaxon © Niels Benoist

Unvermittelte Spannung: "Klaxon"
Die Low-End Version von Finzi Pascas opernhaften Glitzerfantasien findet anderntags im Zirkuszelt statt, das die Compagnie Akoreacro im Grazer Augarten aufgeschlagen hat. Die elf Performer, Musiker und Artisten, haben ihrem Programm mit "Klaxon", die Hupe, den passenden Titel gegeben: Mit Akkordeon, Schlagzeug, Bass, Violine, und einem präparierten Klavier auf großen Gummirädern wird erst einmal ordentlich Krach gemacht. Doch auch hier kommt den Künstlerkörpern eine gesteigerte Präsenz zu: Sie schleudern einander mit derartiger Muskelspannung durch die Luft, dass man glaubt, die Schwerkraft sei für einen Moment ausgesetzt worden. Man kennt derartige Stunts aus Hollywood-Actionfilmen. Bloß während im Kino das Spektakel auf die Sicherheit des Spezialeffekts vertrauen kann, ist die Spannung bei Akoreacro unvermittelter: Hier könnte jederzeit etwas schiefgehen.

Der Ziegel als Hund: "Cooperatzía – Le Chemin"
Den überbordenden Kosmos von Oper und Zirkus hat das französische Collectif G. Bistaki längst verlassen. Am sommerverwaisten Campus der TU Graz ist das primäre Designelement der fünfköpfigen Truppe weitaus profaner: der gemeine rote Dachziegel. Die Herren in langen Mänteln haben das leere Uni-Gelände zu einem schaurig beleuchteten Parcours umgebaut: Spielbeginn von "Cooperatzía – Le Chemin" ist bei Einbruch der Dunkelheit.

Es ist erstaunlich, was man mit den konkaven Tonsteinen, scheinbar achtlos am Boden verstreut, alles anstellen kann. In simplen, aber rasend schnellen Bewegungsabfolgen werden sie unaufhörlich neu positioniert, von der Waagrechten in die Senkrechte und wieder zurück; es bilden sich immer andere Muster und Formen, in steter Veränderung. Es ist als blickte man als Zuschauer auf ein riesiges Ziegel-Kaleidoskop, das nicht aufhört sich zu drehen.

LeChemin 560 D.Bossis uDie Belebung des Ziegels: Cooperatzía – Le Chemin © D.Bossis

Eine Station weiter liegt ein überdimensionales Ziegelfeld, rechteckig am Boden angeordnete Mulden, nach oben offen. Mit beiden Füßen treten die Artisten auf die Ziegel, und einer nach dem anderen beginnt langsam zu schaukeln. Auf der großen Fläche ergibt das Wellenbewegungen, Lebendigkeit, die sich unendlich fortpflanzt und die Ziegel noch schwingen lässt, als die Performer schon am anderen Ende des Platzes sind.

Die Lebendigkeit der banalen Tonobjekte kommt allerdings nicht nur durch ihre unheimliche Bewegungsenergie zustande, sie braucht auch die Imagination des Zuschauers. Denn rote Dachziegel eignen sich hervorragend als kleine Dackel, die man an der Leine spazieren führen kann – wenn man nur daran glauben will. Dass die Zuschauer das beherzt tun, zeigt sich bald: Als die Artisten große Sätze über überkreuzte Hundeleinen machen, geht – unabsichtlich? – ein kleines Ziegel-Hündchen kaputt, und dem Publikum stockt kollektiv der Atem. Fast schon entschuldigend wirft das Herrchen den Ziegelbruch an den Bühnenrand, auf einen Tonscherbenhaufen, der fortan auch ein Hundegrab ist.

Aufstand der Asphalt-Piloten: "Tape Riot"
Tatsächlich auf der Straße findet schließlich der Aufstand der Asphalt Piloten statt. Für "Tape Riot" hat sich die Vier-Personen-Truppe einen besonders schmucklosen Nicht-Ort ausgesucht. Der langgezogene Grazer Karmeliterplatz am Fuß des Schlossbergs ist normalerweise bloße Abspielfläche für allerlei Großevents: Eislaufen im Winter, Fußball-Public Viewing im Sommer. Ebenfalls am Platz ansässig ist die Landeszentrale der Steirischen Volkspartei, über deren Eingangsportal ein – absurd anmutender – lebensgroßer grasgrüner Stier mit Flügeln thront. Am Ostende des Platzes ragt der graue Betonrohbau des umstrittenen Luxusprojekts Pfauengarten in den Himmel, überteuerte Wohnungs- und Büroflächen in bester Innenstadtlage. Der gläserne Aufzugseingang zur Tiefgarage ist schon fertig, und dort tauchen auch ganz unvermittelt die Asphalt Piloten auf: zwei Tänzerinnen (Anna Anderegg und Moni Wespi), ein Musiker (Marco Barotti), und ein Klebekünstler (Hervé Thiot).

150 Zuschauer sind per SMS über Zeit und Ort der Performance informiert worden, einige sind allerdings wohl auch zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort – der "Tape Riot" ist frei zugänglich. Da der Platz groß ist, und man nicht genau weiß, wer die Performer sind, ist es schwer, einen Anfangspunkt zu bestimmen. Irgendwann ist der elektronische Beat, im iPad gemixt und aus dem Gürtel-Lautsprecher scheppernd, jedenfalls laut genug, um die Zuschauer anzulocken.

TapeRiot 560 VincentvanHecken uFlüchtige Versammlung: Tape Riot © Vincent van Hecken

"Tape Riot" spielt 45 Minuten lang mit dem Wechselverhältnis von Flüchtigkeit und Permanenz. Zwei Performerinnen bewegen sich zur Musik im Raum. Sie erschaffen Kontur und Textur, wo vorher nur leere Steinplatten waren. Ein weiterer Performer, mit dickem schwarzem Klebeband ausgerüstet, klebt Formen auf Glas und Beton. Es sind verlängerte Bewegungslinien, die den unsteten Tanzbewegungen Haltbarkeit geben, sie festfügen und einfangen. Für einen kurzen Zeitraum wird Bewegung in feste Form gegossen, und das schwarze Klebeband wird zur Spur, die bleibt, wenn die Körper schon vorbeigetanzt sind. Die flüchtige Versammlung im öffentlichen Raum, die die Performance einberuft, hinterlässt einen Abdruck auf den grauen Steinplatten, eine Erinnerung an Performance-Zeit, die bleibt.

Nicht bleiben dürfen allerdings die Skater, die auf dem Platz ihre Tricks gezeigt hatten, bevor die Asphalt Piloten das urbane Festivalpublikum zum Klebeband-Aufstand herbestellt haben. Auch die öffentlichste Straßenkunst produziert Verdrängungseffekte.

La Verità
Von der Compagnia Finzi Pasca
Konzept: Daniele Finzi Pasca, Choreographie: Daniele Finzi Pasca und Maria Bonzanigo, Bühne: Hugo Gargiulo, Kostüme: Giovanna Buzzi.
Mit: Moira Albertalli, Jean-Philippe Cuerrier, Annie-Kim Déry, Stéphan Genilini, Andrée-Anne Gingras-Roy, Catherine Girard, James Kingsford-Smith, Evelyne LaForest, David Menes, Marco Paoletti, Felix Salas, Beatriz Sayad.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause

Klaxon
Von der Compagnie Akoreacro
Mit: Claire Aldaya, Guilhem Fontes, Maxime La Sala, Basile Narcy, Mathieu Santa-Cruz, Antonio Segura Lizan, Maxime Solé, Guillaume Thollière, Vladimir Tserabun, Boris Vassallucci, Romain Vigier.
Dauer: 75 Minuten, keine Pause

Cooperatzía – Le Chemin
Von Le Collectif G. Bistaki
Mit: Bergal Florent, Juliot François, Faury Jive, De Elia Nicanor, Cousin Sylvain
Dauer: 80 Minuten, keine Pause

Tape Riot
Von den Asphalt Piloten
Konzept: Anna Anderegg, Kostüme: Antoniya Ivanova, Musik: Marco Barotti.
Mit: Anna Anderegg, Marco Barotti, Hervé Thiot, Moni Wespi.
Dauer: 45 Minuten, keine Pause

www.lastrada.at

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