Wozu Theaterwissenschaft? Praxis und Theorie der Überschreitung

von Patrick Primavesi

Leipzig, 9. Juli 2014

Erstens: Theaterwissenschaftliche Forschung arbeitet weiterhin daran, Theater nicht nur als künstlerische Praxis zu analysieren, sondern im Hinblick auf die Wechselwirkungen zwischen im weiteren Sinne theatralen Praktiken und ihren kulturellen, politischen und ökonomischen Kontexten.

Diese Erweiterung der Perspektive hat vielfältige Gründe, auch in der Geschichte des Faches: Gerade mit einer Reduzierung auf Kunst und Unterhaltung wurde Theater immer wieder instrumentalisiert und seine gesellschaftlichen Dimensionen und Potentiale verschleiert. Die Ausweitung der Forschungszone über die Bühnenpraxis hinaus ist also vor allem in der Sache begründet: Theater hat in allen Epochen und Kulturen der menschlichen Zivilisation jeweils spezifische Formen angenommen und diese immer wieder verändert. Der Komplexität, Historizität und zugleich Aktualität ihres Gegenstands entsprechend befindet sich auch Theaterwissenschaft in einem ständigen Prozess der Ausdifferenzierung von Forschungsfeldern und Methoden.

tschechowliesstmoewe1899 560 uAls das Einfühlungstheater noch Avantgarde war: Anton Tschechow liest 1899 im Kreis
von Schauspielern des Moskauer Künstlertheaters aus seinem Stück "Die Möwe".

Zweitens: Theaterforschung begegnet immer noch Klischees und Normvorstellungen, die im Bereich anderer Künste und kultureller Praktiken längst überwunden sind. So käme wohl kaum jemand ernsthaft auf die Idee, die Musik, die Kunst oder die Literatur noch auf ein Modell festzulegen, das ähnlich partikular und zeitgebunden wäre wie das einer illusionären Darstellung dramatischer Rollen. Spiel- und Inszenierungsweisen der Distanzierung durch Masken und Mythen, epische Momente, die komische Brechung und Entstellung von Identität, die spielhafte Variation ritueller und zeremonieller Prozesse und Verhaltensweisen, die Kritik an den Machtverhältnissen der Repräsentation, die Ausstellung des Körpers als eines grotesken und dysfunktionalen Leibes, die Thematisierung von Wahrnehmungsverhältnissen sowie die Enttäuschung und Erweiterung von Erwartungshorizonten – all diese Elemente und Taktiken haben die Theaterpraxis mindestens ebenso sehr geprägt wie der im bürgerlichen Zeitalter entwickelte Einfühlungs-Apparat. Dies aufzuzeigen kann eine wichtige Funktion von Theaterwissenschaft sein, zur Förderung der gesellschaftlichen Diskurse über eine zunehmende Diversität theatraler Praktiken und Formen.

Drittens: Die Erweiterung des Horizonts theaterwissenschaftlicher Forschung dient nicht nur der Auseinandersetzung mit der Vielfalt von zeitgenössischen Inszenierungsformen und Spielweisen. Gleichzeitig geht es immer noch um die Erschließung und Aufarbeitung der kulturellen Traditionen vergangener Epochen und Kulturen. Von der Begriffsbildung, welche die Veränderung kultureller Praktiken begleitet, bis hin zur Überlieferung von materiellen Spuren, Dokumenten und Materialien reicht ein durch neue Informationstechnologien in zunehmendem Maße verfügbarer Quellenbestand, den Theaterwissenschaft in kulturgeschichtlicher Perspektive zu analysieren und kritisch zu interpretieren hat. Dafür bedarf es allerdings einer methodischen und theoretischen Reflexion, die der Besonderheit theatraler Praktiken und ihrer jeweiligen Kontexte zu entsprechen vermag.

Viertens: Die Auseinandersetzung mit Medialität und Intermedialität ist nicht nur für die Analyse zeitgenössischer Theaterformen sondern auch für historische Untersuchungen erforderlich. Dabei werden die Spezifika theaterwissenschaftlicher Forschung deutlich, die stets auf Wechselverhältnisse von Zeigen und Beobachten, Darstellen und Wahrnehmen, Situation und Rahmen etc. achtet und eine ideologische Überhöhung des Mediums ebenso vermeidet wie seine bloße Instrumentalisierung. Theater hat es mit anwesenden Zuschauern zu tun, die in der Aufführung mit ihrer eigenen Situation als Voyeur, Teilnehmer und Zeuge konfrontiert sind. Eine darauf gerichtete Erforschung von Wahrnehmungsverhältnissen im Theater geht weit über das literaturwissenschaftliche Modell der Rezeptionsforschung hinaus und kann das Zuschauen und Zuhören als aktiven Prozess erweisen.

Fünftens: Theaterwissenschaft ist wesentlich auch Wissenschaft vom Körper. Grundlegend bleibt die Erforschung aller Formen und Techniken, mit denen Körper vor Zuschauern zur Erscheinung gebracht, d.h. inszeniert werden. Dazu zählen nicht nur Bewegung, Gestik und Mimik, Kostümierung und Maskierung, sondern insgesamt die Arbeit an der Physis als der Grundlage der szenischen Kunst: die Materialität des Körpers, seine Spannungszustände einschließlich der stets auch körperlich wirksamen Affekte und Emotionen. In der Frage nach einem spezifischen Körper- und Bewegungswissen berührt sich die Erforschung von Theater und Tanz, Musiktheater und Performance mit verschiedensten anderen Disziplinen der Geistes- und Natur- bzw. Lebenswissenschaften.

Sechstens: Das Motto der Universität Leipzig Aus Tradition Grenzen überschreiten könnte hilfreich sein, um das mitunter paradoxe Verhältnis zu beschreiben, das im Theater wie in der darauf bezogenen Wissenschaft besteht zwischen Tradition und Überschreitung, Bewahrung und Veränderung. Die Überschreitung der Grenzen überkommener Genres und Sparten ist für theaterwissenschaftliche Forschung unerlässlich, um die Eigenlogik theatraler Praktiken und zugleich ihre wechselseitige Beeinflussung zu verstehen. Theaterwissenschaft kontextualisiert ein jeweiliges Aufführungsgeschehen, um seine politische und kulturelle Relevanz zu erfassen, die ja in sich schon Momente der Überschreitung (etwa im Spiel mit Zensurauflagen) implizieren kann. Überschreitung ist aber zugleich ein strukturelles Moment von Theater, entsprechend der Dynamik des Aufführens, der Aussetzung vor Zuschauern. Neben der exzessiven Verausgabung, die für viele Feste, repräsentative Zeremonien und Spektakel grundlegend ist, kann die Herausforderung des Zuschauers auch intensiv wirken, durch subtile und subversive Spielarten der Überschreitung, mit gelernten Schauspielern wie mit nichtprofessionellen Akteuren, innerhalb wie außerhalb der Bühnenhäuser.

 

primavesiPatrick Primavesi ist Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig und Direktor des Tanzarchivs Leipzig. Aktuelle Forschungsprojekte: Körperpolitik und Tanz-Institutionen in der DDR, Interventionen im urbanen Raum. Veröffentlichungen u.a.: Heiner Müller Handbuch (Hg., mit Hans-Thies Lehmann, 2003), AufBrüche. Theaterarbeit zwischen Text und Situation (Hg., mit Olaf A. Schmitt 2004), Das andere Fest. Theater und Öffentlichkeit um 1800 (2008), Lücken sehen ... Beiträge zu Theater, Literatur und Performance (Hg., mit Martina Groß 2010).

 

Diese Thesen sind die Kurzfassung eines Vortrages, den Patrick Primavesi im Rahmen der Ringvorlesung Theaterwissenschaft: Aus Tradition Grenzen überschreiten am 3. Juli 2014 an der Universität Leipzig hält. Die Ringvorlesung findet aus Anlass des 20-jährigen Jubiläums des Instituts für Theaterwissenschaft Leipzig statt. Dem Institut droht die Schließung. Das Programm der Ringvorlesung finden Sie hier.

Weitere Thesen: Matthias Warstat hat sich mit der Protestform der direkten Aktion befasst, Christopher Balme mit eine globalen Theatergeschichte, Andreas Kotte mit der Zukunft der Theatergeschichtsschreibung, Nikolaus Müller-Schöll mit dem "posttraumatischen Theater" und der Darstellung der Undarstellbarkeit, Stefan Hulfeld mit Theaterhistoriographie, Gerda Baumbach mit Akteuren als Erzählerfiguren, Friedemann Kreuder mit Fragen der Differenzforschung, Ulf Otto mit dem Wandel vom Schauen zum Mitmachen und Güther Heeg mit dem Transkulturellen Theater.

 

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Kommentare  
Leipziger Thesen X: Auskunftspflicht
Es ist ja hübsch, hier noch einmal nachlesen zu dürfen, was jeder auch nur einigermaßen theaterwissenschaftlich interessierte Mensch ohnehin seit mindestens 25 Jahren weiß und bejaht. Das enthebt die Theaterwissenschaft nicht der Auskunftspflicht darüber, wie sie andererseits mit dem künstlerischen, institutionellen Theater von heute, sein Verhältnis zur dramatischen Literatur eingeschlossen, umzugehen gedenkt. Dieses Theater ist Lichtjahre von dem entfernt, was das Tschechow-Stanislawski-Foto, offenbar polemisch intendiert, suggerieren möchte. Es ist in seinen besten Leistungen oft nicht Avantgarde von gestern, sondern von heute. Und vor allem ist es die Praxis abertausender Schauspieler, Sänger, Tänzer, Bühnenbauer, Dramaturgen, Regisseure, Theatertechniker (bitte die weiblichen Varianten hinzudenken!) im deutschen, europäischen, amerikanischen Sprachraum. Es entsteht der zwingende Eindruck, wenn man alle hier publizierten Thesenpapiere aufmerksam gelesen hat: Die interessieren nicht.

Gottfried Fischborn
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