"Wir können nicht nur von Krieg zu Krieg, von Massaker zu Massaker leben!"

4. August 2014. Seit vier Wochen ist Krieg in Gaza. Er trifft besonders hart eine Zivilbevölkerung, für die es kaum ein Entkommen vor den Bombardements gibt. "Solange Krieg und Zerströrung herrschen, kann man nicht an der Entwicklung einer Zivilgesellschaft arbeiten", sagt die palästinensische Theatermacherin Iman Aoun. Sie ist die künstlerische Leiterin des heute in Ramallah (Westjordanland) ansässigen Ashtar Theaters, das sie gemeinsam mit Edward Mouallam 1991 in Ost-Jerusalem gegründet hat. Seit 1992 unterhält das Theater auch einen Ableger in Gaza, eine Art Workshop-Programm, das sich an Kinder und Jugendliche richtet. Nach dem letzten Gaza-Krieg 2008/2009 entstanden hier 2010 die "Gaza Monologe", in denen Kinder und Jugendliche sich mit ihren Kriegserlebnissen auseinandersetzten. Iman Aoun hat mit Herwig Lewy über ihre Theaterarbeit und die aktuelle Situation gesprochen.

 

Iman Aoun, das Ashtar-Theater wurde von Ihnen und Edward Mouallam 1991 gegründet und richtet sich schwerpunktmäßig an junge Erwachsene. War das von Anfang an so?

Ja, das Hauptanliegen war damals schon, jungen Leuten einen anderen Horizont zu vermitteln, deren Erziehung und Ausbildung von der ersten Intifada, diversen Streiks und den anhaltenden Angriffen der israelischen Armee unterbrochen worden war. Ein weiteres wichtiges Anliegen bestand darin, für unsere jungen Leute eine systematische Theaterausbildung zu etablieren. Denn eine solche Ausbildung gab es damals noch nicht. So begannen wir mit unserer Arbeit zeitgleich an Schulen und Universitäten. Wir etablierten ein dreijähriges Programm, an dem wir uns im Wesentlichen bis heute orientieren: Im Alter von etwa 14 Jahren können sich die Jugendlichen anmelden. Sie bleiben in der Regel, bis sie 17 oder 18 Jahre alt sind. Einige kommen auch als Studenten weiterhin zu uns. Ein anderes wichtiges Ziel war und ist es, unseren jungen Leuten eine Stimme zu geben, ihre kulturelle Identität zu stärken und sie mit Selbstvertrauen und Leistungsfähigkeit auszustatten.

gazamonologues 560 imanaoun uSzenenbild aus dem Stück "Gaza-Monologe" von 2010, in dem palästinensische
Jugendliche sich mit ihrem Erleben des Gaza-Krieges von 2008/09 auseinandersetzten.
© Ashtar Theatre

Das Ashtar Theater ist als zivilgesellschaftliche Organisation – als Nichtregierunsorganisation, also NGO – gegründet worden.

Alle Theater in Palästina sind Nichtregierungsorganisationen und arbeiten nicht gewinnorientiert. Andere Formen wie das in Deutschland oder Europa bekannte staatliche Ensemble-Theater gibt es bei uns nicht.

Ihr Theater hat einen Ableger in Gaza, eine Schule für dramatische Kunst.

Wir nennen es nicht Schule. Es handelt sich, wie gesagt, um ein Programm für dramatische Kunst. In Gaza gibt es keine Ausbildungsstätte für dramatische Kunst. Wir begannen mit diesem Programm bereits im Jahr 1992, ein Jahr nach der Gründung unseres Theaters also. Ab 1999 mussten wir die Arbeit unterbrechen, denn es war uns von der israelischen Regierung verboten worden, Gaza zu betreten. (Das Ashtar Theater arbeitet in Ramallah im Westjordanland. Die Red.) In dieser Zeit führten Kollegen von der Theatre Days Production die Arbeit weiter. Erst im Jahr 2008 nahmen wir das Programm wieder auf. 2010 gab es eine Gruppe junger Leute, die an einem intensiven Training teilnahmen. Sie schrieben ihre Geschichten über die israelischen Angriffe auf Gaza während des Jahreswechsels 2008/09 auf. Daraus wurden dann 2010 "Die Gaza Monologe".

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Video des Ashtar Theaters aus dem Oktober 2011


Mit welchen künstlerischen Methoden arbeiten Sie?

Es kommen verschiedene Methoden zum Einsatz. Wir verwenden Methoden der dramatischen Praxis nach Viola Spoline, Keith Johnston und Jerzy Grotowski. Im Zentrum steht immer die Improvisation. Auch arbeiten wir mit Techniken des kreativen Schreibens, um Zugang zu den individuellen Stimmen und Geschichten zu finden. Und wir gebrauchen die Methode von Augusto Boal. Unsere Truppe ist spezialisiert auf das Theater der Unterdrückten und in Palästina ist die Akzeptanz dieser Methode sehr groß. Denn sie ist ein Instrument, mit dem schwierige Fragen ausgedrückt oder Tabus auf die Bühne gebracht werden können. Selbst jene, die gänzlich entgegengesetzte Auffassungen vertreten, können sich äußern. Jeder erhält eine eigene Stimme, ein Podium. Das ist ein wahrhaft demokratischer Weg des Dialoges, denn bei Demokratie geht es immer um Dialog. Demokratie ist ja nicht das, was Politiker uns vorleben. Im Gegenteil, das Kernthema der Demokratie besteht im Wie des Dialoges. Wir bringen verschiedene Themen auf die Bühne, darunter Genderfragen oder die politische und wirtschaftliche Unterdrückung. Und wenn ich sage politisch, dann meine ich das Verhältnis zu Israel ebenso wie unsere internen Probleme mit der PNA, der Palästinensischen Autonomiebehörde. Also wir versuchen, sehr kritisch zu sein. Ich glaube, dass Theaterarbeit ein Zugang ist, eine Lebenform.

Theater ist meine Identität; Theater, das bin ich. Ich betrachte mich als eine Art Narr. Wo immer ich hinkomme, habe ich eine große Klappe, spreche brisante Themen an und warte nicht auf Leute, die mir applaudieren. Eher warte ich darauf, dass eine Diskussion entsteht. Ich kritisiere Unterdrückung, Maßnahmen oder Strukturen von Unterdrückung entweder individueller Art oder durch Systeme oder Gruppen. Ich stehe auf der Seite der unterdrückten Menschen, allerdings nicht blind. Wer dauernd unterdrückt wird, verinnerlicht die Strukturen der Unterdrückung ohne sie zu erkennen oder ihrer gewahr zu werden. Das kann schnell zu einer Falle werden, weshalb wir uns darüber bewusst werden müssen. Das heißt, Reflexion und Selbstkritik sind wichtige Instanzen unserer Theaterarbeit.

Inwieweit hat Boals Methode auch die Arbeit an "Die Gaza Monologe" beeinflußt?

Im Laufe unserer Arbeit mit jungen Bewohnern Gazas nach den Angriffen der israelischen Armee auf Gaza während des Jahreswechsels 2008/09 haben wir das "Theater der Unterdrückten" eigentlich erst so richtig für uns entdeckt. Zuallererst brauchten diese jungen Leute ja ein Podium, wo ihre Anliegen nicht bewertet wurden. Das Leben dieser jungen Menschen als Unterdrückte verlangte nach ihrer Befähigung und Ermächtigung, dem begegnen zu können, was sie unterdrückt. Die Techniken Boals waren sehr hilfreich, diesen jungen Leuten zu helfen, ihre ganz persönlichen Geschichten zu erzählen und erfahrbar zu machen. Es war auch ein Weg der Kommunikation, um diese Geschichten für die Welt zu kanalisieren. Theater ist die einzige Kraft, die sie angesichts all des ihnen begegnenden Schreckens haben. Das heißt, die Stimme, der Atem, die Geschichte werden zu ihrem wichtigsten Instrument.

evenathome 560 imanaoun uSzenenbid aus der Produktion "Even at home" (Regie: Iman Aoun) über häusliche Gewalt in
palästinensischen Familien. © Ashtar Theatre

Kann Theater helfen, die palästinensische Zivilgesellschaft zu stärken, wo bis jetzt scheinbar alle Priorität auf dem Militärischen liegt?

Wir müssen eine klare Vorstellungen davon entwickeln helfen, dass unsere Leute auch ein soziales Leben haben, persönliche Probleme und eigene, innere Formen der Unterdrückung. Doch solange Krieg und Zerstörung herrschen, kann man nicht an der Entwicklung einer Zivilgesellschaft arbeiten. Im Augenblick besteht alles, was wir in Gaza tun können, darin, unsere Trainer dorthin zu entsenden, damit sie mit den Kindern und Jugendlichen ein bisschen spielen können, um sie zu beruhigen. Während du angegriffen wirst, kannst du nicht viel tun. Du passt darauf auf, dass du überlebst, das ist alles.

Aber was wir tun könnten und in Zukunft weiter tun wollen, ist, unserer Gesellschaft mitzuteilen: Obwohl ihr unterdrückt seid, obwohl ihr unter diesen harschen Bedingungen lebt, sollt ihr nicht auch eure eigenen Frauen oder junge Menschen unterdrücken. Jeder soll eine Stimme haben. Jeder soll Vorstellungskraft entwickeln. Jeder soll die Hoffnung behalten. Du sollst schöpferisch sein. Du sollst produktiv sein. Gewalt ist nicht das einzige Ausdrucksmittel. Es stehen auch künstlerische Ausdrucksformen zur Verfügung. Nutze sie! In der Kunst kannst du dich ausdrücken. In der Literatur kannst du dich ausdrücken, durch Spielen und Geschichtenerzählen kannst du dich ausdrücken! Gewalt ist nicht die einzige Form des Widerstandes.

Wie wirkt sich die aktuelle Situation auf ihre Arbeit aus?

In Gaza ist zur Zeit niemand in der Lage zu arbeiten oder gar zu leben. Alles ist lahmgelegt. Wir sind in Kontakt mit unseren Studierenden, insbesondere mit dem Jahrgang, der im Jahr 2010 begann und vor ein paar Monaten den Abschluss gemacht hat. Wir kommunizieren die ganze Zeit via Facebook. Natürlich bin ich nicht mit jeder einzelnen Person aus unserem Programm in Verbindung. Das ist momentan auch sehr schwierig, gerade wenn Strom oder Internet ausfallen. Doch wir erhalten Informationen und halten die jungen Leute dazu an, aufzuschreiben, was sie gerade erleben. Das Ashtar Theater hat eine neue Aktion ins Leben gerufen. Sie zielt in die entgegengesetzte Richtung als die "Gaza Monologe". Diesmal wollen wir die Worte und Stimmen der Welt nach Gaza bringen. Darum haben wir die Aktion "Worte für Gaza" genannt. Wir wollen versuchen, einen Dialog zwischen Gaza und der Welt herzustellen, als Ausdruck der Solidarität. Unser Ziel ist es, Stimmen und Gefühle der Menschen, die mit all diesen Grässlichkeiten entstanden, zum Leben zu erwecken und sie in Handlung zu verwandeln, weil die politische Ungerechtigkeit aufhören muss. Wir können nicht nur von Krieg zu Krieg oder von Massaker zu Massaker leben. Wir sollten wie in jedem anderen freien Land leben können, so wie jedes Kind zu leben verdient.

(Übersetzung aus dem Englischen von Herwig Lewy und Esther Slevogt)

 

imanaoun 140 imanaounIman Aoun wurde 1963 in Nablus geboren. Sie ist Schauspielerin, Regisseurin, Dramatikerin, Theaterpädagogin und künstlerische Leiterin des Ashtar Theaters in Ramallah. Bevor sie 1984 in der palästinensischen El-Hakawati Company ihre künstlerische Laufbahn begann, studierte sie Soziologie und Sozialarbeit, Psychodrama und Theater. Aoun ist Verfasserin zahlreicher Artikel über palästinensisches Theater und Mitverfasserin der Bücher "Community Culture Work and Globalization" (Rockefeller Foundation, 2003) und "Theatre of the Oppressed. A Window towards Change" (Ashtar-Theater, 2006).

Das Gespräch führte Herwig Lewy am 30. Juli 2014 via Skype im Kontext der vierten palästinensisch-deutschen Konferenz über Theater und Theaterpädagogik. Die Konferenz fand vom 22. Juli bis 2. August 2014 im niedersächsischen Lingen statt.

www.ashtar-theatre.org

 

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