Seele statt Siege

von Sarah Heppekausen

Düsseldorf, 21. Dezember 2012. Ihre Stimme kommt vom Band. Schauspielerin Karin Pfammatter bewegt nur ihre Lippen dazu. Oder sie schaut ihr hinterher, wenn die Stimme auf einmal von der Seite oder von schräg oben zu hören ist. Von der Decke hängen Akustikschaumplatten, die wie eine Solaranlage die Sonnenstrahlen alles Gesprochene einfangen und sichern. Swetlana Alexijewitsch schreibt Literatur, indem sie Stimmen sammelt und komponiert. Der polnische Regisseur Michał Borczuch übersetzt dieses Prinzip im Prolog zu seiner Inszenierung in ein (über)deutliches Bild der Bühne. Stimmenfänger im Theater.

Borczuch hat zusammen mit Tomasz Śpiewak eine Stückfassung aus Alexijewitschs "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" geschrieben und auf die Düsseldorfer Schauspielbühne gebracht. Für ihren Doku-Roman interviewte die heute 64-jährige Weißrussin in den 1980er Jahren hunderte Frauen, die im Zweiten Weltkrieg an und hinter der russischen Front gekämpft hatten. Sie ließ sich von Scharfschützinnen und Sanitäterinnen, Pilotinnen und Partisaninnen, von Flak-Geschützführerinnen und Funkerinnen deren Erlebnisse berichten, um mit ihrem Buch die weibliche Geschichte des Krieges zu erzählen. Mehr Seele, weniger Siege.

Der Stimmfang als zwischen(un)menschlicher Akt
Auf der Bühne nähert sich die Schriftstellerin den Frauen selbst wie eine Bewaffnete: Mit Lesebrille und Aufnahmegerät geht sie auf sie los, bereit fürs Wortgefecht. Das Ich der Tagebuchaufzeichnungen im Buch durchleuchtet der Regisseur zu einer Figur. Sein Ergebnis: eine ziemlich unsympathische Frau. Elena Schmidt spielt eine nervöse Interviewerin, die wie eine Wissenschaftlerin doziert und auch mal nachbohrt, bis die Befragte vor Verzweiflung fast in die Tischkante beißt. Unsicher stopft sich diese Swetlana eine Pirogge nach der nächsten in den übervollen Mund, als eine der Frauen sie dazu auffordert. Oder sie lässt sich wie ein wehrloses Kind auf den Kühlschrank heben, während eine andere sorgsam die Tonbänder aus ihren aufgenommen Kassetten zieht.

krieg 011 560 fotosebastianhoppe uMit gehissten Akustiksegeln auf Stimmenfang: "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht"
© Sebastian Hoppe

Stückfassung und Regie fokussieren den Stimmfang als zwischen(un)menschlichen Akt. Dabei rücken die Geschichten der Frauen oft erschreckend weit in den Hintergrund. Nicht die vom Pferd. Das liegt ausgestopft seit Beginn der Inszenierung auf dem Bühnenboden. Und Janina Sachau erzählt als Gefreite und Scharfschützin Maria-Iwanowna Morosowa, wie sie ein Fohlen erschossen hat, weil sie seit drei Tagen nichts gegessen hatten. Aber diese ausführlich ausgesprochene Episode bleibt eine Ausnahme. "Ich habe erstaunliche Erzählerinnen getroffen, ihr Leben enthält Seiten, wie sie selbst bei meinem geliebten Dostojewski selten anzutreffen sind", sagt Swetlana Alexijewitsch – auch auf der Bühne. Aber dort sind diese Erzählerinnen nicht zu finden. Mareike Hein, Claudia Hübbecker, Karin Pfammatter und Janina Sachau übernehmen 17 Frauenfiguren, die kaum voneinander zu unterscheiden sind. Manche ihrer Themen werden in nur einem Wort zusammengefasst ("Tochter", "Konfekt"). Oder bloß in einer Geste.

Geschichten- und Gefühlsverlust
Dieser Abend erzählt eine andere, eigene Geschichte, nämlich die vom journalistischen Willen, so lange in Erinnerungen zu wühlen bis die gewünschte Story da ist. Borczuch hat Rührseliges vermieden, und das ist auch gut. Aber übrig bleiben Karikaturen von Frauen, die Glitzerkleid tragen, Fäuste vor die Wand schlagen, Urwald-Schreie ins Mikro schnalzen oder stumm mit Gesten sprechen, weil ihnen die Worte für das Erlebte fehlen. Was die Regie dem Text nimmt, lädt sie mit Symbolen auf. Es wird in Fotoalben geblättert, die Urne mitgeschleppt und beim Kaffeekränzchen über Textfassung und Titel diskutiert.

Da bestreiten die Interviewten, dass der Krieg kein weibliches Gesicht habe. Sie fühlen Swetlana auf den Feminismus-Zahn. Wenn die sich hilflos als "Historikerin der Seele" bezeichnet, klingt das nur noch lächerlich. Die Autorin kann nicht ernst genommen werden. Und die Soldatinnen bleiben Fremde. Der auf- und abfahrende Akustikschaum schluckt Geschichten und Gefühle. Diesen Verlust auf die männliche Regieperspektive zu schieben, ist wohl klischeehaft. Aber vielleicht ist ja doch etwas dran.

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht
nach dem Buch von Swetlana Alexijewitsch, für die Bühne bearbeitet von Tomasz Śpiewak und Michał Borczuch
Regie: Michał Borczuch, Bühne und Kostüme: Anna-Maria Karczmarska, Musik: Daniel Pigonski, Dramaturgie: Tomasz Śpiewak, Stefan Schmidtke.
Mit: Elena Schmidt, Mareike Hein, Claudia Hübbecker, Karin Pfammatter, Janina Sachau.
Dauer: etwa 2 Stunden, keine Pause

www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

Es seien "nicht die Ereignisse aus den Militärgeschichtsbüchern", die in Swetlana Alexijewitschs "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" zur Sprache kommen. "Die Frauen berichten eher von ihren Reaktionen auf das, was sie sehen", sagt Ulrike Gondorf auf Deutschlandradio Kultur (22.12.2012). Die Theaterfassung in Düsseldorf greife "die Interview-Situation des Buchs auf und macht daraus ein vielstimmiges Geflecht der Stimmen und Erinnerungen." Die Inszenierung von Michal Borczuch sei "von kluger Kargheit", Musik und Geräusche würden "suggestiv eingesetzt", aber keine Bilder – "außer denen, die im Kopf des Zuschauers entstehen". Die Inszenierung lebe "von der Identifikationskraft und dem darstellerischen Mut der fünf Schauspielerinnen (…), die jede kleine Momentaufnahme, jeden Erinnerungsfetzen mit intensivem Leben füllen."

Bei Borczuch blieben die Rotarmistinnen, von denen Swetlana Alexijewitschs Buch erzählt, "seltsam stumm, längere Erzählpassagen gesteht der Regisseur ihnen selten zu", schreibt Britta Helmbold auf ruhrnachrichten.de (24.12.2012). "Dafür dürfen sie ihren Schmerz herausschreien, Tiergeräusche imitieren, die Kasettenaufnahmen zerstören und mit einer Urne auftreten. So bleiben die 17 Frauenfiguren (…) fast ununterscheidbar." In den Mittelpunkt habe Borczuch die recherchierende Journalistin gestellt, "die nachbohrt bis sie ihre Geschichte hat." Seine Inszenierung verdamme die Ex-Soldatinnen so "wieder zum Schweigen".

Borczuch und Spiewak versuchten eine Schlacht im Kampf der Geschlechter zu schlagen, die so nicht zu erwarten war, schreibt Marion Ammicht in der Süddeutschen Zeitung (29.12.2012). Dramaturg und Regisseur trauten der preisgekrönten Autorin nicht. "Führen sie in einer aus eben diesen Kommentaren destillierten Rahmenhandlung vor mit lächerlich naivem Enthusiasmus, Föhnwelle, Drahtbrille, wallendem Poncho und Pfennigabsatz." Die wirklich eindrucksvollen Erzählungen und Geschichten der über 700 befragten Zeitzeuginnen gingen unter in den ambitionierten Collagen und Montagen der polnischen Avantgarde-Theatermacher. Wer das Buch nicht gelesen habe, bleibe außen vor, so Ammicht: "Versteht die intellektuelle Sprengkraft des dekonstruktivistischen Ansatzes nicht, mit dem hier zwei junge Männer um die dreißig emotionales Terrain zurück erobern wollen, das ihnen von einem falsch verstandenen emanzipatorischen Gestus aberkannt worden ist."

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