Konservation im Séparée

von Tim Schomacker

Hannover, 5. April 2014. Wenn der Zeitungsverkäufer in der Hotellobby in der Anfangsviertelstunde zum x-ten Mal von seinem Barhocker gleitet, schwant einem Böses: Zu klamaukig wird hier ein Stoff angegangen, der dermaßen durchhistorisiert ist, dass er heute keinem mehr weh tut. Was kümmern uns polizeiliche Ermittlungspannen und politische Vertuschungen der späten 1950er Jahre in einem gewiss delikaten und prominenten, aber eben auch sehr lange vergangenen Todesfall? Doch so wie der quirlige Oscar Olivo in schauspielerisch gekonnten Varianten immer wieder unverletzt zurücklandet auf dem Barhockerleder, gelingt es auch Regisseur Milan Peschel, diesen Dreistundenabend über die Frühgeschichte der Bundesrepublik immer wieder geschickt – und manchmal überraschend – in die Spur zu setzen. Etwa indem er Olivos Dienstleistungsrandfigur den anwesenden, meist schwerindustriellen Hotelgästen immer wieder mit freundlich-bestimmt dahingelächelten Kurzzusammenfassungen die SPD-Parteizeitung "Vorwärts" feilbieten lässt. Oder indem er in komisch-knappen, aber souveränen Schritten die Dienstleistungs-Hauptfigur unternehmerisch erwachsen werden lässt.

Die Hotellobby, in der Peschel das Geschehen ansiedelt, ist für beide Milieus, die sich hier treffen, ungewohntes Terrain – sowohl für die Prostitutierte als auch für die biedere, aber machtgeile haute volée, aus der die Aufstiegswillige ihre Kundschaft rekrutieren will. Anfangs lässt Juliane Fisch ihre Rosemarie Nitribitt beinahe aus den Highheels kippen, verhaspelt sich gekonnt bei der Aussprache des Wortes "Konversation", als sie's erstmals geschafft hat ins Séparée. Niemand denkt da, dass sie sich zu einem kleinen privaten Wirtschaftswunder mausern würde. Am allerwenigsten jene Wirtschaftsbosse, die sich später von ihr sagen lassen müssen: "Die Anwesenheit eines Wirtschaftskapitäns beruhigt mich über mein zukünftiges Schicksal. Nicht persönlich, sondern platonisch, als Idee."

Die Schlange trägt Pelz
Regisseur Milan Peschel und seine souverän sprunghafte Hauptdarstellerin betten dieses "Mädchen Rosemarie" hinein in ein Unsittengemälde, das in gewisser Weise die gemalten Gesellschaftstableaus eines George Grosz historisch in die 1950er Jahre verlängert. Und sie zeigen damit die Vor- und Frühgeschichte der an Körper und Subjekt angedockten Selbst-Entwurfs- und -verwertungs-Logik, die in den frühen Pollesch-Stücken immer wieder durchdekliniert wird. 

maedchenrosemarie1 560 katrin ribbe uZielstrebigkeit wird zu Gold: Juliane Fisch als Mädchen Rosemarie © Katrin Ribbe

In keinem Moment und mit keinem Element der Bühnenästhetik dieses kurzweiligen Dreistundenabends verleugnet Peschel seine Herkunft: die durchgedrehte, dabei immer wieder durch Politisch-Diskursives kontrapunktierte Komödie, die diverse Sperrholzflächen offen legende Drehbühne (Moritz Müller), der den Raum wie die Figurenkonstellationen immer wieder auslotende Einsatz der Livekamera (Jan Speckenbach), der Ensembleteile gelegentlich zum kommentierenden Hintergrundchor (Joplins "Mercedes Benz") einlädt, die gelegentlichen Sprünge aus den eben etablierten Rollen, die verquer-stilisierenden Klamotten (Kathrin Plath, unter anderem ein Pelzmantel mit integrierten Leuchtschlangen), das auf bühnenfüllender Leinwand gezeigte, eigens produzierte Musikvideo zum slicken HipHop-Track (zu "Rich Bitch" der eigenwilligen südafrikanischen Crew "Die Antwoord") – all das ist "Volksbühnenhaftigkeit", die mittlerweile zum Stadttheaterstandard zu gehören scheint.

Servilität und Strippenzieherei
Da verwundert der Wille zu einer kausalkettenartigen Chronologie fast ein wenig: Rosemarie stolpert aufs Parkett, avanciert zum gefragten Escort der Frankfurter Wirtschaftszirkel, gewinnt Macht, weil sie (die erstens immer mehr weiß von ihren Kunden und zweitens geschickt ihren Markt- und Markenwert entwickelt) zunehmend die Bedingungen diktieren kann, lässt sich in ein Geflecht wechselseitiger Wirtschaftsspionage einbinden (mit ihrem Rotlichtkämmerlein als hinreißend überverkabeltem Informationenknotenpunkt) – und wird am Ende unter ungeklärten (weil vertuschten) Umständen ermordet.

maedchenrosemarie2 560 katrin ribbe uShowtreppe ins Wirtschaftswunder © Katrin Ribbe

Mehr als das Stolzieren durch den Plot sind es szenische Einzelanfertigungen, die Peschels Inszenierung tragen (und sie gewissermaßen fröhlich-analytisch vorantreiben). Wenn er das nur notdürftig als Auslegewarenkonsortium getarnte Waffen- und Wiederbewaffnungskartell (hervorstechend Janko Kahles verkniffener Ministerialdirektor Hoff) vor sprunghafter Livekamera auf dem Perser herumkriechen lässt. Wenn die Szenerie saukomisch ans Film-Set von Rolf Thieles "Das Mädchen Rosemarie" (1958) wechselt. Oder wenn Peschel selbst (kurzfristig für den verletzten Mathias Max Herrmann eingesprungen) der Figur des Hotelportiers Hermann ein Schillern zwischen Servilität und Strippenzieherei verleiht. Von einem Geflecht von "Unordnungen, die sich gegenseitig aufheben", spricht Hermann gegen Ende. Unordnungen, die Peschel als Regisseur stilsicher beherrscht – und die trotzdem die Frage offen lassen, warum man nicht die Hundts und Henkels dieser Republik in den komödiantischen Ring schickt. Würde wohl mehr weh tun als das vergangene "Mädchen Rosemarie".

Das Mädchen Rosemarie
Nach dem Roman von Erich Kuby
Bühnenfassung: Soeren Voima
Regie: Milan Peschel, Bühne: Moritz Müller, Kostüme: Kathrin Plath, Video/Livekamera: Jan Speckenbach, Musik: Juri Kudlatsch, Dramaturgie: Kerstin Behrens, Gesa Lolling.
Mit: Carolin Eichhorst, Juliane Fisch, Henning Hartmann, Mathias Max Herrmann (bei der Premiere: Milan Peschel), Janko Kahle, Sebastian Kaufmane, Juri Kudlatsch, Dominik Maringer, Thomas Mehlhorn, Oscar Olivo, Andreas Schlager, Sandro Tajouri.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

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Kritikenrundschau

Peschels Inszenierung werfe die Frage nach dem sozialen Typus des Aufsteigers auf, für den diese Rosemarie ein Beispiel sei: "Was treibt sie zum Aufstieg? Und welchen Preis zahlt sie dafür" fragt Daniel Alexander Schacht in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (7.4.2014). Es sei vor allem die Konfrontation mit einer abgründigen Männerwelt. Die werde hier "ebenso drall wie drastisch" verkörpert.  Stimmungsmäßig werde die Inszenierung zuweilen ganz zur "Zeitgeistrevue", zum "mit viel Spielfreude dargebotenen Potpourri".  In seiner Zeichnung der Rosemarie allerdings setze Peschel deutliche Zeichen, indem er sich quer zu abgestandenen Moralbegriffen stelle, Rosemarie zu einer "ganz gegenwärtigen Figur" mache.  "Wo geht es noch um Aufklärung, wo beginnt der Verrat durch den dabei stets mitbedienten Voyeurismus?" laute eine der spannenden Fragen, die die Inszenierung aufwerfe. "Aber auch: Wo setzt sie ihre Mittel richtig ein, wo beginnt der Verrat an den Instrumenten des Theaters?" Exzessiver Videoeinsatz nötige Schauspieler auch dort, sich an die Kamera zu adressieren, "wo sie sich ebenso gut direkt auf die Zuschauer orientieren könnten".

Mit schnellen Kamerawechseln, jeder Menge Geschrei, Gerangel und Sex wirke das Stück zeitweise wie ein Film, schreibt Jörg Worat in der Neuen Presse und in der Kreiszeitung (7.4.2014). Peschel habe die Geschichte offenbar nicht wirklich ernst genommen. Zumindest bleibe unklar, was seine Inszenierung eigentlich sein solle. "Als Milieuschilderung taugt sie kaum, als Skizze des Nachkriegsdeutschland nur sehr bedingt und als Charakterstudie schon gar nicht." Durch die ständige Action bekäme der Abend keine rechte Fallhöhe. Das sei am allerwenigsten den Darstellern anzulassen, Juliane Fisch und Henning Hartmann könnten dem wilden Treiben sogar ein paar Momente differenzierte Emotion abgewinnen.

"Klischeebeladen und undifferenziert, (…), unterkomplex?" frage man sich nach dem ersten Teil, berichtet Alexander Kohlmann fürs Deutschlandradio Fazit (5.4.2014). Der "große Bruch" komme nach der Pause: Als das ganze Treiben der Bühne zerfalle in ein Filmset. Peschel zeige das Mädchen Rosemarie als schillernden Medienmythos, "der immer wieder neu instrumentalisiert wird". Zum Schluss applaudiere man einer Frau, die nur noch aus Zelluloid und Pixeln bestehe. Und inzwischen beliebig konsumiert werden könne. "Zum Beispiel an diesem Abend, den man am liebsten gleich noch einmal sehen würde."

 

 

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