Erzähler zwischen Natur und Geschichte

von Gerda Baumbach

Leipzig 2. Juli 2014. Erstens. Sprechen wir über Schauspieler. Findet doch Theater im Prinzip – abgesehen von anderweitigen Theater genannten Aus- und Schaustellungen – immer dann statt, wenn zwei Gruppen real aufeinander treffen: Akteure und Publikum.

Gegenwart als Maßstab, nicht als Nonplusultra

Betrachtet man die Kommunikations-Situation zwischen Akteuren und Publikum in ihrer Geschichtlichkeit und kulturellen Variabilität, dann treffen wir auf Praktiken verschiedener Art, auch auf vergessene oder minoritär gewordene. Die Gegenwart ist Maßstab des Geschichtlichen. Allein in jedem Heute (der Vergangenheit und der Zukunft) realisiert sich im Gefüge der Wissensformen und Praktiken die Dynamik soziokultureller Prozesse, welche nicht auf ein planbares Ziel hinführen. Daher sind Normative wie "das Theater" obsolet, konsequente Relativierung resp. Historisierung ist geboten. Anders gesagt, die Reflexion des Theater-Begriffs wird erst dann zu einer kritischen, wenn auch solche Merkmale anerkannt werden, die ein allein ästhetisch, allein als Kunstwerk verstandener Gegenstand "Aufführung" nicht berührt.

Zweitens. Aus diesem Blickwinkel ist "Theater" eine relative Bezeichnung. Denn ausgeübte rituell-spielerische, soziale oder artifizielle Praktiken befinden sich nicht notwendig in Übereinstimmung mit legitimiertem Theater.

Praktiken jenseits der theoretischen Legitimation

Verschiedenste Aushandlungsprozesse zeigen uns, wie eine je historisch bedingte Auswahl favorisierter Praktiken als Theater theoretisch legitimiert wird, freilich auf Zeit, nicht für immer und ewig. Daher sind auch als illegitim deklarierte Praktiken zu betrachten, Gründe für ihre Abweisung sagen unter Umständen mehr über Dimension und Wirkungspotential aus, als Merkmale jener der Macht der Repräsentation unterworfenen. Das betrifft auch die Differenz zwischen Praktiken des Protests und dessen Inszenierung.

Drittens. Im Allgemeinen sind Akteure und ihr Tun in unserer Wissenskultur ein undurchsichtiges Gebiet, reduziert man sie aus europäischer Perspektive doch zumeist auf die sie umgebenden Kontexte. Sie selbst unterliegen daher eher als andere Phänomene der Anmutung des Ahistorischen. "Der Schauspieler" erscheint ebenso selbstverständlich geschichtslos wie "der Mensch".

Vernebelung der eigenwertigen Spezifik

Doch auch in der abendländischen Geschichte gehören Akteure nicht jederzeit und überall der aus der Synthese von Christentum und Antike sich speisenden humanistischen Tradition an. Zivilisatorischen Legitimationsstrategien gemäß wird in lang währender und sich wiederholender Auseinandersetzung die Integration der schließlich "Schauspieler" genannten Akteure in den humanwissenschaftlichen Orbit vollzogen und die eigenwertige Spezifik der an Akteure gebundenen Praktiken vernebelt. Doch auch das praktische Suchen nach ihrer historischen und kulturellen Variabilität kehrt wieder.

Viertens. Die Betrachtung der an Akteure gebundenen Praktiken selbst – weil sie physischer Art sind, zu den Toten in Beziehung stehen und sich in Komplizenschaft mit metamorphosierender Natur, mit dem Lebendigen befinden – muss notwendigerweise auf die Trennung von Naturgeschichte und Humangeschichte stoßen und damit an die Grenze, die zwischen Natur und Kultur im 19. Jahrhundert auch wissenschaftlich strikt gezogen wurde. Diese Trennung als Reaktion auf Darwins Evolutionstheorie steht in Verbindung mit dem Bedeutungswandel von "Geschichte". Als die Natur ihrer kulturell zugeschriebenen Zielstellung verlustig ging, der Mensch als Krone der Schöpfung stürzte, wurde "die Geschichte" – gegenüber der historia, die vornehmlich den Bericht, die kleine Erzählung von Geschehenem meinte – umso mehr mit Bedeutung für die Sinngebung des Menschen aufgeladen.

Metamorphosierende Natur, Historien und Akteure

Diese Vorgänge sind weitaus enger mit der Praxis traditioneller Akteure und deren Austreibung aus dem abendländischen Kunsttheater verbunden, als es uns, befangen in unserer Wissenskultur und deren Terminologie, bewusst ist. Es überkreuzen sich gleichsam metamorphosierende Natur und Geschichten erzählen mit traditionellen Akteuren (ist doch Verwandlung eines ihrer grundlegenden Merkmale) – ebenso wie sich 'Geschichte machen' und die großen Narrative mit den Darstellungen und Darstellern überkreuzen. Entreißt man der "Humangeschichte" den aus der Aufladung mit Sinn abgeleiteten Planungshorizont, indem man "die Geschichte" (ebenso wie "das Theater") historisiert, dann könnte sich die strikte Trennung von der Naturgeschichte ebenso wie von der evolutionären Anthropologie erübrigen.

clown-police ian-thomas-ash-2013Die Clowns-Figur als 'Diener des Lebenden' ersteht immer wieder auf – zum Beispiel bei den
Anti-Atomkraft-Demonstrationen in Tokyo, hier im Mai 2013.
© Ian Thomas Ash 2013 www.DocumentingIan.com

Fünftens. Walter Benjamin, der die Kunst Geschichten zu erzählen, zu Ende gehen sah, führt das auf den Kursverfall der Erfahrung und das Aussterben der epischen Seite der Wahrheit, der Weisheit, zurück. Zieht man eine Dialektik von (säkularer) Geschichte und Nichtgeschichte in Betracht, ein Mitmischen von Außergeschichtlichem im Geschichtlichen – Werden und Vergehen, metamorphosierende Natur, Mythen –, darf man dann auf die kleine Erzählung als Vermittlung lebenskonservativen Wissens, das die Fortschrittsgeste unterbricht, vertrauen?

Figuren als primäre Erzähler

Traditionelle Akteure erzählen. Sie erzählen im Verein mit ihren von mythischen Protofiguren herkommenden Leibmasken auf spezifische Weise, beruhend auf dem Eigenwert der Leibesbewegung und des Rhythmisch-Tänzerischen. Diese Akteur-Figur-Beziehung entspricht der Matrix des Erzählens, hier und jetzt mit einer Autorität zu sprechen, die sich daraus ableitet, dort und damals gewesen zu sein. Von seiner Figur leiht der Akteur die Autorität, um aus mythisch-distanzierender Sicht über uns Menschen und unser Sein zu erzählen, Unsichtbares 'sehbar' zu machen und implizites Wissen der Erfahrung physisch reell zu vermitteln. Geht man von einer relativen Koexistenz logischen und mythischen Denkens aus, kann dieses Wissen auch uns erreichen. Denn im mythischen Denken wurzelnde Praktiken des Komplementierens – auch des Gegensatzes von Leben und Tod – sind aufs engste mit den Grundlagen des Lebenden und der Materie sowie mit der Widersprüchlichkeit der menschlichen Existenz verbunden. Figuren als 'Diener des Lebenden' erstehen immer wieder auf, z.B. Clown genannte in den Anti-Atomkraft-Demonstrationen in Tokyo.

 

baumbach uGerda Baumbach ist seit 1994 Professorin am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig. Ihre Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind Theatergeschichtsforschung und historische Theateranthropologie (www.theaterstudien.de). Neben zahlreichen Aufsätzen bspw. zu Commedia all'improvviso und Renaissancetheater, zur Theateravantgarde (mit Schwerpunkt auf V. E. Meyerhold), zu Maske, Schauspielkunst, Theaterfiguren und Theatertheorie oder zur europäischen Geschichte des Faches Theaterwissenschaft sind in jüngerer Zeit folgende Buchpublikationen zu nennen: Theaterkunst & Heilkunst. Studien zu Theater und Anthropologie (Böhlau: 2002); Auf dem Weg nach Pomperlörel. Kritik "des" Theaters (Leipziger Universitätsverlag 2010); Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs. Band 1 Schauspielstile (Leipziger Universitätsverlag: 2012), Band 2 Historien ist in Vorbereitung. Seit 2009 gibt sie die im Leipziger Universitätsverlag erscheinende Reihe "Leipziger Beiträge zur Theatergeschichtsforschung" heraus (5 Bände, weitere Bände in Vorbereitung).

 

Diese Thesen sind die Kurzfassung eines Vortrages, den Gerda Baumbach im Rahmen der Ringvorlesung Theaterwissenschaft: Aus Tradition Grenzen überschreiten am 2. Juli 2014 an der Universität Leipzig hält. Die Ringvorlesung findet aus Anlass des 20-jährigen Jubiläums des Instituts für Theaterwissenschaft Leipzig statt. Dem Institut droht die Schließung. Das Programm der Ringvorlesung finden Sie hier.

Weitere Thesen: Matthias Warstat hat sich mit der Protestform der direkten Aktion befasst, Christopher Balme mit der globalen Theatergeschichte, Andreas Kotte mit der Zukunft der Theatergeschichtsschreibung und Nikolaus Müller-Schöll mit dem "posttraumatischen Theater" und der Darstellung der Undarstellbarkeit.

Mehr zu Gerda Baumbach: Auf nachtkritik.de besprach Dirk Pilz ihr Buch Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs. Band 1 Schauspielstile.

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Kommentare  
Leipziger Thesen Baumbach: Stammväter
Interessant, welche geistigen Stammväter die Leipziger Theaterwissenschaft herbeizitiert: der frühe Baeumler (Olympische Götter und Heroen der Unterwelt, 1926), Rothacker , Klages und der frühe Gehlen (Kapitel 47 "Urphantasie" in "Der Mensch",1940) . Wirklich der letzte Schrei "Denn im mythischen Denken wurzelnde Praktiken des Komplementierens – auch des Gegensatzes von Leben und Tod – sind aufs engste mit den Grundlagen des Lebenden und der Materie sowie mit der Widersprüchlichkeit der menschlichen Existenz verbunden."
Leipziger Thesen Baumbach: übliche Praxis
Rein interessehalber: Wie kommen Sie darauf? Liegen nicht Koselleck, Eliade, Lévi-Strauss ... oder eben die in den Thesen Genannten als "geistige Stammväter", wenn man es denn so nennen will, etwas näher als etwa Baeumler oder Rothacker? Und was ist so "interessant" daran, dass heutige Wissenschaft sich auf frühere bezieht, hier unter anderem auf Diskurse der Philosophischen Anthropologie? Soviel ich weiß, ist das übliche wissenschaftliche Praxis und mir leuchtet nicht ein, warum das in dieser Weise ironisch kommentiert wird.
Oder geht es Ihnen nur um eine Polemik gegen die Leipziger Theaterwissenschaft? Sollte das so sein, bitte ich Sie: Trollen Sie sich und überlassen Sie das Feld denen, die sachlich diskutieren möchten.
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